Der andere Planet
Erste Schritte, Berlin-Hoppegarten 1978
An einem frostigen Wintertag im Februar 1978 hatte uns die S-Bahn in Berlin-Hoppegarten angelandet.
Da standen wir junges Paar nun neben dem umfangreichen Gepäck, atmeten tief durch und waren voller Aufregung in der Erwartung auf den neuen Lebensabschnitt. Ich konnte damals nicht wissen, dass mich diese Zeit für immer prägen würde.
Mit einem Zischen schlossen die Türen. Das in Berlin allgegenwärtige und typische Fahrgeräusch ertönte und die S-Bahn entschwand ihrem nächsten Halt entgegen. Wir nahmen die Sachen, gingen den Bahnsteig entlang zum Treppenhaus und bewältigten die vielen steilen Stufen hinunter auf Straßenniveau. Dort angekommen, unter der Gleisbrücke und neben der Kopfsteinstraße weitertrabend, stoppten wir an der winzigen Schleife einer Menschenverteilerstelle und hielten vergeblich Ausschau nach einer Transportmöglichkeit. Ein Fahrplan, knapp und mit wenig Zahlen, zog klare Grenzen. Ein Linienbus fährt ab und an in die gewünschte Richtung. Jetzt aber nicht - so am Vormittag. Später Nachmittag wäre möglich. Nein, danke, kaum entzifferbare Tabelle, zu viel des Wartens.
Ein Schild gegenüber markierte einen Haltepunkt für Taxis, immerhin. Doch auch nicht mehr, Taxis waren hier nicht unbedingt häufig, soweit außerhalb und am Rande von Berlin. Die Handvoll Mitangelandete hatten sich bereits unauffällig in der waldigen Landschaft verteilt, in Richtung ihrer Häuser, irgendwo in der Ferne, unsichtbar für Fremdlinge. Die Auflösung war perfekt und wir fanden uns verloren im Nirgendwo. Ein wenig warteten wir, in der Hoffnung auf ein Taxi, schließlich war uns der Weg bekannt und wir fürchteten ihn angesichts unserer Traglasten. Dann aber wurde das Warten zur Last, schwerere als das Gepäck, und wir marschierten los.
Wir waren damals lernfähig. Verstanden bereits im nächsten Winter, die letzte S-Bahn-Tür zu kapern, um beim Halt, jung wie wir waren, über Bahnsteig und Treppen den Mitbewerbern davon zu schweben und so ein eventuell parkendes Taxi, verloren in der Einsamkeit, zu erbeuten. Zimperlich durfte man nicht sein, sonst war das Ziel der Begierde mit anderer Menschenfracht enteilt.
Bis zum bogenförmigen vieltürigen Eingangsportal der Galopprennbahn, schon viele, viele Minuten Fußweg lagen hinter uns, konnten wir auf einem Sandweg dem gealterten Kopfsteinpflaster ausweichen. Hier endete diese Art Fußgängerweg, jetzt schlängelte sich die Straße kilometerweit am Objektzaun der Rennbahn entlang, dann entschwand diese hinter Waldstreifen und rechterhand tauchten alte Villen auf. Düster und heruntergekommen lagen sie aneinander gereiht zwischen alten Bäumen und doch ließ sich ihre ehemalige Schönheit unter all dem Grau, den verwaschenen Farben und trotz zerbrochener Verzierungen und bröselnder Backsteine, erahnen. Ausruhphasen rückten näher zusammen, die Gepäcklast hatte sich verdoppelt, die Arme waren gewachsen und die Taschen berührten immer öfter die buckligen Pflastersteine. Hinter der großen Biegung und das erste menschliche Anwesen fast greifbar, sahen wir die schnurgerade finale Etappe. Dort in der Ferne lag das Ziel, das Ende des Pilgerpfades, und es sollte uns neue, nicht geahnte Horizonte öffnen. Endgültig letzte Ausruhpause, entschieden wir und hielten es wenig später doch nicht ein. Aber erst einmal lockerten wir die Arme, streckten den Rücken und musterten gedankenversunken die Allee mit den kahlen Bäumen.
D. und ich hatten den sicheren, eingefahrenen Jobs als Tierpfleger in einem Zoo gekündigt und uns für Abenteuer entschieden. Besonders ich fühlte mich eingeengt, gegängelt und sah im Zoo keine Zukunft. Ich liebte in jener Zeit Zoos und die Arbeit dort, doch der Gedanke, das ganze bevorstehende Leben im ewig gleichen Rhythmus an gleichem Ort verbringen zu sollen war nicht vorstellbar. Einfach unerträglich die beständige Bevormundung und der Druck der linientreuen Direktion und deren Lakaien an gesellschaftlichen Tätigkeiten teilzunehmen. Ich gehörte weder dem kommunistischen Jugendverband an, noch war ich bereit zum für das berufliche Weiterkommen notwendigen Beitritt in Die Partei, die bekanntlich, im Größenwahn verloren, immer recht zu haben glaubte. Zuwider waren mir die wöchentlich stattfindenden Belegschaftsversammlungen, für welche die Teilnahme quittiert und für deren Nichtteilnahme man sich erklären musste. Diese Pflichtveranstaltungen drehten sich um gesellschaftspolitische Fragen, höchstens am Rande ging es um Ziele oder Aufgaben im Zooalltag. Jämmerliche Versuche einer Gehirnwäsche, ermüdend und peinlich lächerlich. Sie fanden in regulärer Arbeitszeit statt, das bedeutete für mich bereits wieder ab Mittag die Elefanten bei schönstem Wetter in ihr Haus zu holen und bis zum nächsten Morgen an den Ketten zu parken. Politische Phrasen, wichtiger als Tierrechte - in einem Zoo. Dann musste ich für ein zweites Gespräch zur Direktion. Bei der ersten Verwarnung blieb ich im Interesse der Elefanten so einer Versammlung fern, diesmal hatte ich nicht an der Maiparade teilgenommen, jenem verordneten Bewinken und Bejubeln seniler Münchhausens auf der Tribüne vorm Rathaus. Ich erfuhr von meinen Defiziten bei der gesellschaftspolitischen Einstellung und danach vorrangig beurteilte man einen Zootierpfleger 1976 in der DDR. Ich hatte verloren und wir starteten den immer wieder verzögerten Anlauf zu einer Bewerbung beim VEB Zentral-Zirkus Berlin.
Zirkus Berolina gastierte im Berliner Plänterwald und da saßen meine Freundin und ich beim Einstellungsgespräch als Tierpfleger im Direktionswagen mit dem stellvertretenden Direktor D. Graetz. Wir hatten alles abgesprochen, waren einverstanden mit dem Vertraglichen und erfüllten wohl auch weit mehr an Voraussetzungen, als Berolina je erwartet hatte. So folgten die erforderlichen schriftlichen Bewerbungen, welche einen Briefverkehr der beiden zuständigen Betriebe bezüglich “Kaderakten“ nebst “Beurteilungen“ auslösten. Hinter dem Rücken der Betroffenen, übliche Praxis. Dann kam zu unserem völligen Erstaunen die Absage vom Berolina…
Monate später spielte jener in Neubrandenburg und ein Zufall fügte es, dass wir uns für einige Tage in der Nähe aufhielten. Nun wollten wir es doch genauer wissen, nach dem einst so positiven Gespräch. Herr Graetz war sichtlich erstaunt über unsere Hartnäckigkeit und ehrlich genug, die Zusammenhänge zu erklären. Was, um ihm gerecht zu werden, schon ungewöhnlich war. Da hatte der Zoo tatsächlich unsere "Unabkömmlichkeit" betont und war nicht bereit, uns einfach wechseln zu lassen. Er gab die Akten nicht heraus und den geballten schlagkräftigen Argumenten der Partei konnte der Sonderling Zirkus wohl nichts entgegen setzen und Berolina fügte sich. Wir waren nicht wenig beeindruckt ob unserer ungeahnten Wichtigkeit für den Zoo. Wer hätte das gedacht? Herr Graetz betonte, wir können es im nächsten Jahr doch erneut mit einer Bewerbung versuchen. Ja, klar! So ausgebufft war der Herr Stellvertreter dann eben doch nicht.
Unsere Enttäuschung war riesig und ich sah mich als ewig kleiner Tierpfleger im Zoo bei Maidemonstrationen, Versammlungen und mit Parteibeitrittsoption für meinen sozialistischen beruflichen Weg. Nein, so nicht! Und dann stand Zirkus AEROS irgendwann Sommer `77 in Ilmenau, wo wir Urlaub machten. Ein Aufbautag. Laute, ausnahmslos westliche Musik begleitete den Chapiteau-Aufbau. Zirkuswagen rollten heran, wurden rangiert. Viele Zuschauer sahen dem steten Wachsen der Zeltstadt erstaunt zu. Der Zirkus hatte uns infiziert, wir nahmen allen Mut zusammen und gingen zum Direktionswagen. Herr Schoof, stellvertretender Direktor, empfing uns freundlich und hatte sofort ein offenes Ohr für die vorgetragene Bewerbung. Was nicht verwundert, war der Zirkus doch stets klamm bei seinem Personal. Er holte Direktor O. Bark hinzu und dieser, in jenem Jahr neuer Chef vom AEROS, war clever genug von seiner vorausgegangenen Tätigkeit beim Fernsehen, zeigte sich sogleich angetan und hatte für das offen erklärte Problem zwischen Zoo und Berolina eine Lösung. Keine großen Bewerbungen, im Zoo kündigen, mit der notwendigen Fristwahrung und dann sofort vom AEROS eingestellt werden. Fertig! Wo liegt das Problem? Wir sehen uns bald und bereisen im nächsten Jahr die ĆSSR.
So erhielten wir die Zusage vom Zirkus AEROS und hätten bereits vor einigen Monaten diese Kopfsteinstraße entlanglaufen können, wenn nicht im Herbst meine Einberufung zum Reservistendienst erfolgt wäre. Die Grundwehrpflicht lag kaum zwei Jahre zurück und mit solcher Überraschung der denkbar negativsten Art hatten wir beide überhaupt nicht gerechnet. Doch die greisen paranoiden Militärs, im Kalten Krieg immer bereit zum Klassenkampf, brauchten Menschenmaterial für ihre Heimatverteidigungspläne und gaben sich weder mit den mir bereits gestohlenen anderthalb Lebensjahren, noch mit meinen Vorsprachen um Aufhebung der neuerlichen Einberufung wegen bevorstehender Heirat und...