Kapitel 2
Phoenix aus der Asche
Schon die ersten Tage am Zentralschweireischen Technikum an der Dammstrasse in Luzern zeigten, welche Begabungen in Othmar, dem ewig an sich Zweifelnden, doch steckten. Er fühlte sich wie Christus nach seiner Erweckung aus dem kühlen Grab.
Niklaus erzählte später, sie hätten im Unterricht zwar ständig miteinander getuschelt, und wären bei den Prüfungen dennoch immer die Besten gewesen, was unseren Mathe-Professor Rubin nachsichtig auf unsere ständige Unterrichtsstörung werden liess.
Auch der Deutschlehrer Wieser ist über ihr Interesse an Literatur sehr angetan, wie seinerseits der lange Kaufmann an der Gewerbeschule, der bei einer zufälligen Begegnung durch Lüften seines Hutes Othmar überaus freundlich grüsste.
In den späteren Semestern verderben Niklaus und vor allem Othmar die Maschinenbau-Fächer die Freude am Schönen und schmälert ihren Erfolg. Ganz besonders der Werkzeugmaschinenbau beim Ungarn Boja macht allen das Leben schwer, nicht nur seines Akzentes wegen. Immerhin kommt er stets zu spät zu seinen Vorlesungen und kurvt dann im Eilschritt ins Klassenzimmer. Ebenso froh ist man, wenn er wieder raus kurvt und seine Drehbänke mitnimmt.
Umso beliebter aber ist der Tessiner Ricardo Tulloni, der seine ts-Diagramme spannend werden liess:
„Du Niklaus, kannst du mir dieses Zeugs erklären“, jammert Hans Hagedorn.
„Ja klar, ist doch ganz einfach, wie Bergsteigen“, beruhigte Nik seien Kletter-Kameraden.
Zu grosser Form ist Tulloni aber beim Erklären der cw-Werte bei der Gestaltung der Schaufeln einer Dampfturbine, aufgelaufen.
„Das war nun wirklich gut und klar“, jubelte Hans Hagedorn, „da möchte ich der heisse Dampf sein!“ Alle stimmten ihm erleichtert zu, auch Willy Hager.
Die Konstruktions-Übungen von Dieselmotoren aber sind für Othmar eine Belastung.
„Die verdammten Ventilköpfe bringen mich in Weissglut“, flucht er, und wirft seinen weissen Mantel auf den Zeichentisch. Letztlich muss er ihn wieder anziehn. Später dann, im Labor des ZTL werden Dieselmotoren zu Othmars Leidenschaft!
Aber absolute Höhepunkt ist der Unterricht von Direktor Kammerer, der voller Enthusiasmus die Funktionsweise von Schwerwasser-Reaktoren erklärt, denn Kernenergie ist die grosse Hoffnung aller.
Sein Engagement ist nicht zu bremsen und wenn die Wandtafel vollgeschrieben ist, greift Kammerer zur gelben Kreide und schreibt weiter an die Tafel, denn offenbar ist ihm das Tafelputzen zuwider oder ein zu grosser Zeitverlust.
„Das ist ja klasse, aber warum nahm er nicht grüne Kreide“, witzelt Albert Conte.
„Na, Conte, das war aber eine Super-Vorlesung“, ärgert sich der Doyen und Lockführer Otto Metzler.
Nun, heute sind die Atommeiler ebenso still, wie Otto und Kammerer tot sind.
Der Wandel der Zeiten!
Und ein Duell zwischen Othmar und Niklaus, mit Zirkel und Lineal, ist die Darstellende Geometrie. Professor Hans Hägi, mit wenig Haaren und viel Witz, bringt Othmar zur Meisterschaft in der DG.
„Durchdrungen und abgewickelt, gut Bossmann“, sagte er, nicht ohne Eigenlob.
Am Schluss gibt es dafür eine dicke Note 6, eine halbe besser als sein Duellant.
Othmar geniesst es, ganz im Stillen. Dabei blieb es dann auch!
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Der Februar 1962 ist kalt und klar, die tiefe Schneedecke fest und hart. Othmar nützt die eisige Luft, sein Hirn durch die kalte Nase zu lüften denn er ist, in seinem Mansardenzimmer in der Wärme eines Kanonenofens, intensiv mit der Vorbereitung der Abschluss-Prüfung beschäftigt, oder eher belastet.
„Du, Niklaus, meine Diplomarbeit kommt mir etwas komisch vor, was hat sich wohl der Richi Tulloni dabei gedacht. Wohl ein Sympathie-Thema!“
Othmar sollte die Resonanz-Frequenzen bei Torsionsschwingungen von Turbinenachsen ermitteln und mit den Berechnungen vergleichen. Es war – grob gesehen – eine erfreuliche Übereinstimmung festzustellen.
Ein Photo, das er in sein Dossier einklebt, zeigt einen hübschen, jungen Ingenieur, der stolz auf die Resonazschleife schaut. Aber Othmar hat nicht mal nach dem Thema der Diplomarbeit seines Freundes gefragt! Nicht aus Desinteresse, sondern eher aus Unsicherheit. Beide haben ihr Examen aber mit Glanz bestanden.
Der gute Abschluss verleitet Othmar dazu, sich kaum um eine Stelle als „frischer“ Dipl.Ing.HTL zu bemühen, da liegen die Hersteller thermischer Maschinen zu weit weg von Luzern, das er nicht verlassen will, denn er hat jetzt viele Freunde unter der Bohème, besonders Werner und Brigitte Hohlmann. Man trifft sich oft am späten Nachmittag im „Café Moc“ am Falkenplatz, um umfassend zu plaudern und die neusten Intrigen zu kommentieren.
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Othmar rechnet fest mit Tullonis Gunst.
„Ganz schönes Drehmoment geben diese Holvergaser her“, konstatiert er und liess seine Pfeife im linken Mundwinkel hin und her baumeln.
„Da bin ich auch überrascht, was die neueren Diesel aus dem Holzgas so herausholen“, bekräftigt Othmar, was in seinem weissen Arbeitsmantel glaubwürdig tönt.
Sie bearbeiten einen Forschungsauftrag des Eidg. Amtes für Kriegsvorsorge, das fest an den Holzvergaser glaubt, hat dieser doch im letzten Krieg die Wirtschaft in Gang gehalten. Aber, Tulloni muss dabei nicht die stinkenden Abgase, die auch noch die Augen zu Tränen rührten, einatmen.
Doch dieser Auftrag ist bald erschöpfend behandelt. Othmar ist wieder arbeitslos.
Wie vom Himmel gefallen kommt da das Forschungsprojekt NFP 117 des Nationalfonds das Direktor Kammer ihm gerne anvertraut, einem so guten ZTL-Absolventen.
„Es geht um einen Gegenstrom-Wärmetauscher aus besonders zähen Aluminium für Helikopter-Turbinen“ erklärt er Othmar, wie immer, hastig.
Diese Arbeit aber ist so zäh wie das manganlegierte Aluminium, welches den Fräser und Othmar ins Grübeln bringen. Da kommt plötzlich die Nachricht, Direktor Karren sei gestern in Davos an Leukämie gestorben. Allgemeine Bestürzung und tiefe Trauer. Dieser schwere Verlust lähmt den ganzen Betrieb. NFP 117 ist nun auch tot und Othmar stand wieder auf der Strasse.
Die Fahrkarte nach Yverdon ist ohne Rückfahrt. Mit Kraft wuchtet Othmar seinen schweren Koffer in den Bahnwagen und sucht sich ein ruhiges Abteil. Traurig schaut er auf das Treiben auf den Perron, traurig, da er sein geliebtes Luzern vielleicht für längere Zeit nicht mehr sehen würde. Es ist für ihn kein Sonntagsausflug. In Yverdon nimmt er den Bus nach Orbe, wo die Ausbildungsstätte von Nestlé liegt, und landet in einem engen Zimmer bei Madame Dutous, einer rundlichen und freundlichen, älteren Witwe. Den Koffer lässt er vor der Zimmertür stehen, um in „seinem“ neuen Heim das Schinkenbrot seiner Mutter zu verschlingen, so hungrig ist er. Das Wasser vom Lavabo ist lauwarm und riecht nach Chlor, aber Othmar getraut sich nicht, Madame Dutous um etwas Milch oder Sidre zu bitten. Sein Französisch ist wie weggespült.
Anderntags beginnt die Ausbildung bei Nestlé mit dem Leeren von 50-Liter-Milchkannen in einen Stahltrog, um dann die leeren Kannen mit Chlorwasser zu spülen. Als Stärkung durfte man, wenn auch heimlich, sich einen Becher aus Kaffeekonzentrat für Nescafé mit Rahm mixen.
Der Leiter der Ausbildung in Milchverwertung ist ein Zürcher, der gutmütige Herr Hösli, bis vor einem Jahr technischer Direktor in Pretoria. Sein Kollege, der Romand Laubèr, ist alles andere als freundlich mit seinen fünf Stagiaires, er war vier Jahre technischer Leiter in Buenos Aires, wurde dann nach Vevey zurückgerufen und nach Orbe versetzt.
An einem Freitagabend gibt es ein Abendessen mit den Direktoren von ‚Nestlé Afrika‘, zu dem die Fünf von Hösli eingeladen wurden, um sie für die harte Ausbildung zu entschädigen und ihnen ihre künftigen Aussichten zu zeigen. Dabei ist die ‚Primitivität der Indigenes‘ Haupthema des Tischgespräches und Laubèr gibt die südamerikanische Variante laut zum Besten.
Montagvormittag sind sich die fünf eingeladenen Lehrlinge einig:
„Wir brechen die Stage ab, alle“, meint Othmar empört.
„Klar, so geht das nicht!“
Der arme Herr Hösli.
„Die Cheibe, do chrampft mer bes z’letscht und die gänd eim ned emol meh de letzschti Lohn“, schimpft Othmar leise vor sich hin, als er seinen Koffer bei der Gepäck-Aufbewahrung hinstellt. Mit seinem Rest an Geld konnte er gerade noch das Billet nach Luzern lösen. Luzern, das er nun früher als vermutet, wiedersieht.
Dieses Glücksgefühl dauert nur so lange, bis er feststellen muss, dass um dieser späte Stunde kein 22-er-Bus mehr nach Bärlen fährt. Also, 10 Kilometer zu Fuss, immerhin bei anständigem Wetter. Am „Bueri-Stotz“ schmerzt sein rechtes Knie: der Meniskus-Riss, den er sich beim Duschen mit einer leichten Drehung des rechten Beins zugezogen hat.
„Wo kommst denn du her?“,...