Nachdem sich das vorangegangene Kapitel mit der Frage „Was ist Spiel?“ beschäftigt hat, soll hier im dritten Kapitel thematisiert werden, welche Funktionen das Spiel in Bezug auf einzelne Individuen, aber auch auf Gruppen hat. Diese wurden auch schon in Definitionen, Spielmerkmalen und einigen Theorien erwähnt, sollen an dieser Stelle aber eingehendere Betrachtung bekommen. Zuvor wird ein Blick auf die Evolution des Spiels geworfen: Warum hat sich das Spiel in der Evolution entwickelt? Dabei wird unter anderem die Entwicklung unserer Kultur behandelt, aber es geht auch um das Spielen im Tierreich und die daran anschließende Entwicklung des Spiels zum Menschen hin.
Wie und warum konnte sich Spiel im Laufe der Evolution entwickeln? Diese Frage ist wohl eine der meistgestellten, wenn sich Forscher mit der Evolution des Spiels beschäftigen.
Es gibt viele Veröffentlichungen zu dem Spiel der Menschen – aber was hat es mit dem Spiel der Tiere auf sich? Welche Tiere spielen, wo setzt das Spiel in der Entwicklung der Lebewesen an und vor allem warum wird gespielt?
Als Elemente des Spiels lassen sich Zufall und Regel ausmachen. Diese Elemente sind ebenfalls Teil der Evolution. Zufällig auftretende Mutationen, die sich auf den Phänotyp auswirken und für Vielfältigkeit sorgen, werden durch (Selektions-)Kräfte gewissermaßen geordnet. Die Selektion sorgt dafür, dass die „geschaffene Mutation [...] vor die Frage des Überlebens gestellt [wird]“ (SCHÄFER, 1986, S. 429). Alles Lebensfähige ist zuerst möglich, doch spezielle Lebensbedingungen ordnen die verschiedenen, durch Zufall entstandenen, Lebensformen danach weiter. Doch wie er feststellt, lassen auch strenge Bedingungen Variationen zu. Liegt hier vielleicht die Begründung für das angeblich zweckfreie, überflüssig und sinnlos erscheinende Spielverhalten der Tiere, das energieaufwändig ist, Zeit verbraucht und gefährlich im Hinblick auf die nicht vorhandene Wachsamkeit gegenüber aufkommenden Gefahren ist?
SCHÄFER (1986) vergleicht die natürliche Auslese mit einer Spielform, die besagt: „Dies ist nicht erlaubt, aber was Du sonst tust, ist egal“ (S. 430). Verfügen lebende Systeme vielleicht über dieses Maß an Freiheit und Autonomie, welches ihnen Spielverhalten erlaubt?
Zuerst soll ein Blick auf die Entwicklung der Kultur geworfen werden, die sich ebenfalls im Laufe der Evolution vollzogen hat. Inwiefern hängt das Spiel mit der Kulturentwicklung zusammen? Hat das Spiel wirklich eine Funktion bei der Entwicklung unserer heutigen Kultur?
Der niederländische Historiker HUIZINGA ist der Meinung, dass durch Spiel Kultur entsteht. STADLER ELMER (2015) bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Vorstellungs- und Symbolisierungsfähigkeit, die das Spiel mit sich bringt. Diese wird, wie in Kapitel 2.4 dargestellt wurde, im Laufe der Ontogenese eines Kindes entwickelt. Diese Fähigkeit ist Grundlage für unsere Kultur. Die innere Vorstellungswelt, durch die eine Handlung geistig durchdacht und somit innerlich ausgeführt werden kann, distanziert die Menschen von Raum und Zeit. Genau diese Vorstellungs- und Denkfähigkeit, die dem Menschen eigen ist, ist Grundlage der Fähigkeit des Menschen, Kultur hervorzubringen. So kann beispielsweise Gegenständen Bedeutung zugeschrieben werden, die auf einer abstrakten Ebene existieren. Sie resümiert diese Gedanken zu der Vorstellungs- und Symbolisierungsfähigkeit und kommt zu dem Schluss: „Viele, ja vielleicht alle kulturellen Errungenschaften sind ursprünglich aus dem Spiel entstanden“ (ebd., S. 17). „Kulturfunktion“ wäre damit eine Eigenschaft des Spiels.
Diese Kulturfunktion wird aber auch von anderen Autoren aufgegriffen, vor allem von denen, die sich mit der Evolution des Spiels befassen. So auch von ROSSLENBROICH (Internetquelle), der zuerst von der Entwicklung des Denkens ausgeht, die er mit der voranschreitenden Entkopplung von Repräsentationen beschreibt. Im Grunde genommen bezieht er sich hier auch auf die Symbolisierungsfähigkeit, die STADLER ELMER (2015) aufgreift. Spiel ist nach ROSSLENBROICH ein flexibler Umgang mit Ideen, Erinnerungen und Vorstellungen – das Planen und Entwerfen beispielsweise, wie es im Konstruktionsspiel auftaucht, welches sich in Gedanken abspielt. So hat das Spiel für ihn nicht nur herausragende Bedeutung in Kindheit und Jugend, denn „Spiele machen einen umfangreichen Teil der Kultur aus“ (Internetquelle).
Doch über die Kulturfunktion hinaus, kommt Spiel in diesem Bereich eine weitere Funktion zu. Dazu müsste vorerst geklärt werden, was man unter dem Terminus „Kultur“ überhaupt versteht. Die Definition nach STADLER ELMER (2015) soll hier als Grundlage dienen: Kultur ist
„soziales Verhalten, tradiertes Wissen, Gewohnheiten und Überzeugungen, mit welchen Menschen ihr Zusammenleben gestalten und regeln. Kultur ist somit das ständige aktive Gestalten, das sich an der Tradition orientiert, diese verändert und an nächste Generationen weiter tradiert.“ (S. 14)
Hier verstecken sich zwei weitere Funktionen des Spiels:
Zum ersten das Tradieren an weitere Generationen. Spiele, als Teil der Kultur, werden wiederholt gespielt und lösen in den Spielern ein Vertrautheitsgefühl aus. Es ist etwas Bekanntes, dessen Wiederholung als angenehm empfunden wird (STUCKENHOFF, 1975). Vor allem das Bedürfnis der Kinder nach Ordnung wird so befriedigt.
Als zweites das Zusammenleben, das durch Kultur beeinflusst, gesteuert und geregelt wird. Ein wichtiges Stichwort sind in diesem Zusammenhang „Affekte“, die Emotionen und Gefühle umfassen. Diese körperlich-affektiven Zustände können nach STADLER ELMER (2015) umgeformt und somit kontrolliert werden. Diese Umformung geschieht durch Kultur, also beispielsweise durch Musik, Sprache und Rituale und garantiert Ordnung. Und Kultur gründet, wie wir gesehen haben, auf dem Spiel. Durch dieses werden die Umformung der Affekte und die dadurch hergestellte Ordnung erst ermöglicht.
Aber auch umgekehrt ist ein Einfluss auszumachen: Die Kultur beeinflusst auch das Spiel. Die Spiele der Kinder sind, im Gegensatz zu den Spielen der Tiere, kulturell gefärbt. In verschiedenen Gesellschaften variieren beispielsweise Häufigkeiten und Gestalten des Spiels (TEXTOR, Internetquelle). Dieser Zusammenhang wurde zuvor schon in 2.5 dargestellt, als es um das (Computer-) Spiel als Spiegel der gesellschaftlichen und kulturellen Veränderung ging, das immer in soziale Kontexte eingebunden ist. Folglich kommt der Kultur auch eine wichtige Funktion zu, die die Entwicklung des Kindes „entsprechend den kulturellen Gepflogenheiten einer Gesellschaft während eines langen Zeitraumes [...]“ mitgestaltet (MOGEL, 2008, S. 38).
Diese Wechselbeziehung zwischen Spiel und Gesellschaft thematisiert auch SCHIFFLER (1976), indem er sich auf die Ausführungen von SUTTON-SMITH bezieht. Dieser geht von verschiedenen, für die Gesellschaft essentiellen Fähigkeiten aus, wie beispielsweise kreatives Verhalten, die durch Spiel erzeugt werden. Wenn eine Gesellschaft Bedarf an solchen Fähigkeiten hat, wirke dieses in die Spielwelt der Kinder zurück und verändere diese im Sinne des Bedarfs der Gesellschaft. So würden in Gesellschaften, die eine relativ einfach strukturierte Arbeitswelt haben, die Kinder früh mit einbezogen. Diese Gesellschaften zeichnen sich durch eine gleichgültigere Auffassung zum Spiel aus und die kindlichen Spielformen sind weniger variabel und einfacher strukturiert. Gesellschaften, die mehr Bedarf an kreativen Fähigkeiten haben, zeichnen sich durch differenziertere Spielsituationen und anregungsreicheres Spielmaterial aus (ebd.).
Festhalten sollte man an dieser Stelle, dass dem Spiel evolutionär gesehen, Kulturfunktion zugekommen ist. Auf der anderen Seite wird Spiel aber auch von der Kultur beeinflusst, weshalb man von einem wechselseitigen Einfluss sprechen kann.
Im Zusammenhang mit den kulturell geprägten Spielen, wurden hier die Spiele der Tiere erwähnt, jedoch nicht weiter behandelt. Dieses soll im nächsten Kapitel geschehen.
Bevor die Frage thematisiert wird, warum Tiere spielen, soll vorab geklärt werden, welche Tiere überhaupt spielen.
Obwohl Spielverhalten teils nur auf die Jungtiere beschränkt ist und nicht immer gleich intensiv bei allen Arten vorkommt, gilt zum jetzigen Zeitpunkt als gesichert, dass alle Säugetierarten spielen. Unter Reptilien und Amphibien ist Spielverhalten nicht...