Eine deskriptive, erfahrungswissenschaftlich ausgerichtete Marketingethik kann die artikulierte Kritik an Missständen in der Marketingkommunikation seitens der betroffenen Anspruchsgruppen zum Ausgangspunkt für ethische Betrachtungsweisen und Fragestellungen im Marketing machen.[74]
Von den traditionellen 4 P’s des Marketings gehört die Kommunikationspolitik zu den wohl am häufigsten öffentlich kritisierten[75], da sie als Schnittstelle des Unternehmens zur Außenwelt besonders von externer Kritik betroffen ist.[76] Immer wieder werden ethisch fragwürdige Praktiken und Verhaltensweisen angewendet. Hierzu zählt vor allem der Einsatz bedenklicher Mittel zur Erreichung von Marktchancen. Bürger stehen Marketing und Werbung deshalb oft skeptisch gegenüber. Moralverletzungen im Marketing sind allgemein sehr umstritten, da sie aus verschiedenen Wertperspektiven bewertet werden.[77] Zu den am meisten genannten Punkten gehören irreführende und/oder sittenwidrige Werbung, also der „manipulative Charakter des Marketing, der Konsumenten zu Käufen verleitet, die nicht ihren (wahren?) Bedürfnissen entsprechen“[78], aggressive Verkaufspraktiken sowie die Förderung des Materialismus.[79]
Derartige Beurteilungen und Vorwürfe zeigen das geschwächte Vertrauen in das Marketing von Seiten der Konsumenten. Es scheint, als unterschätzten Marketers den Wert dieses Vertrauens. Vertrauen ist essentiell für eine gute Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer und einen langfristigen Geschäftserfolg, gerade in Zeiten der Globalisierung. Es ist wichtig, sich wieder darüber klar zu werden, dass es der Eindruck des Kunden ist, der zählt und nicht der eigene. Unternehmen investieren über Jahre hohe Summen, um Vertrauen und eine positives Image ihres Unternehmens und ihrer Marken aufzubauen. Doch dieses Vertrauen kann schnell durch peinliche Skandalwerbung wieder zerstört werden. Die Investitionen waren Verschwendung, wenn sie später einer unangemessenen Kommunikation oder Werbekampagne zum Opfer fallen.[80]
Ehrlichkeit ist daher eines der wichtigsten Grundprinzipien jedes ethischen Systems. Falsche Behauptungen und unehrliche Informationen in Werbe- und Promotionkampagnen sind eindeutig unethisch und illegal. Trotzdem wird immer noch unehrliche Marketingkommunikation betrieben.
Eine wahrheitsgemäße Gestaltung betrifft wohl jede Form von Marketingkommunikation. Diese Art des unethischen Verhaltens wird deshalb schon von vielen gesetzlichen oder außergesetzlichen Regelungen aufgegriffen. Vor allem Täuschung und Lüge stellen gravierende Beispiele dar.
Es ist beinahe gängige Marketingpraxis, der Zielgruppe nicht die ganze Wahrheit über das beworbene Produkt zu nennen. So enthalten beispielsweise Airlines ihren Kunden vor, dass sie im Thema Flugpünktlichkeit schlecht abschneiden oder Fast-Food-Ketten warnen ihre Konsumenten nicht vor dem Fettleibigkeitsrisiko bei zu häufigem Verzehr ihrer Lebensmittel. Das ist legal. Zwar sind Lebensmittelhersteller dazu verpflichtet, chemische Zusätze wie Aromastoffe und Geschmacksverstärker auszuweisen, doch das bedeutet nicht gleichzeitig, dass der Verbraucher auch das klein Gedruckte liest und es versteht.
Besonders das Bestreben, in Zeiten der Informationsüberlastung Aufmerksamkeit zu erlangen und wahrgenommen zu werden, verleitet Unternehmen, sich bei der Gestaltung ihrer Werbemaßnahmen irreführender oder manipulativer Methoden zu bedienen.
Manipulation und Irreführung werden Werbung schon seit ihrer Erfindung vorgeworfen und oft als die eigentliche Aufgabe des Marketings verhöhnt. Aus ethischer Sicht steht bei der Formulierung von Werbebotschaften deshalb vor allem der Aspekt der Irreführung im Fokus.[81] Irreführend ist Werbung, die aufgrund falscher, nicht vollständiger oder missverständlicher Inhalte von einem Durchschnittskonsumenten falsch verstanden wird oder werden könnte.[82] Bewusst verfälschende Darstellungen oder falsche Versprechungen rufen beim Kunden falsche Erwartungen hervor. Eine besondere Verantwortung liegt beispielsweise bei der Gesundheits- und Pharmaziebranche, wo Kunden und Patienten sich aufgrund mangelnden Fachwissens auf die Aussagen der Hersteller oder Ärzte voll und ganz verlassen können müssen.[83] Ebenso betrifft dies die Bereiche der kosmetischen Chirurgie oder Haarausfallbehandlungen, wo Kommunikationsmaßnahmen sich an der Grenze des Verkaufens von Hoffnungen (engl.: „selling hope“) bewegen.[84] Zu irreführender Werbung zählen beispielsweise auch, Kunden mit nicht verfügbaren Angeboten in den Laden zu locken oder betrügerische Preisausschreiben.[85] Die Manipulationskraft der Werbung kann in bestimmten Situationen auch künstliche Bedürfnisse erzeugen. Die Kritik an irreführender Werbung zeigt das Misstrauen der Verbraucher gegenüber der Manipulationskraft der Werbung.[86]
Eine besondere Form der irreführenden Werbung stellt „grüne“ Werbung, das sogenannte Greenwashing dar. Mit dieser PR-Methode versuchen Unternehmen sich einen grünen Anstrich zu verpassen.[87] Als Greenwashing bezeichnet man Aussagen oder Handlungen von Unternehmen, die behaupten, dass es selbst oder ein Produkt „positiv zum Erhalt der Umwelt beiträgt, obwohl dies nicht der Fall oder sogar das Gegenteil richtig ist.“[88] Unternehmen nutzen Greenwashing, um sich ein umweltverantwortliches Image zu verschaffen, ohne ihr Umweltverhalten ernsthaft ändern zu wollen.[89] Dies ist vor allem bei Unternehmen der Fall, die zuvor durch Umweltskandale oder negative Schlagzeilen aufgefallen waren. Greenwashing wird außerdem betrieben, um neue Käufergruppen zu erschließen und Marktanteile zu sichern.[90]
Beispielsweise versuchte McDonald’s 2009 mit der Erstellung eines Nachhaltigkeitskonzepts sein angeschlagenes Image aufzupolieren. Dazu wurde europaweit die Farbe des Firmenlogos von rot auf grün umgestellt, als Bekenntnis zum Respekt gegenüber der Umwelt. Der Konzern war zuvor wegen der Mitverantwortlichkeit bei der Zerstörung des Regenwalds und der übermäßigen Produktion von Verpackungsmüll in öffentliche Kritik geraten.
Ebenfalls als Greenwashing kann das 2002 gestartete Krombacher Regenwald-Projekt
(s. Abb. 3) gewertet werden. Die Brauerei verspricht in seiner Werbung, dass der Kauf eines Kastens Bier genau einen Quadratmeter Regenwald rettet. Jedoch wird nicht klar, was die Rettung eines Quadratmeters Regenwald wirklich kostet bzw. welcher Anteil eines verkauften Kastens dafür verwendet wird. Tatsächlich fließen die Spendengelder in die Ausrüstung von einheimischen Rangern, die den Tourismus weiter ausbauen sollen.[91] Mit der Kampagne beabsichtigt Krombacher, neue Käufer zu werben und insgesamt den Verkauf seines Bieres im hart umkämpften Markt anzukurbeln.
Abb. 3: Krombacher Regenwald-Projekt 2008[92]
Eine Studie, die von Schmidt/Donsbach durchgeführt wurde, zeigt, dass immer mehr Unternehmen Greenwashing betreiben und ihre Produkte „grün“ positionieren. Gemessen an der Gesamtwerbung hat sich der Anteil „grüner“ Werbung zwischen 1993 bis 2009 den Ergebnissen der Studie zufolge verdoppelt.[93] Drei von vier dieser Werbungen beinhalten Merkmale, die potenziell irreführen, was wiederum zu einem Vertrauensverlust auf Seiten der Konsumenten führen kann. Wenn Konsumenten „grüne“ Werbung überhaupt nicht mehr ernst nehmen, besteht auch für Unternehmen keine Motivation für Greenwashing mehr, aber auch nicht mehr dafür, wirklich „grün“ zu sein und damit zu werben.[94] Und damit wäre der Umwelt erst recht nicht geholfen.
Übertreibungen sind so alt wie die Werbung selbst. Hersteller wollen den Kunden nicht nur davon überzeugen, dass ihr Produkt dessen Bedürfnisse befriedigt, sondern dass ihr Produkt das besser und schneller kann als jedes andere Wettbewerbsprodukt. Die häufige Verwendung von Superlativen soll Kunden anlocken und sie zum Kauf bewegen. Da Übertreibungen im heutigen Marketing mit zur Tagesordnung gehören, hinterfragen Konsumenten diese immer häufiger und werden misstrauisch. Tatsächlich hat der Verkäufer das Recht zu übertreiben, aber es gibt keine klaren gesetzlichen Richtlinien zu einer Grenze der Übertreibung.[95] Werbebotschaften, die Produktmerkmale oder deren Leistungsfähigkeit stark übertrieben zeigen, gelten als irreführend. Hier konvergieren das Recht der freien Meinungsäußerung der Produzenten und das Recht der Konsumenten, angemessen informiert und nicht irregeführt zu werden.
Obwohl übertriebene, im Sinne von verfälschenden Darstellungen in der Werbung gesetzlich verboten sind, enthält ein...