An dem Haus kam man nicht einfach vorbei. Man fuhr nicht zufällig daran vorüber, wenn man auf dem Weg woandershin war. Nein, um dorthin zu gelangen, musste man Glover / Vermont – ein Gemischtwarenladen, keine Ampel, ein Busy Bee Diner – hinter sich lassen, über Serpentinen eine Anhöhe inmitten von Ahornbäumen, immergrünem Unterholz und Birken erklimmen und schließlich links auf eine breite Schotterpiste abbiegen. Man kam am Stall und dem blauen Siloturm der Mooreland Dairy Farm vorbei, schlängelte sich zwischen einzelnen Gehöften und Wohnwagen hindurch und tauchte dann immer tiefer in die Wälder ein, in denen die Ahornbäume dicht an dicht in Reih und Glied standen; es war März, Erntesaison, die Bäume standen angezapft und über Schläuche miteinander verbunden wie aneinandergekettete Sträflinge. Ein paar Meilen weiter, an einem Briefkasten, den niemand mehr benutzte, nahm man die Abzweigung von der breiten Schotterstraße und fuhr auf einem schmalen, schlecht erhaltenen Weg weiter, hinein in den immer tiefer werdenden Schnee, in dem das Fahrzeug schwamm, als gälten hier andere Gesetze als die Schwerkraft. Man fuhr durch einen Tunnel aus tief hängenden Ästen, erreichte dann wieder freies Feld, umsäumt von hoch aufragenden Kiefern, kam vorüber an einem leer stehenden Gebäude, dessen Bretterverkleidung nie fertiggestellt worden war, folgte anschließend weiter der Straße, die immer mehr zu einem Schatten ihrer selbst wurde – man sah nichts als die eigene Fahrspur, jene Zwillingsfährte im Schnee hinter einem, die nur entfernt an die beiden Schneisen erinnerte, zwischen denen im Sommer das Gras über die Höhe der Motorhaube hinauswuchs. Dann öffnete sich zur Linken der Blick auf eine kleine Wiese, auf der im Sonnenlicht drei knorrige Apfelbäume wie Kronleuchter schimmerten, und dahinter erneut Waldrand ohne auch nur die Andeutung einer menschlichen Behausung. Von hier an musste man laufen, vorbei an tief vergrabenen Zaunpfählen. Und dann, am Fuße einer steilen Böschung, stand das zweigeschossige Wohnhaus. Die himmelblaue Farbe war stellenweise von ihm abgeblättert, und es wirkte wie ein versunkenes Schiff.
Nicht viel drang hier von der Welt da draußen zu mir. In den anderthalb Jahren, seit ich hier eingezogen war, war nie jemand an meine Tür gekommen. Ich besaß keinen Fernseher, keinen Computer, kein Handy. Es gab einen Festnetzanschluss, und das Telefon klingelte etwa zweimal im Monat; die Tatsache, dass sich jemand verwählt hatte, wurde so zu einem echten Ereignis. Ansonsten musste ich mit den vergilbten Exemplaren des Newport Chronicle vorliebnehmen, die sich hinter dem Ofen stapelten. In ihnen ging es vorrangig um Biberplagen, Gemeindeabende, Verurteilungen wegen Alkohol am Steuer sowie vermisste Hunde; alles Nachrichten aus vergangenen Zeiten. Manchmal, wenn ich bei Tagesanbruch die Glut aufs Neue entfachte, ertappte ich mich dabei, wie ich über einen wunderschönen gefleckten Vorstehhund nachsann, Rasse Deutsch Kurzhaar, oder über den niedlichsten schwarzen Mischling, den die Welt je gesehen hat. Dann aber stach mir jedes Mal das Datum der Zeitung ins Auge, und mir wurde klar, dass diese Hunde bereits vor zwei Sommern, lange vor dem Schnee, ihren Träumen nachgejagt waren.
Die einzigen Neuigkeiten, die mich nicht erst als eine Art Geistererscheinung ihrer selbst erreichten, kamen durch die Fenster des Hauses oder auf meinen täglichen Streifzügen durch die Wälder zu mir. Wolken, die sich an einem stürmischen Nachmittag ein Kräftemessen boten, Sonnenlicht, das zwischen den Birkenkronen hindurchsickerte wie durch einen Vorhang. Sachte Böen, die sich gegen Abend mit der Dämmerung herabsenkten. Und etwa einmal in der Woche, wenn die Straßen frei waren, machte ich mich auf den Weg hinunter in die kleine Stadt Baron, wo ich im örtlichen C&C-Supermarkt meine Einkäufe erledigte, um dann über die sich bergaufwärts schlängelnde Straße hinauf zum Lake Parker General Store zu fahren. Das winzige Postamt von West Glover lag im hinteren Teil des Ladens verborgen, in einem Raum nicht viel größer als eine Fahrstuhlkabine mit Gittern und einem Fenster. Die junge Frau an der Kasse war gewiss nicht viel älter als achtzehn, und ihre gemächlichen Bewegungen hatten etwas Schwerfälliges, aber auch Reizvolles. Bedächtig schritt sie über die schmutzverkrusteten Dielenbretter, vorbei an dem Kühlschrank voller Milch, den Sixpacks Bier, den Lebensmitteldosen, trat dann hinein in das Postamt und sah in der Kiste für Postlagersendungen nach. Weil ich sie nicht einschüchtern wollte und ich auch keine Lust hatte, mir bewusst zu machen, wie es wäre, allein mit einer Frau zu sein, wartete ich an der Kasse. Wenn sie wieder zurückkam, errötete sie jedes Mal und erinnerte mich dabei an etwas, das wie in einem Naturfilm in Zeitlupe erblüht. Die Röte kroch an ihrem Hals aufwärts über ihre Wangen, die Farbe umso intensiver, wenn keine Post auf mich wartete. Vielleicht lag es ja daran, dass ich ein bisschen wie ein wildes Tier aussah – der wuchernde Bart, der viel zu intensive Blick meiner Augen. Oder daran, dass ich seit meinem letzten Besuch im Laden meine Stimme nicht mehr benutzt hatte und sie, wenn ich dann dankte, womöglich viel zu viele angestaute Gefühle transportierte. Selbst für meine Ohren klangen meine Worte, als kämen sie von weit her, als dauerte es eine gewisse Weile, bis sie zu mir gelangten, wie Licht von einem weit entfernten Stern.
Was ich fühlte, als es in dieser mondlosen Märznacht dreimal kurz an der Tür zum Vorbau klopfte, lässt sich mit Überraschung also nur unzureichend beschreiben. Jedes einzelne Klopfen hallte bedrohlich im Inneren des Hauses wider, als würden selbst die Stützstreben und Deckenbalken dadurch erstarren. Ein Schauder rieselte durch meinen Körper – eine erschütternde, physisch spürbare elektrische Ladung. Die blaue Kerze auf dem Tisch flackerte leicht. Ich hatte das Gefühl, mich unter Wasser zu befinden, und irgendwo weit über mir schien etwas an der Oberfläche zu treiben. In den Fenstern, hinter denen die Dunkelheit des Waldes lag, wurde mein Abendbrottisch schattengleich und schwach flimmernd reflektiert, vielmehr die Vorstellung eines Mahls als etwas Handfestes. Auch mein eigenes Abbild war nicht mehr als ein Flackern.
Bei meinen allwöchentlichen Fahrten zum C&C war ich gewappnet, da wusste ich, dass man mich ansehen würde. Blicke, so flüchtig sie auch sein mochten, warfen ein Bild auf mich zurück: Hippie von dem Mädchen an der Kasse, das ständig Blasen mit dem Kaugummi machte, Gammler von den üppigen Matronen, die gemächlich ihre Einkaufswagen vor sich herschoben – doch waren alle diese Blicke für mich erträglich, weil sie nicht die Wahrheit widerspiegelten. Der Gedanke aber, dass da draußen jemand stand, direkt vor der Tür zum Vorbau, das war, als hielte man mir einen Spiegel unmittelbar vors Gesicht. Ein Mann, der allein lebt, ein spärlich möblierter Raum, eine Kerze auf einem Tisch. Die Szene erinnerte an ein altertümliches Verhör, aber ohne dass der Vernehmende anwesend gewesen wäre. Im unteren Badezimmer gab es einen Spiegel, doch in den schaute ich nie, nicht während des Zähneputzens, nicht, wenn ich mir das Gesicht wusch, nicht, wenn ich aus der Dusche stieg. Und das nicht etwa deshalb, weil es mir etwas ausgemacht hätte, mein eigenes Gesicht zu sehen, nicht einmal an meinem blinden rechten Auge, das sich seit dem Unfall zu einem perlmuttartigen Grün getrübt hatte, lag es. Nein, es lag an dem hageren Fünfundzwanzigjährigen, der mir daraus entgegenblickte, denn ich kannte ihn nicht. Es gab da eine Präsenz, aber nur in einem gewissen Abstand. Selbst dass ich Tagebuch schrieb, fühlte sich plötzlich seltsam an – als würde ich meine eigenen Umrisse skizzieren, ein bisschen, als wollte man den Wind, den Schnee und die Sterne in die Gestalt eines Menschen zwängen. Dass ich hierher in die Wälder gekommen war, hatte nichts mit einer Herausforderung oder mit einem Rückzug zu tun – es war nichts, wozu ich mir Notizen machen wollte, um es für später zu konservieren, wie Beeren, die man im Sommer für später sammelt. Ich wollte einfach leben, ohne mich für irgendjemanden verstellen zu müssen, mich selbst eingeschlossen. Ich wollte ein Niemand sein in der Hoffnung, dass sich dieser Niemand für mich früher oder später vertraut anfühlen würde, dass er sich als jemand entpuppte, den ich die ganze Zeit schon gekannt hatte – der Kern dessen, was ich als Junge gewesen war, der Kern dessen, was ich als erwachsener Mann sein würde. Hinter all den Masken, die ich die ganzen Jahre über getragen hatte, selbst hinter jenen, die Masken verachteten, musste es doch etwas geben, etwas Essenzielles, der Ansatz eines realen Ich, der unveränderlich war.
Wieder war das Klopfen zu vernehmen, wieder die gleichen drei knappen Schläge. Wie erstarrt stand ich beim Holzofen und malte mir die Nacht dort draußen aus. Der letzte Wegabschnitt bis zum Haus war extrem schmal und der Schnee sieben Fuß tief, die Strecke so glatt wie eine Bobbahn. Die Finsternis wurde lediglich von den Sternen am Himmel durchbrochen. Die einzigen Menschen, denen ich je auf den umliegenden Hängen begegnet war, abgesehen von Nat und seinem Sohn, die gelegentlich vorbeikamen, um die Zufahrt vom Schnee freizuräumen, waren Jäger. Doch die Jagdsaison war seit Monaten vorbei. Die Wintersonne war längst untergegangen. Wer immer da vor der Tür stand, musste mehr Angst haben als ich. Denn wenn es einen Verrückten hier im Wald gab, einen verwilderten, bärtigen Einzelgänger, der zu allem fähig war, dann war ich das. Ich bin hier der Verrückte! Ich bin der durchgeknallte...