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Und los!
Das erste Mal von den Fantastischen Vier gehört habe ich, wie die meisten anderen Menschen auch, im Sommer 1992. Die Da!?! kam als Singleauskopplung ihres Albums Vier gewinnt heraus, und ganz plötzlich hörte man den ganzen Tag etwas im Radio, das es vorher so noch nicht gegeben hatte: deutschen Hip-Hop. Vier Jungs aus Stuttgart hatten es tatsächlich geschafft, dass Rap, der ursprünglich den Clubgängern New Yorks und später den bösen Jungs aus dem Ghetto von L.A. vorbehalten war, nun auch in deutscher Sprache existierte. Ich war – das muss ich gestehen – von dem Quatsch so unglaublich genervt, dass ich spätestens am zweiten Tag am liebsten mein Radio an die Wand geschmissen hätte. Wann immer man das Ding einschaltete, das erste was man hörte, war: die da, die da, die da oder die da?
Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr mich das angekotzt hat. Und zwar nicht nur weil bei mir damals völlig andere Musik lief, sondern aufgrund der Tatsache, dass man um diesen Unsinn einfach nicht herumkam. Einen ähnlichen Effekt hat zuletzt das Lied über Atemprobleme einer gewissen Frau Fischer bei mir erzeugt. Nur um einmal deutlich zu machen, wie sehr ich Die Da!?! verabscheute … Gelegentlich habe ich auf Partys oder irgendwelchen Geburtstagsfeiern für die Musik gesorgt. Bedeutet, ich habe die CDs eingelegt und ein bisschen buntes Licht gemacht. Nicht dass man mich jetzt für eine Art DJ hält … Und wenn ich da hinter meinem Tisch stand, war ich die meiste Zeit des Abends damit beschäftigt Leute abzuwimmeln, die jetzt unbedingt Die Da!?! hören wollten. Ohne Scheiß. Jeder zweite Musikwunsch war dieses elende Lied von diesen Rap-Kaspern. Als jemand, der auf Metallica und Rage Against The Machine stand, musste ich in dieser Zeit sehr leiden. Ich mochte noch nicht einmal »richtigen« Hip-Hop, wie ihn Dr. Dre oder Snoop Dogg machten, da konnte ich mit Schwabenrap aus Stuttgart erst recht nichts anfangen. Und da bald mein gesamter Freundeskreis wusste, dass ich die Fantastischen Vier in etwa so gut fand wie heute Helene Fischer, dauerte es natürlich nicht lange, bis mir ausgerechnet mein guter Freund Wolfgang zum siebzehnten Geburtstag das Album Vier gewinnt schenkte – um mich zu ärgern.
Schöne Freunde hat man, dachte ich nur.
Aus heutiger Sicht bin ich extrem froh, dass CDs damals sehr teuer waren, erst recht für jemanden wie mich, der gerade seine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker machte und nicht über besonders viel Geld verfügte. Andernfalls hätte ich das Teil nämlich ungeöffnet in den Müll geschmissen. So aber hatte ich die Scheibe im Haus, und wo sie schon mal da war, konnte man sie sich ja auch anhören. Wenigstens einmal. Ganz kurz. Und ich war überrascht. Die Da!?! war zwar immer noch nicht mein Ding, aber der Rest des Albums war sooo kacke nicht. Saft war der erste Titel, den ich relativ schnell sensationell gut fand. Und so tat ich etwas, das ich vorher nie für möglich gehalten hatte: Ich hörte mir das Album der Fantastischen Vier mehrmals an. Zwar übersprang ich bei jedem einzelnen Mal Die Da!?!, aber der Rest der Platte war sehr gelungen, um nicht zu sagen: sehr geil. Die Band interessierte mich zwar immer noch nicht, aber das Geburtstagsgeschenk, das mich hätte ärgern sollen, entpuppte sich im Nachhinein als Volltreffer. Mehr konnten die Jungs vorläufig nicht von mir erwarten.
An einem Morgen im März 1993 saß ich wie gewöhnlich im Bus auf dem Weg zur Berufsschule. Auf dem Sitz neben mir hatte jemand den Express liegen gelassen, den ich mir schnappte, um ein bisschen darin zu blättern. In den Veranstaltungstipps stand, dass an diesem Tag ein Konzert der Fantastischen Vier stattfinden würde, und zwar im Tor 3 in Düsseldorf. Ich überlegte. Das Album der Fantas hatte mich den ganzen Winter über begleitet, ohne dass ich es je satt gehabt hätte. Sich ein Konzert der Jungs anzusehen war da doch bestimmt nicht die schlechteste Idee. Ich war zwar in meinem Leben noch nie auf einem Konzert gewesen, aber in diesem Augenblick schien mir der Auftritt wesentlich interessanter als ein Tag in der Berufsschule. Und falls es stimmte, was man im Fernsehen mitbekam, war es immer gut, möglichst früh vor Ort zu sein, wenn man noch eine Karte ergattern wollte. Ich stieg an der nächsten Haltestelle aus, setzte mich in den nächsten Bus zurück in die Neusser Innenstadt und fuhr von dort aus mit der Straßenbahn nach Düsseldorf. Vom Düsseldorfer Hauptbahnhof spazierte ich eine gute halbe Stunde bis zum Tor 3, das ich so gegen neun Uhr morgens erreichte. Ich wunderte mich, dass ich offensichtlich der einzige Besucher des Konzerts war. Denn außer mir befand sich niemand vor der Halle, wenn man von ein paar Leuten absah, die gelegentlich Kisten oder technisches Equipment an mir vorbei in das Innere brachten. Ich kam mir ein bisschen blöd vor. Naiv, wie ich mit meinen siebzehn Jahren wohl noch war, hatte ich angenommen, dass sich bei Konzerten grundsätzlich schon Stunden vor Beginn gewaltige Menschentrauben vor den Eingängen bildeten. Diese Einschätzung beruhte auf den Bildern, die ich aus dem Fernsehen von Michael-Jackson-Konzerten kannte, bei denen die Leute bereits vor dem ersten Ton in Ohnmacht fielen. Diese Fantastischen Vier schienen ein bisschen weniger Weltstar zu sein, wie mir nun auffiel.
Ein Mann kam aus dem Gebäude und sah mich, wie ich irritiert vor dem Tor stand und überlegte, wie ich jetzt wieder nach Hause kommen sollte. Er fragte mich, warum ich denn dort herumlungerte. Ich antwortete ihm, dass ich aufs Konzert wollte.
»Is’ ausverkauft«, war die Antwort des Mannes, der sich mir als Günne vorstellte.
Er war der damalige Tourmanager der Fantas.
Ich zuckte nur mit den Schultern.
Wenn ausverkauft ist, dann ist halt ausverkauft, dachte ich und wollte mich auf den Heimweg machen.
Aber Günne lächelte mich an und sagte nur: »Warte mal, die kommen gleich. Vielleicht geht da ja noch was.«
Ich war völlig baff. Die kommen gleich … Damit konnte Günne doch unmöglich die Fantastischen Vier gemeint haben. Das waren doch Popstars. Und die liefen nicht irgendwo frei herum oder kamen einfach mal so. Ich fand es völlig abwegig, dass die Band, auf deren Konzert ich hier wartete, gleich einfach an mir vorbei spazieren könnte. Popstars sah man im Fernsehen oder auf der Bühne. Nirgendwo sonst. Nie. Erst recht nicht liefen sie einfach an einem vorbei.
Aber tatsächlich hielt einige Zeit später ein Bus vor der Location. Das Tor 3 verfügt nicht über einen Backstage-Eingang, sodass die Künstler durch den Vordereingang kommen müssen. Inzwischen warteten mit mir ungefähr 15 bis 20 Fans darauf, einen Blick auf Smudo, Thomas D, Dee Jot Hausmarke und And.Ypsilon werfen zu können. Fast alles Mädels übrigens, ich war einer von nur wenigen Typen. Deswegen waren sie extra so früh hier angekommen. Im Gegensatz zu mir, der es einfach nicht besser gewusst hatte.
Als sich die Bustür öffnete, traute ich meinen Augen nicht. Die Jungs kamen lächelnd heraus und grüßten freundlich die Wartenden. Keine Bodyguards und kein anderer Schnickschnack, den ich wenigstens erwartet hätte. Nein, sie stiegen einfach aus ihrem Bus, gaben Autogramme und unterhielten sich sogar mit den Fans, bevor sie schließlich ganz entspannt Richtung Eingang schlenderten. Smudo war der einzige, der noch ein bisschen länger draußen blieb. Er hatte einen Camcorder in der Hand und filmte fleißig.
»Habt ihr eigentlich alle ne Karte?«, fragte er lachend, und einige Fans bejahten die Frage.
Fünf oder sechs Leute sagten aber, dass sie noch keine hätten.
Smudo öffnete den Reißverschluss seiner Bauchtasche (ja, seine Bauchtasche. Wir befinden uns im Jahr 1993, da waren die Teile cool!) und kramte einige Restkarten hervor. Diejenigen, die noch ohne Ticket waren, drängten sich augenblicklich nach vorn, und Smudo verkaufte die Karten, die er noch hatte, für 10 D-Mark das Stück. Ich hielt mich gentlemanlike zurück und wartete, bis die Mädels ihre Karten hatten, erst dann ging ich nach vorn zu Smudo. Und bekam prompt keine Karte mehr ab.
So viel zu »vielleicht geht da ja noch was ...«. Jetzt war ich schon ein bisschen enttäuscht, was einigen der Fans auch gleich auffiel. Sie begannen sofort damit, sich über mich lustig zu machen, da ich im Gegensatz zu ihnen völlig umsonst gewartet hatte. Okay, ich war kein riesiger Fan der Fantastischen Vier, und dass ich jetzt keine Karte für das Konzert hatte, war mir auch relativ egal gewesen. Aber deswegen auch noch von einem Haufen Mädchen veralbert zu werden, nervte mich schon. Ich war nicht der Einzige, den das nervte. Smudo warf den Leuten, die sich über mich lustig machten, einen missbilligenden Blick zu und nahm mich zur Seite.
»Warte mal kurz hier, ich komm’ sofort wieder.«
Ohne dass ich wusste, was er genau damit gemeint hatte, sah ich Smudo hinterher, wie er in der Halle verschwand. Und wie versprochen keine fünf Minuten später wieder zurückkehrte. Er drückte mir einen Aufkleber in die Hand, den ich mir auf das T-Shirt kleben sollte. Darauf stand: Lass die Sonne rein – Tour Guest.
Sprachlos pappte ich mir das Ding aufs Shirt und wurde von Smudo unter den Blicken der Mädels in die Halle gelassen. Ich war nun eingeladen. Meinen Geldschein, den ich noch immer verdutzt in der Hand hielt, streckte ich Smudo entgegen und fragte ihn, ob er mir darauf...