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E-Book

Die Schatten des Morgenlandes

Die Gewalt im Nahen Osten und was sie mit uns macht

AutorCarsten Stormer
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl302 Seiten
ISBN9783732536504
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

Anschläge, Flüchtlingskrise, Zerwürfnisse mit Bündnispartnern: Der Syrienkrieg wirft seine Schatten auf Europa. Kriegsreporter Carsten Stormer kennt die Hintergründe des endlos scheinenden Konflikts aus erster Hand. Er lässt sich von Helfern über die Grenze schmuggeln, begleitet Rebellen an die Front und diskutiert mit Islamisten. Im Kriegsgebiet begegnet er nicht nur Elend. Er begegnet Menschen, die sich einmischen, die Not lindern, sich zur Wehr setzen und scheinbar Unabwendbares abwenden, während der Rest der Welt nur zusieht.



Carsten Stormer, Jahrgang 1973, studierte Journalistik in Bremen und am Indian Institute of Technology (IIT) in Chennai, Indien. Seit 2008 lebt er mit seiner Familie auf den Philippinen und schreibt aus Asien und dem Nahen Osten für Spiegel, Cicero, Stern, FAS und filmt Reportagen für Weltspiegel, Auslandsjournal, Spiegel TV und Arte. 2011 erschien sein erstes Buch Das Leben ist ein wildes Tier.

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Leseprobe

Prolog: Ein Blick in die Zukunft


Im Januar 2011 reise ich in die christliche Enklave Alqosh im Nordirak. Ich habe den Auftrag, einen Menschen zu finden, der sich für den Frieden zwischen den Religionsgruppen im Irak einsetzt. Jemand, der die Frage beantworten kann, ob es Hoffnung für den Irak gibt. Dass dies nicht einfach werden würde, war mir von Anfang an klar. Schnell stellte ich fest, dass unser Plan nicht funktionierte. Zuerst wollte ich einen Mann treffen, der in Mossul mit Angehörigen aller Volksgruppen Wasserrohre verlegt. Rohre verlegen für den Frieden; großartig! Aber der Protagonist brach sich die Hüfte – und sagte ab. Dann sollte ich einen Iraker besuchen, der ein Radio in Kirkuk betreibt, das ein interkulturelles Versöhnungsprogramm sendet. Noch besser! Aber nicht mal ein Interview wollte er geben. Einen Grund nannte er nicht. Ich vermute, weil die Sicherheitslage in Kirkuk zu prekär war. Am Ende hieß es: Mach irgendwas, Hauptsache, Irak.

So bin ich schließlich im Kloster von Alqosh und bei Vater Gabriel gelandet. In der New York Times hatte ich gelesen, dass Tausende Christen, Jesiden, überhaupt Andersgläubige ihr Land verließen, weil sie ihres Lebens nicht mehr sicher seien. Ein Terroristennetzwerk, das sich »Islamischer Staat im Irak« nannte, legte Sprengsätze, ermordete Gegner, erpresste Schutzgelder, drohte. Nach einem Anschlag auf eine Kirche flohen Hunderte Christen in das Kloster von Vater Gabriel in Alqosh. Das sollte meine Geschichte werden: die verfolgten Christen und ein mutiger Priester, der ausharrt, ihnen Schutz gewährt und sich gegen die Gewalt stemmt. Ein Bollwerk christlicher Nächstenliebe gegen die dumpfe Gewalt islamistischer Terroristen. So weit die Theorie.

Was ich nicht weiß: Die letzten Flüchtlinge hatten das Kloster kurz vor Neujahr verlassen. Ich bin zwei Wochen zu spät. Das Kloster ist menschenleer, als wir dort eintreffen, nur acht Priester und ein 97-jähriger Mönch erwarten mich. Dabei hatte ich erst wenige Tage vor meiner Abreise mit einem Mittelsmann im Kloster gesprochen. Ja, natürlich könne ich vorbeikommen. Dass die Flüchtlinge da schon längst weitergezogen waren, ließ er unerwähnt. Das hätte gegen die irakische Auffassung von Gastfreundschaft verstoßen. Ohne vertriebene Christen fällt der wichtigste Aspekt der Geschichte weg, und ich ahne, dass es schwierig wird, meinen Auftrag zu erfüllen.

Alqosh liegt im kurdisch verwalteten Teil des Iraks. Hier ist es im Winter 2011 für irakische Verhältnisse noch relativ sicher. Und deshalb ist dieses Gebiet zum Rückzugsgebiet für all die Vertriebenen im Zweistromland geworden. Im kurdischen Teil des Iraks leben Kopten, Christen, Jesiden, Kurden, Moslems und Anhänger Johannes des Täufers friedlich nebeneinander – auch wenn sie sich nicht unbedingt mögen.

Die Christen haben sich in Enklaven der biblischen Provinz Ninive abgeschottet. In Sharifa, Telesqof, Telqef, Batnaia und vielen anderen Siedlungen. Dort finden weiterhin Gottesdienste statt, die Menschen fühlen sich sicher. Die Zugangsstraßen der Dörfer werden von kurdischen Peshmerga und irakischen Soldaten bewacht.

Vater Gabriel K. Tooma ist ein schmaler Mann mit Brille, das akkurat frisierte Haar mit grauen Strähnen durchzogen. Ein Karrierepriester; mit 41 Jahren bereits vom Papst zum Abt aller katholischen Klöster im Irak erkoren. Er geht ein bisschen gebückt, die Hände hinter seinem Rücken verschränkt; das große Kreuz um seinen Hals wirkt wie eine Last, an der er schwer zu tragen hat. Er predigt und lebt im Kloster der Jungfrau Maria in Alqosh, knapp zwei Autostunden von der Fanatikerhochburg Mossul entfernt.

Um fünf Uhr morgens, wenn das unsichtbare Böse in seinem Land noch schläft, steht er auf, schlüpft in seine Soutane, legt die Kette mit dem silbernen Kreuz um seinen Hals und betet; für Frieden im Irak, seiner Heimat, dafür, dass auch heute wieder ein Tag ohne schlechte Nachrichten vorübergeht, dass keine Kirche brennt in Bagdad oder Mossul, dass keine Haftbomben unter Autos explodieren und Christen, Jesiden oder Kurden in den Tod reißen; dass niemand mit schallgedämpften Pistolen erschossen wird. Es stirbt sich leicht im Irak, und deswegen gibt es viel zu beten. Die Gewalt, dies weiß der Priester, kommt und geht, ist wie Ebbe und Flut, bestimmt das Leben der Iraker wie der Mond die Gezeiten der Meere.

Und trotzdem will Vater Gabriel seine Enklave Alqosh nicht verlassen. Hier ist seine Gemeinde, hier fühlt er sich sicher. Außerhalb der Klostermauern lauern Gefahren, töten Terroristen. Drinnen bedränge ich ihn. Er soll mir zeigen, wie er zwischen den Volksgruppen vermittelt, versöhnt. Aber wir reden aneinander vorbei. »Es gibt keine Probleme zwischen Christen und Moslems«, sagt er mir nach einer Messe. »Es ist kein religiöser Konflikt, sondern ein politischer. Dagegen kann man nichts tun.«

Die meiste Zeit betet Vater Gabriel. Oder er empfängt Besucher, schreibt Briefe, bereitet Messen vor – was Priester eben so tun. Moslems begegnet er nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Jahrhunderte der Koexistenz, und noch immer jede Menge Vorurteile.

Dann bewegt er sich doch. »Willst du mit mir nach Mossul fahren?«, fragt er eines Morgens. In Mossul, sagt er, sei es gefährlich. Hier tummeln sich ehemalige Angehörige von Saddams Baath-Partei, religiöse Hetzer und Terroristen der al-Qaida. Bis vor ein paar Jahren lebten hier mehr als 100 000 Christen, jetzt seien es weniger als fünftausend, heißt es. Die Flucht ist eine Kapitulation vor religiösem Fanatismus und die Folge einer korrupten Politik, die macht- und willenlos ist gegen die Gewalt und die Betroffene nicht schützen kann. Mehr als die Hälfte der im Irak lebenden Christen soll das Land schon verlassen haben: 400 000 bis 700 000 Menschen. Christen und andere Minderheiten sind zur Zielscheibe der Terroristen geworden, die darauf hinarbeiten, dass der Irak völlig auseinanderfällt und ein islamistisches Kalifat entsteht. Nur drei Prozent der Bevölkerung gehören zu einer der religiösen nichtislamischen Gruppen, aber sie stellen zwanzig Prozent der Flüchtlinge. Wenn sich die Lage wieder beruhigt hat, kehren einige wieder zurück. So pendelt sich das Leben ein im Rhythmus der Gewalt.

Es ist kalt in Ninive, der Wiege des christlichen Glaubens im Mittleren Osten. Ein eisiger Wind pfeift über das Hochplateau, und die Temperatur fällt auf gefühlte null Grad. Vater Gabriel steigt in seinen Toyota Corolla, und man spürt seine Anspannung. Für die Fahrt hat Vater Gabriel die Soutane abgelegt, zu gefährlich. Genau wie das silberne Kreuz, das jetzt im Handschuhfach liegt, besser so. Nur der Priesterkragen, der unter seiner schwarzen Winterjacke hervorlugt, verrät seinen Glauben. Die kurdischen Peshmerga, die sein Kloster bewachen, schieben das eiserne Rolltor beiseite, salutieren, und Vater Gabriel schickt ein Vaterunser zum Himmel.

Während der Fahrt raucht er eine Zigarette der Marke Prestige nach der anderen, als wolle er sich an den Kippen festhalten, und erzählt, dass alle Kirchen in Mossul geschlossen seien, alle Priester, bis auf einen, die Stadt verlassen hätten und Weihnachten im vergangenen Jahr abgesagt werden musste. Er bleibe nie länger als zwei Stunden in der Stadt. Aus Sicherheitsgründen. Je näher Mossul rückt, desto mehr Straßensperren behindern den Verkehr; kurdische und irakische Soldaten mit entsicherten Gewehren fordern Ausweise und schauen in Kofferräume. Als ein junger Mann im Tarnfleck das Kreuz im Handschuhfach entdeckt, flüstert er Vater Gabriel zu, dass er bitte aufpassen und nicht zu lange in Mossul bleiben solle. Man wisse ja nie in diesen Zeiten … Vater Gabriel schickt zum Dank ein »Gott sei mit Dir« durchs offene Fenster und bekreuzigt sich.

»In dieser Straße lebten einst nur Christen, heute sind nur drei Familien übrig geblieben«, sagt der Priester, als wir in Mossul ankommen, und blickt dabei ständig in den Rückspiegel. Seine Stirn wirft Falten, er ist nervös, zieht den Mantel enger, um den verräterischen Priesterkragen zu verstecken. Wir besuchen die Maqdasays, eine der wenigen christlichen Familien, die noch immer in Mossul leben.

Wie durch einen Schleier verhüllt dringen die Geräusche der Stadt in das Haus der Maqdasays. Bei Miller-Bier und gebrannten Nüssen sitzen Vater Gabriel und die Familie Maqdasay in deren eiskaltem Wohnzimmer und halten sich an den Händen. Atemwolken wabern durch die kalte Luft. Vater Gabriel verteilt Stofftiere an die Kinder: Pu, der Bär, und einen grünen Drachen. Der Strom ist mal wieder ausgefallen. »Ah, die Früchte von Freiheit und Demokratie«, bemerkt Vater Gabriel sarkastisch, und alle lachen.

Obwohl sie nie persönlich bedroht wurden und die Beziehungen zu ihren muslimischen Nachbarn gut sind, flohen die Maqdasays in den vergangenen zwei Jahren drei Mal aus Mossul. Nachdem Christen starben, weil eine Autobombe explodierte oder weil jemand »Christen verschwindet aus Mossul oder wir töten euch« an eine Hauswand geschmiert hatte. Wenn sie das Haus verlassen, informieren sie sich über SMS: »Bin nur noch schnell Zigaretten holen, bin okay!«

Es klingelt an der Haustüre, und Vater Gabriel zuckt zusammen, als hätte ihn eine Biene gestochen. Doch es sind nur moslemische Freunde der Familie, die vorbeischauen, weil sie gehört haben, dass Vater Gabriel zu Besuch ist. Das Bier verschwindet, stattdessen wird gezuckerter Tee serviert. »Wenn wir fliehen, dann lassen wir den Schlüssel bei den Nachbarn, die auf unser Haus aufpassen«, sagt Amer Maqdasay, 62, das Familienoberhaupt, der neun Jahre als Kriegsgefangener im Iran verbrachte. Seine Frau sitzt am Fenster und beobachtet, was auf der...

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