I. Kirchlicher Zustand in Dresden und Leipzig vor der Reformation.
Schon seit dem Jahre 1517 hatte das Wort Gottes in Chursachsen, sowie in mehreren anderen deutschen Ländern aufs Neue seine himmlische Kraft bewahrt, hatte der Welt die Augen geöffnet, verjährte Irrtümer beseitigt und die Bollwerke des Aberglaubens zertrümmert. Aber während dort Jünglinge und Greise, Fürsten und Untertanen des wohltuenden Lichtes sich freuten, das seine Strahlen, wie einst zu den Zeiten der Apostel, weithin verbreitete, mussten Tausende in dem von Gott so reich gesegneten Land des Herzogs Georg1 in Finsternis schmachten, und vermochten der Anbetung im Geist und in der Wahrheit, welche Christus forderte, sich nicht zu freuen.
Wie nämlich von dem Beginn des Mittelalters an bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts Finsternis die Völker Europas überhaupt deckte, so waren auch die damals Herzoglich Sächsischen Lande mit ihren beiden größten Städten Dresden und Leipzig dem Irrtum und Aberglauben verfallen.
Wenden wir unseren Blick zuerst auf Dresden, jene von einer reizenden Gegend umgebene Residenz des Herzog Georg, so fehlte es zwar zu Anfang des 16. Jahrhunderts daselbst keineswegs an Kirchen2, Kapellen und Altären; aber was nützen Kirchen, wenn die Herzen nicht Tempel Gottes sind, was die Altäre, wenn der Christ nicht geistliche Opfer bringt? Diesen vernünftigen Gottesdienst suchte man umsonst in dieser Stadt.
Zeremonien, die das Auge wohl ansprachen, aber das Herz leer ließen, unziemliche Aufzüge auf offenem Markt, unnatürliche Kasteiungen, ein Hersagen unverständlicher Gebete machten den Gottesdienst aus. Sittenlosigkeit und Unwissenheit herrschten unter Laien und Priestern, und fanden vorzüglich in den Klöstern einen sicheren Wohnsitz. Die Belege zu diesen Behauptungen liefert die Geschichte.
Große Wallfahrten wurden alljährlich zu der Frauenkirche in Neu-Dresden (jetzt Altstadt-Dresden) veranstaltet. Es wurde nämlich in dieser Kirche ein großes wächsernes Marienbild aufbewahrt, von welchem man viele Wunder erzählte, und welches besonders die Kraft, Kranke gesund zu machen, haben sollte. In noch größerem Ansehen jedoch stand, selbst noch zu Luthers Zeiten, der sogenannte schwarze Herrgott der Kreuzkirche, unter welchem wir ein großes schwarzes Crucifix zu verstehen haben.3
Schon Heinrich des Erlauchten Gemahlin hatte nämlich vorgeblich im Jahr 1234 ein Stück des heiligen Kreuzes nach Dresden gebracht, welches in der nun sogenannten Kreuzkirche aufbewahrt wurde. Desgleichen soll auch im Jahr 1299 ein auf der Elbe herzugeschwommenes Kreuz aufgefangen und in feierlicher Procession, in die Kreuzkirche zur Aufbewahrung und Verehrung gebracht worden sein. In der Dreikönigskirche wurde die Fußsohle der heiligen Maria aufbewahrt, zu welcher ein sehr großer Zulauf war4, und selbst nach Einführung der Reformation dauerte die Verehrung der Maria in dieser Kirche noch eine Zeitlang fort.
Dresden hatte bis zu den Zeiten der Reformation zwei Klöster. Eins derselben befand sich in Neudresden in der Nahe der jetzigen Sophienkirche und Mönche vom Orden des heiligen Franziskus hatten dasselbe inne. Es soll unbemittelt gewesen und zuletzt von sieben Brüdern bewohnt worden sein. Bedeutender unstreitig war das Augustinerkloster zu Alt-Dresden. Es lag dieses Kloster in der Nähe des sogenannten Wiesentores, und von ihm hat noch jetzt die Klostergasse ihren Namen. Luther revidierte dasselbe im Jahr 1516, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden.
Sämtliche Kirchen und Kapellen Dresdens standen unter der Oberaufsicht des Bischofs zu Meißen, welcher allein von den 47 Altären der Dresdner Kirchen jährlich 120 Mark (ungefähr 1600 Taler) Einkünfte bezog. Und welche Summen wurden durch den Ablass aus dieser Stadt geführt! Selbst noch im Jahre 1500 erschien bei Gelegenheit des Jubeljahres5 ein Ablassprediger in Dresden, welcher sich sechs Wochen daselbst aufhielt, und eine sehr gute Einnahme gehabt haben soll.
Wie erbärmlich, aber der Gottesdienst in der damaligen Zeit und in der dortigen Gegend gewesen sei, lernt man aus einem Berichte Emsers6, welcher in seiner Lebensbeschreibung des Bischof Benno den Gottesdienst in der Hauptkirche zu Meißen beschreibt: „Zu Mittag um 12 Uhr beginnen Schulknaben mit dem Gesang von Vigilien oder Gebeten für die Verstorbenen, hierauf kommen 8 herrschaftliche Kapläne und singen ebenfalls Vigilien, Vespern und ein Completorium bis um 2 Uhr. Diesen folgen die Canonici und der ganze Klerus, und beendigen die Vigilien (wenn es der Tag also mit sich bringt) samt dem, was sie weiter trifft, und auch die Vespern und das Completorium. Hierauf erscheinen die Grabati, d. i. die, welche bei der herrschaftlichen Gruft sitzen und singen auch Vigilien, Vespern und ein Completorium. Dergleichen wird den einen Tag vom Leiden Christi, den anderen vom Mitleiden der Jungfrau Maria, den dritten Tag aber die Historie von der Verklärung Christi gesungen. Ferner finden sich ein die Octaviani, d. i., die um 8 Uhr anfangen und singen Psalmen bis um Mitternacht. Nach diesem tritt auf der große Chor und singt Morgengebete. Sodann kommen andere Grabati und singen die Horas da fort, wo man den Abend zuvor aufgehört hat. Hiernächst erscheinen wieder herrschaftliche Kapläne, und singen der großen Göttin Morgenlieder; dann folgt eine Messe von denselben, und darauf wird eine andere Messe für die Verstorbenen gehalten, in welche die Chorknaben zugleich mit einstimmen.“
Ganz denselben Mangel an einem vernünftigen Gottesdienst, welchen wir bisher in Dresden kennengelernt haben, finden wir zu Anfange des 16. Jahrhunderts auch in Leipzig. Zwar fand sich auch hier eine ziemliche Anzahl Kirchen und Kapellen, aber das lebendige Wort war hier ebenfalls hinter dem geisttötenden Gebrauch zurückgetreten. Zwar war auch hier kein Mangel an Priestern und Altären, aber das Volk konnte das königliche Priestertum des Herrn nicht mehr sein, weil Aberglaube die Geister umnachtete. Statt auf Glauben und Sittlichkeit zu dringen, wurden Messen gelesen, und Vigilien gehalten, statt das Beispiel entschlafener Gerechten nachzuahmen, wurden ihre Bildnisse ein Gegenstand abergläubiger Verehrung, statt durch Wohltun die Elenden zu erfreuen, machte man Schenkungen an die Klöster, meinend, man tue Gott einest Dienst daran.7
Einzelne Tatsachen, welche wir nun geben wollen, werden am besten beweisen, wie tief der kirchliche Zustand Leipzigs gesunken war: Man führte z. B. in Leipzig in der dem Andenken an das Leiden und den Tod Jesu Christi geweihten Woche eine heilige Komödie auf offenem Markt auf. Der Einzug, welchen Christus nach Matth. XXI, 1 - 9 in Jerusalem hielt, wurde an jedem Palmensonntag in Leipzig öffentlich dargestellt. Was Christus dort getan hatte, um zu erfüllen das Wort des Propheten: Siehe, dein König kommt zu dir und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der lasttragenden Eselin, das ward hier zu einem Possenspiel herabgewürdigt, an welchem nur die unwissende Jugend und der blinde Pöbel Wohlgefallen finden konnte. 8
In der Karwoche wurde ferner die Leidensgeschichte Christi nach allen ihren Teilen durch geistliche Komödianten vorgestellt. Nach erfolgter Grablegung musste die größte Stille herrschen, auch die Glocken mussten schweigen, nur in der Nähe des Grabes selbst wurden Davidische Psalmen als Trauergesänge angestimmt. Tags darauf wurde die Stille aber durch ein plötzliches und furchtbares Lärmen, das auf allen Gassen zu hören war, unterbrochen. Knaben durchstrichen alle Gassen und Kirchen, klapperten und schellten und schrien zum Hohn des Judas Ischarioth ein Spottgedicht her. War die Faste beendigt, so durften die Christen zwar wieder Fleisch essen, doch mussten die Speisen zuvor durch einen Priester mit Weihwasser besprengt werden. Auch die Auferstehung Christi wurde am Ostermorgen auf eine völlig geschmacklose, der Würde des heiligen Tages und Ortes unangemessene Weise in der Kirche dargestellt.
Doch der größte Unfug ist, nach den uns überlieferten Nachrichten, mit dem Ablaß in Leipzig getrieben worden. Als nämlich Papst Alexander VI., dieser schändliche, allen Lastern ergebene Mensch, zu Anfang des 16. Jahrhunderts Geld zum Türkenkrieg nötig hatte, sendete er den Cardinal Raymund, Bischof von Gurk, nach Deutschland, und ließ durch denselben für Geld Ablass predigen. Dieser päpstliche Legat kam am Neujahrstage 1503 auch nach Leipzig. Herzog Georg zog ihm selbst entgegen, das Volk suchte ihn auf alle Weise zu ehren und Conrad Wimpina begrüßte ihn in einer lateinischen Rede, in welcher er ihn als einen Engel des Friedens bezeichnete, gesendet um die kräftigste Versöhnung zu bringen. Dieser Ablassprediger dehnte „die Ablassgnade auf die Eltern, Kinder und ganze Familie derer, die es verlangten, aus, und erteilte denen, die einen Ablassbrief lösten, die vollkommenste Vergebung aller Sünden, die ewige Seligkeit und das Himmelreich.“9
Weit ärger jedoch als Raymund trieb es mit dem Ablass in Leipzig der bekannte Johann Tetzel. Schon im Jahre 1507 hatte er in Leipzig mit Ablassbriefen gehandelt, und wiederholte dieses Geschäft im Jahre 1516. Die Universität, der Rat und die Stadt gingen ihm in Procession entgegen, alle Glocken der Stadtkirchen wurden geläutet, die Orgeln geschlagen und auf einem Samtkissen ließ er die Bulle des päpstlichen Commissarius vor sich hertragen. Er wohnte bei den Dominikanern auf dem Paulino und verkaufte den Ablass in der zu dem Kloster gehörigen Paulinerkirche. Doch war Tetzel im Ausbieten seiner Ablassbriefe so unverschämt, und zeigte so unverhohlen, dass es ihm nur um das Geld der Bewohner Leipzigs zu tun sei, dass er, als er im Jahre 1517 wiederkehrte und seine Ware feilbot, nicht wieder so bereitwillige Käufer fand. Auch predigte er mehrmals in Leipzig, bekam aber...