Liebe gehört zum Sex, und Sex gehört zur Liebe – klingt einfach und logisch. Oder? Viele Paare können ohne den anderen nicht sein, gehen liebevoll und aufmerksam miteinander um. Doch außer Schlafen findet im Schlafzimmer nicht mehr viel statt. Andere wiederum streiten ständig und gehen respektlos miteinander um, aber der Sex ist leidenschaftlich und erfüllend. Unzufrieden sind alle: Die Balance zwischen einer erotisch-innigen Liebeskultur und der begehrenden sexuellen Lust und Leidenschaft ist schwierig herzustellen. Warum eigentlich?
„Ob wir wohl Sex in unser Liebesleben aufnehmen könnten?“
Gehört in einem Pub
Paare, die in Beratung und Therapie kommen, erleben sich oft gefangen im Dilemma zwischen der erlebten und gelebten Liebe und jener, die sich der Partner erhofft und erwünscht. Und weil Anspruch (an sich selber wie auch an den Partner) und Wirklichkeit vielfach auseinanderklaffen und die beiderseitigen Versuche, dies zum Besseren zu ändern, oft im Treibsand des Alltags verlaufen oder scheitern, möchte ich Sie zunächst mit einigen Gedanken zur historischen Entwicklung unserer Vorstellung von Liebe, Erotik und Sex vertraut machen. Dabei will ich Sie weder mit Statistiken (denn davon hätten Sie persönlich gar nichts) noch mit oberflächlichen „Weisheiten“ aus Zeitschriften langweilen. Sondern ich möchte Ihnen einige gesellschaftliche Entwicklungen bewusst machen, die Sie entlasten können, wenn Sie wieder mal der Alltagsfrust mit Ihrem Partner überkommt.
Es sind drei Faktoren, die der Exklusivität und der Attraktivität von Sex in langjährigen Beziehungen entgegenwirken:
• der Fortschritt – das, was man Moderne nennt
• die veränderten Geschlechterbeziehungen
• das romantische Liebesideal
Sehen wir uns die drei etwas näher an.
Das Bild von Ehe und Beziehung hat sich in den vergangenen gut 100 Jahren massiv verändert. Wie sollen wir so schnell professionelle Fähigkeiten und Talente erworben haben für Herausforderungen, die sich in der Geschichte der Paarbeziehung noch nie so gestellt haben und für die uns schlicht und einfach die Erfahrungswerte und Modelle fehlen, auf die wir zurückgreifen könnten?
Sehen wir uns an, was sich in rasender Zeit alles getan hat und welche Mittel uns heute zur Verfügung stehen, von denen unsere Großeltern nicht einmal zu träumen wagten:
• Mit dem medizinischen und technischen Fortschritt stieg die Lebenserwartung fast um das gut Doppelte von 46 Jahren um das Jahr 1900 auf heute 83 Jahren bei Frauen bzw. 78 Jahren bei Männern. Das bedeutet, dass der Wunsch nach einer lebenslangen monogamen Beziehung die Konsequenz mit sich bringt, dass wir unsere Beziehung im Schnitt auf 40, 50, ja sogar 60 Jahre denken müssen.
• Vor Kriegen und Wirtschaftskrisen, mit denen vergangene Generationen auch in ihren Beziehungen fertig werden mussten, blieben wir – zumindest im deutschsprachigen Raum – seit gut 70 Jahren verschont. Halbwegs funktionierende Sozialsysteme liefern zumindest eine Grundsicherung, die die existenziellen Bedrohungen und Gefährdungen von außen für die Liebesbeziehung abmildern.
• Unterschiedliche Lebens- und Beziehungsformen sind heute gesellschaftlich akzeptiert und damit frei wählbar geworden. Die Ausschließlichkeit der Ehe als rechtlich anerkannte Beziehungsform gehört der Vergangenheit an. Von Lebensgemeinschaften über „Friend with benefit“-Beziehungen oder „Mingle-Paare“ bis zu polyamoren Partnerschaften reicht die Spanne, in der wir in unserer Gesellschaft individuelle Paarbeziehung, Erotik und Sexualität leben.
• Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Frauen gegenüber ihren Partnern ist dank der Emanzipation und dem damit verbundenen gestiegenen Selbstbewusstsein der Frau deutlich zurückgegangen.
• Ausgehend von der sexuellen Revolution der 68er-Bewegung und der „Sexwelle“ in den 70er Jahren ist die Vielfalt erotischer und sexueller Neigungen bis auf wenige Ausnahmen gesellschaftlich toleriert.
• Die Zeiten, in denen Pornohefte und -filme unter dem Ladentisch gehandelt wurden, sind vorbei. Der Besuch von Erotikmessen, Sexshops oder Dildopartys ist alltäglich wie das Shoppen in Einkaufszentren. Dildos, Vibratoren und anderes Erotikspielzeug werden in den Medien getestet wie Autos, und im Fernsehen gehören Reportagen über Bordelle und Dominastudios zum Standardprogramm wie Kochsendungen. Swingerclubs werden mit Sternen bewertet wie Hotels. Fetischclubs und -partys haben den subkulturellen Charakter verloren und gehören zum öffentlich kommunizierten Eventangebot größerer Städte.
• Wer es weniger öffentlich haben will, bedient sich des Internets. Sexspielzeug, Seitensprungpartner, Annoncen von an Partnertausch interessierten Paaren, Filme und Galerien mit Angeboten lassen uns glauben, dass wir im Internet jenen Sex gezeigt kriegen, den wir wollen. Das Web liefert uns – jederzeit verfügbar – jeden Sex, den wir gerade wollen, egal ob es sich um Neigungen, Spielarten, Wunschaussehen oder Konstellationen handelt. Virtual Reality wird sich weiter entwickeln und im Bereich der Sex- und Erotikangebote die Spielarten verfeinern. Das Ziel ist es, das, was wir beim realen Sex empfinden und erleben, auch im Virtuellen zur Verfügung zu stellen und möglich zu machen.
Und trotzdem ist der Wunsch nach Exklusivität in Sachen, Liebe, Erotik und Sexualität, wenn man Studien und Umfragen – auch unter Jugendlichen – vergleicht, ebenso vorhanden wie der, die Liebe seines Lebens zu finden und mit dieser auch alt zu werden.
Die Frage „Wer bin ich als erotisch-sexuelles Wesen, was ist meine erotisch-sexuelle Einzigartigkeit?“ und der Wunsch, einzigartig für jemanden anderen zu sein bzw. diese Einzigartigkeit auch jemand anderem zu schenken, können weder wirtschaftlich motivierte Angebote lösen noch die neue gesellschaftliche Toleranz oder irgendwelche virtuellen Erotikwelten. Es bleibt allein unsere individuelle Aufgabe, uns selbst zu positionieren und unsere erotischsexuelle Individualität zu entfalten.
Nach rund 6000 Jahren Patriarchat hat die Emanzipationsbewegung ab Mitte der 1960er Jahre das Rollenverständnis und das Rollenbild von Mann und Frau in Frage gestellt und wichtige Impulse zur Gleichstellung von Mann und Frau in Politik, Sozialem und im Arbeitsleben gegeben. Niemanden käme heute mehr in den Sinn, diese wichtigen gesellschaftlichen Errungenschaften zurückzudrehen, im Gegenteil, viel ist noch zu tun auf dem Weg zu einer tatsächlichen Gleichberechtigung. Doch mit der Emanzipation der Frau entwickelte sich eine starke Tendenz, die Grenzen zwischen den Geschlechtern aufzulösen.
Hervorragend ausgebildete Frauen sind finanziell unabhängiger, selbstbestimmter und damit auch freier in ihrer Entscheidung, wie sie als Frauen ihr Leben gestalten möchten, ob Kinder Teil ihres erfüllten Lebens sind oder nicht und welche Rolle die Karriere spielen soll. Im Beruflichen haben Frauen gelernt, dass es sich lohnt und förderlich ist, sich bestimmte Verhaltensweisen anzueignen, um ihr berufliches Fortkommen zu betreiben: Ehrgeiz, Durchsetzungsvermögen und sogar Aggressivität sind im Berufsleben Qualitäten, die ursprünglich als rein männlich galten – wenn eine Frau sie zeigt, wird sie zum natürlichen Konkurrenten des Mannes im Job.
Diese Verhaltensweisen, eingefordert in den männlichen Machtstrukturen von Betrieben und Institutionen, zwingt Frauen, sich (zumindest zeitweise) ihrer traditionellen Rolle zu entledigen, sich quasi zu „entweiblichen“. Dies soll – so erlebe ich die Wünsche vieler Klientinnen – im Privaten wieder ausgeglichen werden. Deshalb wünschen sich viele Frauen einen Mann zuhause, der liebe- und rücksichtsvoll ist, ein toller Vater und ein die Frau unterstützender Partner.
Männer hingegen haben oft das Gefühl, von der Emanzipation „entmannt“ worden zu sein. Zwar genießen sie ihre Rolle als Vater und bezweifeln nicht, dass partnerschaftliche Haushaltsführung wichtig und wertvoll ist, und sind auch stolz auf ihre erfolgreiche Frau. Doch gleichzeitig empfinden sie sich oft in ihrer Beziehung als unmännlich, erleben sich selbstabwertend als „Softie“ und sind überfordert im Umgang mit einer emanzipierten, eigenständigen Frau.
Sie wissen zwar, dass das Männerbild ihrer eigenen Väter und Großväter ungeeignet ist, eine moderne partnerschaftliche Beziehung zu führen, dennoch aber erleben sich moderne Männer als suchend und irgendwie verloren, wenn es darum geht, ein klares, modernes und individuelles Selbstbild ihres Mannseins zu entwickeln.
Vor dem Hintergrund eines lustfeindlichen Beziehungsbildes unserer...