Die Methode Dorn
Wie sie entstanden ist und wohin sie sich entwickelt hat
Die Methode Dorn ist jetzt ungefähr Mitte dreißig – genauso alt, wie ich war, als ich sie kennengelernt habe. Meine Familie bewirtschaftete ein Sägewerk und einen kleinen Bauernhof im Allgäu. Im Jahr 1973 – damals war ich 35 Jahre alt – passierte mir bei der Arbeit im Sägewerk ein Missgeschick. Ich hob einen Baumstamm ungünstig seitlich an und spürte plötzlich so etwas wie einen Riss im unteren Rücken. Danach konnte ich mich nicht mehr aufrichten und schaffte es nur noch ganz langsam und gebückt bis zum nächsten Sofa. »Das geht schon wieder von selbst weg«, dachte ich, denn so ist es ja meistens, aber diesmal ging nichts von selbst weg. Im Gegenteil, es wurde noch schlimmer. Ich kam überhaupt nicht mehr vom Sofa hoch, sondern musste mich hinunterwälzen und auf den Boden legen. Dann dauerte es eine ganze Weile, bis es mir – Millimeter für Millimeter – gelang, mich wieder auf die Beine zu stellen. »Was mache ich jetzt?«, überlegte ich. »Muss ich damit zum Arzt gehen?«
Jedenfalls bin ich nicht zum Arzt gegangen und weiß daher auch nicht, ob der mir hätte helfen können. Vielleicht hätte er mich ins Krankenhaus geschickt zur Bandscheibenoperation, oder er hätte sonst etwas mit mir gemacht, das bestimmt sehr langwierig gewesen wäre. Ich aber wollte schnell wieder arbeiten und mich normal bewegen können. Also ließ ich mich zum Müller Josef bringen, dem Schloss-Bauern in unserem Ort. Der hatte zwar keine medizinische Vorbildung, aber wenn es die Leute im Kreuz hatten und nicht mehr gerade gehen konnten – so wie ich jetzt –, gingen sie zu ihm und wurden geheilt. »Krumm kommen die Leute rein, und gerade gehen sie wieder raus.« Das war der Spruch, mit dem der Müller Josef jeden begrüßte, der zu ihm kam, so auch mich. Und was hat er gemacht? Nicht viel. Ich musste mich leicht gebeugt vor einen Tisch stellen, mit den Händen abstützen und mit einem Bein vor und zurück schwingen, während er mir mit dem Daumen ins Kreuz drückte – schon war der Schmerz weg. Es war eine Sache von wenigen Minuten.
Natürlich war ich froh, meine Schmerzen los zu sein und wieder gerade gehen zu können, aber ich war auch neugierig. »Wie hat er das wohl gemacht?«, fragte ich mich, und ihn fragte ich: »Kann man das lernen?«
Er sagte nur: »Du brauchst das nicht zu lernen, du kannst es.« Immerhin erfuhr ich noch, dass er selbst diese Griffe vor langer Zeit einer alten Bäuerin abgeschaut hatte, einer einfachen Frau, die immer in seine Stallungen gekommen war, um das Vieh zu behandeln, und die ab und zu auch einen Knecht oder eine Magd mitbehandelt hatte – Leute, die keine Zeit und wahrscheinlich auch kein Geld hatten, um wegen jedem Zipperlein zum Arzt zu gehen. Doch diese Frau hatte ich nicht mehr kennen gelernt. Seit meiner Kindheit behandelte der Müller Josef ab und zu Leute aus dem Dorf, vielleicht einen oder zwei Menschen im Monat.
Früher hatte ich mitgelacht, wenn andere sich über ihn lustig machten. Und natürlich machten sich viele über ihn lustig, die Jungen und Gesunden vor allem, die überhaupt keine Ahnung hatten, was Rückenschmerzen sind. Jetzt bewunderte ich ihn irgendwie, und es reizte mich, mehr über seine Methode zu erfahren. Also ging ich ein paar Tage nach meiner wunderbaren Heilung noch einmal zu ihm und brachte zum Dank eine Flasche Wein mit, aber viel mehr an Kontakt kam leider nicht zustande, weil der Müller Josef schwer krank war. Vier Wochen später lag er im Koma, und acht Wochen später war er tot. Ich musste mir die Methode also selbst erarbeiten – mehr durch Probieren als durch Studieren.
Meine Frau war meine erste Patientin. Sie litt seit etwa 15 Jahren unter Kopfschmerzen. Sämtliche Behandlungen waren bisher ohne Erfolg geblieben. Ein Professor aus Ravensburg hatte anhand eines Röntgenbildes festgestellt, dass es wohl an zwei Halswirbeln liegen müsse, deren Querfortsätze »zu lang« seien, sodass sie auf den Nerv drückten. Er schlug eine Operation vor, doch alles, was er darüber sagte, klang so kompliziert und abschreckend, dass wir das Gefühl hatten, nichts mehr verlieren zu können. Also beschloss ich, meine Frau so zu behandeln, wie der Müller Josef mich behandelt hatte. Dabei ging ich ganz instinktiv vor. Ich ertastete die beiden Querfortsätze mit den Fingern und drückte ganz vorsichtig, bis ich das Gefühl hatte, dass sie gleichmäßig saßen. Es funktionierte. Die Kopfschmerzen meiner Frau waren weg und sind seitdem auch nicht wiedergekommen.
Wenige Wochen später war unsere Nachbarin dran. Sie lebte allein und war immer zu uns zum Milchholen gekommen, aber irgendwann kam sie nicht mehr. Also gingen wir zu ihr rüber, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung war. Sie lag im Bett und konnte sich nicht mehr rühren. Das ganze Bein tue ihr weh, klagte sie, und sie könne es überhaupt nicht mehr belasten. Ob ich mal nachschauen dürfe, fragte ich, denn die erfolgreiche Behandlung meiner Frau hatte mich so angespornt, dass ich dachte, ich könne vielleicht auch hier helfen. Eins sah ich auf den ersten Blick: Das schmerzende Bein war etwa fünf Zentimeter länger als das andere. Die Nachbarin wusste das nicht nur, sondern erzählte auch, dass sie wegen genau dieses Problems schon seit einem Jahr bei einem Arzt in Behandlung sei. Sie hatte Spritzen und Bestrahlungen bekommen, aber keine dieser Behandlungen war sonderlich erfolgreich gewesen.
Nach meiner Einschätzung war das schmerzende Bein im Hüftgelenk ausgerenkt. Was rausgeht, muss auch wieder reingehen, dachte ich mir und ging wieder ganz instinktiv vor. Ich hob das Bein an und schob es mit einer natürlichen Bewegung, also mit einer Bewegung, die das Bein unter normalen Umständen ganz von selbst macht, in Richtung Hüftgelenk. Dabei machte ich mir keine Gedanken über Anatomie und darüber, ob das so überhaupt funktionieren kann, sondern ging, wie gesagt, ganz instinktiv vor. Ich wollte, dass die Frau wieder schmerzfrei gehen konnte, und sie wollte das auch – nicht mehr und nicht weniger. Nach dieser Aktion waren beide Beine wieder gleich lang. Zwei Stunden später rief uns die Frau aus dem Fenster zu, sie könne jetzt wieder laufen, die Schmerzen seien weg und ich solle mir die Sache morgen noch einmal anschauen. Alles war wieder gut, und die Nachbarin ist danach noch bis ins hohe Alter jeden Tag zur Kirche gegangen – einen Kilometer über den Berg hin und genau den gleichen Weg wieder zurück.
Nach und nach behandelte ich immer mehr Menschen, die irgendwelche Probleme mit der Wirbelsäule hatten. Meist war ein Bein länger als das andere, und die Ursache dafür war in einem ausgerenkten Hüftgelenk zu suchen – wie bei unserer Nachbarin. Jeder Mensch, jede Behandlung, jeder Erfolg machte mir Mut, weiterzumachen und immer mehr dazuzulernen. Bald entdeckte ich, dass sich Menschen mit Gelenkproblemen aber auch durchaus selbst helfen können. Gemeinsam mit den Betroffenen probierte ich Übungen und Griffe aus, die sie zu Hause selbst anwenden konnten – und die Versuche gelangen. Nun lag die Nachbehandlung in der Hand der Genesenden, und sie waren nicht mehr von mir abhängig.
Mit der Zeit bekam ich immer mehr Rückmeldungen von Menschen, deren Wirbelsäule ich behandelt hatte. Sie behaupteten, nach meiner Behandlung seien plötzlich auch ihre Herzschmerzen verschwunden oder sie könnten jetzt wieder schärfer sehen, mit der Verdauung klappe es besser und vieles mehr. Das veranlasste mich, nun doch das eine oder andere Buch zu lesen und mich auch theoretisch mit der Wirbelsäule zu beschäftigen. Bei meiner Suche stieß ich unter anderem auf das Buch des amerikanischen Arztes und Heilers J. V. Czerny, der lange in China gelebt und sich dort auch mit der einheimischen Medizin beschäftigt hatte: Akupunktur ohne Nadeln. Czerny schreibt unter anderem über die Verbindung zwischen Meridianen und Wirbelsäule und erklärt, warum beispielsweise ein schmerzender großer Zeh ein Hinweis darauf sein kann, dass der siebte Halswirbel verschoben ist. Es gibt aber noch viele andere Zusammenhänge zwischen Wirbeln und Organen, die ich selbst erst nach und nach kennengelernt habe. Dabei und beim Erwerb von noch mehr theoretischem Wissen über die Wirbelsäule hat mir vor allem ein Mann sehr geholfen: Dr. med. Thomas Hansen.
Seine Bekanntschaft machte ich im Jahr 1985. Dr. Hansen, der früher als Chirurg und Orthopäde in Bremen niedergelassen war, hatte seine Praxis aufgegeben und in Markt Rettenbach, zwischen Memmingen und Kaufbeuren, ein Haus für Gesundheit eröffnet, wo auch ganzheitliche Heilweisen praktiziert wurden. »Wenn man’s im Kreuz hat oder in den Gelenken«, hörte er von den Leuten im Ort, »muss man zum Dorn gehen.« Bald fand er heraus, dass der Dorn »ein medizinischer Laie« war, wie er es nannte, aber das, was er von den Leuten gehört hatte, interessierte ihn so, dass er wissen wollte, was es damit auf sich hatte. Er und seine Ehefrau hatten Rückenprobleme und haben sich von mir behandeln lassen. Anschließend beschloss Dr. Hansen, Seminare über meine Methode zu veranstalten – und die sollte ich halten, aber bitte »mit Fundament«. Also versorgte er mich mit medizinischer Literatur und klärte mich auch darüber auf, dass ich den Leuten keineswegs auf die Bandscheiben drückte, wie ich bisher immer gedacht hatte, sondern auf die Dornfortsätze der Wirbel. Erst jetzt erkannte ich, was für ein Laie ich war. Und trotzdem hatte meine Methode funktioniert!
Ich hielt also Seminare, die Leute kamen, und viele von ihnen verstanden die Methode ebenso intuitiv, wie ich damals das Wenige verstanden hatte, was...