Kurze Einführung in die TCM
Zwischen Tradition und Modernität
Als erstes und bis heute grundlegendes schriftliches Werk in der Chinesischen Medizin gilt der Innere Klassiker des Gelben Kaisers (auf Chinesisch huangdi neijing). Diese wahrscheinlich während der zwei letzten vorchristlichen Jahrhunderte verfasste Schrift enthält alle grundlegenden Ideen, Begriffe und Erklärungsmodelle, auf welche die Chinesische Medizin bis heute baut. In den darauf folgenden zwei Jahrtausenden hat sich die medizinische Tradition in China unweigerlich weiterentwickelt und konnte doch über viele Jahrhunderte eine starke Homogenität erhalten. So blieb die grundlegende Theorie der Chinesischen Medizin über die Zeit mehr oder weniger unverändert gültig und die Schulen und Ärzte fühlen sich trotz mancher Unterschiede bis heute alle derselben Tradition zugehörig, einer Tradition, die im Inneren Klassiker des Gelben Kaisers wurzelt.
Die TCM besteht grob gesprochen aus zwei Systemen, die sich derselben theoretischen Modelle bedienen und sozusagen unter demselben Dach wohnen, trotzdem aber völlig unabhängig voneinander eingesetzt werden können. Zum einen gibt es die Innere Medizin, in der die Funktionskreise und ihre Störungsmuster im Mittelpunkt stehen. Nach dieser Inneren Medizin richten sich vor allem die Chinesische Kräuterheilkunde und die Ernährungslehre. Daneben gibt es eine Äußere Medizin, in der Meridiane und Akupunkturpunkte beschrieben werden und nach welcher Akupunktur, Moxibustion, Tuina und Qigong sich ausrichten. Den eigentlichen Kern der modernen TCM, vor allem was die Theorie und die Diagnosemethoden betrifft, bildet die Innere Medizin und um deren Erkenntnisse geht es auch in diesem Buch.
Die Chinesische Medizin ermöglicht uns nicht nur einen Zugang zu alternativen Heilmethoden, sie stellt ein im Vergleich zur modernen Biomedizin grundlegend anderes Medizinmodell dar. TCM und Biomedizin betrachten denselben menschlichen Organismus und doch kommen sie zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen. Das Objekt ist dasselbe, doch der Blick könnte unterschiedlicher nicht sein. So wie auf einer geographischen und einer politischen Landkarte dieselbe Gegend dargestellt wird und wir doch andere Dinge erkennen können: Berge, Meerestiefen und Wüsten auf der einen Karte, Landesgrenzen, Hauptstädte und Hoheitsgebiete auf der anderen.
Für die TCM und insbesondere die Innere Medizin war der menschliche Körper seit jeher eine Art black box: er konnte von außen sehr genau beobachtet werden, doch systematische Kenntnisse über sein Inneres gab es nicht. Also konzentrierte sich die Chinesische Medizin aufs Beobachten. Viele Generationen von Ärzten haben über Jahrhunderte eine schier unendliche Menge empirischer Daten gesammelt, zwar nicht nach den strengen wissenschaftlichen Kriterien moderner Forschung, dafür aber mit Offenheit, Hausverstand und sehr viel Erfahrung. Um den empirischen Erkenntnissen eine logische Ordnung zu geben, hat die Chinesische Medizin Modelle entwickelt, die sich an die chinesische Naturphilosophie anlehnen und die als heuristisch bezeichnet werden können, denn sie versuchen, begrenztes Wissen so zu organisieren, dass sich daraus erfolgreiche therapeutische Strategien ableiten lassen.
Es gibt Zusammenhänge, Phänomene und Pathologien, bei denen die Erklärungsmodelle der TCM passen wie angegossen. Bei anderen Zusammenhängen können sie durch einzelne Ausnahmen oder Zusätze passend gemacht werden. Doch gibt es auch Bereiche, in denen die TCM keine wirklich stimmigen Erklärungen liefern kann. Wie jedes Modell der Wirklichkeit haben eben auch die Theorien der TCM ihre blinden Flecke. Die Versuche, die Erklärungsmodelle in diesen Bereichen zurechtzurücken, gleichen dem Versuch, sich mit einer zu kurzen Bettdecke warm zu halten. Zum Glück aber hat die Chinesische Medizin auch dann empirisch erprobte und therapeutisch erfolgversprechende Behandlungsmethoden zu bieten, wo ihre theoretischen Erklärungsversuche nicht immer ganz überzeugen können.
Empirie und Philosophie, zwischen diesen beiden Polen hat sich die Chinesische Medizin über viele Jahrhunderte entwickelt und steht damit in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Sie ist im Lauf ihrer Geschichte ihren Wurzeln treu geblieben und hat sich doch auch immer wieder neu in Frage gestellt. Aus diesem Zusammenspiel von alt und neu, Sinn und Zweck, Ordnung und Dynamik schöpft die Chinesische Medizin ihre Kraft und Vitalität.
Ganzheitlichkeit
In China selbst wurde die Ganzheitlichkeit der Chinesischen Medizin eigentlich erst im Vergleich mit der westlichen Biomedizin zum Thema. In diesem Vergleich aber erscheint die Ganzheitlichkeit der TCM als eine ihrer grundlegendsten Eigenschaften. In dem komplexen System des menschlichen Organismus versucht sie, Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten zu erkennen, ohne das große Ganze aus den Augen zu verlieren. Es geht um Gleich- oder Ungleichgewichte, Wechselwirkungen, Dynamiken und Tendenzen in einem sich selbst regulierenden System, in dem alles mit allem zusammenhängt und das sich in ständiger Bewegung befindet. Wechselwirkung und Bewegung, diese beiden sind der eigentliche Kern der Chinesischen Medizin; in anderen Worten: Relation und Dynamik.
Wir können den ganzheitlichen Gedanken in der Chinesischen Medizin auf mehreren unterschiedlichen Ebenen wiederfinden. Eine erste Einheit verbindet den Menschen als Mikrokosmos mit seiner natürlichen Umwelt, dem Makrokosmos. Der Mensch ist selbstverständlich ein Teil der Natur und unterliegt deren Gesetzmäßigkeiten. Die Rhythmen der Natur, das Klima, das Zusammenleben mit Pflanzen und Tieren haben sich im Laufe von Jahrtausenden in das Wesen des Menschen eingeschrieben, sind Teil seiner eigenen Natur geworden. Alle Gesetzmäßigkeiten des Kosmos spiegeln sich in der Natur des Menschen wider. Der Wechsel von Yin und Yang, die Abfolge der Fünf Wandlungsphasen, kurz: das Dao des Himmels wirkt in uns ebenso wie es im Makrokosmos wirkt. Unser Organismus wird nicht nur beeinflusst von den Gegebenheiten der äußeren Welt, er hat sie sozusagen verinnerlicht. In der Logik der Chinesischen Medizin gibt es auch im menschlichen Organismus Tag und Nacht, Sommer und Herbst, Kälte, Hitze oder Wind.
Ebenso eingebunden ist der Mensch auch in seine soziale Umwelt. Er ist immer und unweigerlich Sohn, Bruder oder Vater, Tochter, Schwester oder Mutter. Daraus erwachsen Verpflichtungen, Konflikte, Freuden; es wird gearbeitet, gefeiert oder getrauert. Auch hier ergeben sich über Emotionen und Lebensgewohnheiten unvermeidbare Einflüsse auf das innere Gleichgewicht. Will man Gesundheit und Krankheit begreifen, so kann man aus der Sicht der Chinesischen Medizin diese Zusammenhänge nicht außer Acht lassen, denn sie sind das Fundament für beides.
Eine weitere untrennbare Einheit stellt der Mensch selbst in seiner Ganzheit dar. Dies ist eine Erkenntnis, die eigentlich nicht angezweifelt werden kann und der doch von der Biomedizin nicht genügend Rechnung getragen wird. Der Mensch ist für die TCM eine Einheit, in der Körper, Körperfunktionen, Emotionen, geistige Fähigkeiten und die spirituelle Ebene untrennbar miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Bereichen bilden ein komplexes System und gehen weit über die wenigen von der Biomedizin als psychosomatisch anerkannten Erkrankungen hinaus. Gerade die Trennung von Körper und Psyche und die Behandlung des einen ohne das andere, die wir uns in der Biomedizin so sehr zur Gewohnheit gemacht haben, wirken aus der Sicht der Chinesischen Medizin manchmal geradezu absurd.
Ein dritter wichtiger Aspekt der Ganzheitlichkeit betrifft die Teilsysteme, aus denen der menschliche Organismus sich aufbaut. Es ist eine grundlegende Überzeugung der Chinesischen Medizin, dass jedes Teilsystem die Ordnung des großen Ganzen widerspiegelt. Die Gesichtszüge, der Bauch, der Rücken, die Zunge, der Puls, das Ohr… in jedem einzelnen dieser Teile zeigt sich und wirkt das Ganze und wird auf diese Weise sichtbar und behandelbar. So funktioniert letztendlich auch die Befundung in der TCM als ein Erkennen des Großen im Kleinen, des Ganzen in einem Teil (Zunge, Puls).
Es ist nach der Logik der Chinesischen Medizin also nicht sinnvoll, den menschlichen Organismus in Diagnose oder Therapie in seine Einzelteile zu zerlegen. Deshalb gibt es in der TCM auch keine Spezialisten für einzelne Teilbereiche, keine Kardiologen, Gynäkologen oder Orthopäden, sondern höchstens Fachleute, was einzelne therapeutische Methoden betrifft, also zum Beispiel Ärzte, die nur Akupunktur oder nur Heilkräuter einsetzen. Für einen Arzt der Chinesischen Medizin hängen Schwerhörigkeit, Inkontinenz und Ängste als Störungen des Funktionskreises Niere eng zusammen. Für deren Behandlung braucht es keinen Hals-Nasen-Ohren-Arzt, keinen Urologen und keinen Psychiater. Diese drei so unterschiedlichen Probleme werden von ein und demselben Arzt, nach ein und derselben Befundung mit denselben Methoden behandelt.
Yin und Yang
Zunächst ein kurzer Hinweis zur Schreibung: die beiden...