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E-Book

Die Weiße Rose

AutorHarald Steffahn
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644400931
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Die Weiße Rose gehörte als Sinnbild des unerschrockenen Gewissens unter der Diktatur zu den stärkeren Manifestationen des Widerstands im Dritten Reich. Harald Steffahn zeichnet den Weg der Münchener Studenten-Opposition nach, und er beschreibt die biographischen Voraussetzungen ihrer wichtigsten Repräsentanten. Im Mittelpunkt steht die Lebensgeschichte der Geschwister Hans und Sophie Scholl. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Harald Steffahn wurde 1930 in Berlin geboren. 1949 bis 1951 Volontariat bei einer Hamburger Tageszeitung. 1951 bis 1959 Studium der Geschichte und Politischen Wissenschaften in Hamburg und Berlin. Promotion zum Dr. phil. Journalistische Berufsstationen «Spiegel»-Archiv, Deutsche Presse-Agentur, «Die Zeit». Seit 1975 selbständig als Journalist und Schriftsteller. 2017 erhielt er den Internationalen Albert Schweitzer Preis. Harald Steffahn starb im April 2018 in Hamburg. Zu seinen wichtigsten Titeln gehören die Rowohlt Monographien «Albert Schweitzer» (rm 50263, 19. Aufl. 2014); «Adolf Hitler» (rm 50316, 14. Aufl. 2010), auch übersetzt ins Norwegische, Tschechische, Chinesische, Japanische, Koreanische; «Die Weiße Rose» (rm 50498, 9. Aufl. 2011); «Stauffenberg» (rm 50520, 5. Aufl. 2014); sowie «Das Albert Schweitzer Lesebuch» im Verlag Beck (5. Aufl. 2011).

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Leseprobe

Enthusiasmus und Ernüchterung


Jahrzehntelang schon wurde das Land von der Jugend erwandert und entdeckt, zog sie «Aus grauer Städte Mauern» mit neuromantischer Sehnsucht und Naturliebe hinaus, weg von Geschäftigkeit, Materialismus, Zerstreuungssucht. Die Jugendbewegung war aufgesplittert, einig nur im antizivilisatorischen Protest. Sie suchte eigene Werte und eigenen Lebensstil. Selbsterziehung, Selbstverantwortung, Gemeinschaft, Einfachheit waren tragende Gedanken; Fahrt und Lager, Tracht und Brauchtum mit klangvollen Liedern waren ihr schmückendes Beiwerk. Im Gefühlsklima der Jugendbewegung lag vieles, was sie für den Nationalsozialismus anfällig machte. In den wirklichkeitsflüchtigen Wesenszügen beider bestanden Gemeinsamkeiten. Von der Betonung des Heimatlichen war es nicht weit zu Blut und Boden, von der Vaterlandsliebe nur ein geringer Schritt zur Heiligung der Nation, die Kameradschaft war die kleine Schwester der Volksgemeinschaft und das Führerprinzip mündete direkt in den Führerkult.

Inge Scholl erinnert sich an die Faszination, die auf sie und die Geschwister von den marschierenden Kolonnen der Hitler-Jugend ausging «mit ihren wehenden Fahnen, den vorwärtsgerichteten Augen und dem Trommelschlag und Gesang. War das nicht etwas Überwältigendes, diese Gemeinschaft? So war es kein Wunder, daß wir alle, Hans und Sophie und wir anderen, uns in die Hitler-Jugend einreihten … Wir liefen lange und anstrengend, aber es machte uns nichts aus; wir waren zu begeistert, um unsere Müdigkeit einzugestehen. War es nicht großartig, mit jungen Menschen, denen man sonst vielleicht nie nähergekommen wäre, plötzlich etwas Gemeinsames und Verbindendes zu haben? Wir trafen uns zu den Heimabenden, es wurde vorgelesen und gesungen, oder wir machten Spiele oder Bastelarbeiten. Wir hörten, daß wir für eine große Sache leben sollten. Wir wurden ernst genommen, in einer merkwürdigen Weise ernst genommen, und das gab uns einen besonderen Auftrieb. Wir glaubten, Mitglieder einer großen Organisation zu sein, die alle umfaßte und jeden würdigte, vom Zehnjährigen bis zum Erwachsenen. Wir fühlten uns beteiligt an einem Prozeß, an einer Bewegung, die aus der Masse Volk schuf. Manches, was uns anödete oder einen schalen Geschmack verursachte, würde sich schon geben, so glaubten wir.»

Und weil sie «mit Leib und Seele dabei» waren, verstanden sie zunächst nicht, dass der Vater grollend abseitsstand und sich zu Ausrufen verstieg wie: «Glaubt ihnen nicht, sie sind Wölfe und Bärentreiber, und sie mißbrauchen das deutsche Volk schrecklich.» An seinem Vorauswissen und seiner Unversöhnlichkeit prallten auch Gegenargumente ab wie jenes, «daß Hitler ja sein Versprechen gehalten habe, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen». Das bestreite niemand, aber er habe die Kriegsindustrie angekurbelt; es geschehe ja nicht allein mit Hilfe der Friedensindustrie, wofür eine Diktatur alle Mittel hätte; im Übrigen sei der Mensch nicht wie das Vieh mit voller Futterkrippe zufrieden. Er brauche zum Leben und Atmen auch die freie Meinung, den ungeschmälerten eigenen Glauben, und diese Grundrechte suche man zu unterdrücken.

Das alles verfing nicht bei den jungen Scholls. Überzeugt, einer großen Idee zu dienen, widerstanden sie solchen Anfechtungen umso leichter, als wir uns die Ideenverbreiter ja nicht einfach als Wölfe im Schafspelz vorzustellen haben. Die jugendlichen HJ-Führer (nach dem Grundsatz, Jugend werde von Jugend geführt) wirkten vielfach überzeugend, weil selber ergriffen. Sogar Baldur von Schirach, bei Machtübernahme Hitlers erst 25 Jahre alt und somit der Jüngste der NS-Größen, vermochte mit seinem Organisationstalent die Verführungskulissen der gewaltigen Aufmärsche, Riesenkundgebungen und des Farbengepränges so umnebelnd nur zu errichten, weil er den verkündeten Idealen hingegeben glaubte und sich vom eigenen Schwung mitreißen ließ. Seine Hymnen, billig in der Substanz, von anderen aber eingängig in Töne gesetzt, liehen der persönlichen Empfindung getreulich Ausdruck:

Wir marschieren für Hitler durch Nacht und Not

mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot

– wobei der Verlust an Freiheit im überlieferten Sinn gar nicht gesehen wurde, von vielen auch später nicht.

 

Hitler sah in der Jugend im Grunde nur das nutzbare Material für seine Eroberungspläne, missbrauchte also die abgöttischen Huldigungen und hinterging die ihm dargebrachte aufrechte Gesinnung. Schirach erkannte rückschauend Mitschuld daran an, und seine Analyse sagt auch etwas zum Verständnis der uns beschäftigenden Zusammenhänge von deutschem Verhängnis und Leid:

«Die deutsche Katastrophe wurde nicht allein durch das bewirkt, was Hitler aus uns gemacht hat, sondern auch durch das, was wir aus ihm gemacht haben. Hitler kam nicht von außen, er war nicht, wie viele ihn heute sehen, die dämonische Bestie, die die Macht an sich riß. Er war der Mann, den das deutsche Volk wollte und den wir selbst durch maßlose Verherrlichung zum Herrn unseres Schicksals gemacht haben. Diese grenzenlose, fast religiöse Verehrung hat in Hitler selbst den Glauben gefestigt, daß er mit der Vorsehung im Bunde sei.»

Wenn hier Erklärungsgründe liegen mögen für seine – teils schon mitgebrachte und sich zunehmend steigernde – Gewissheit, zum Werkzeug der Geschichte und zu ihrem Vollstrecker ausersehen zu sein, was namentlich für die Verbrechen an den Juden vielfältig belegbar ist, dann handelte er auch bei der entschlossenen Abwehr gegen jedwede Rebellion ganz aus dem Bewusstsein der Unersetzbarkeit. Die opferbereiten Gewissen der Widerständler trafen auf eine «gewissensreine» Gegenkraft. Diese Tatsache schwächt nicht den Kontrast von Gut und Böse, gibt ihm im Gegenteil die besondere Schärfe und Kompromisslosigkeit.

Bei den Halbwüchsigen im Hause Scholl, bei Hans vornehmlich, spielten in der damaligen Lebensphase natürliche Absetzbemühungen gegenüber der väterlichen Autorität mit hinein. Was nur wie ein weltanschaulicher Gegensatz aussehen mag, war auch Ablöseprozess. Umso weniger fanden Robert Scholls Unheilswarnungen Gehör. Allmählich aber gelang es doch: indem die Hitler-Jugend selbst den Boden dafür bereitete.

Da war zum Beispiel Sophies jüdische Mitschülerin Luise Nathan. Sie durfte nicht Mitglied im «Bund Deutscher Mädel» sein, im BDM. Denn es galt, was schon das Parteiprogramm der NSDAP von 1920 verkündet hatte: «Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.» Aufgrund der rassistischen Fiktion wurde den deutschen Juden Deutschtum abgesprochen, obwohl Hitlers Behauptung von 1919, wonach «das Judentum unbedingt Rasse und nicht Religionsgenossenschaft» sei», sich an keinem anthropologischen Bestimmungsmerkmal erhärten ließ. In der Weise widerlegte auch Fräulein Luise die Hitler’sche Irrsicht, sodass Sophie Scholl sich erregte: Warum darf Luise, die blonde Haare und blaue Augen hat, nicht Mitglied sein, während ich mit meinen dunklen Haaren und dunklen Augen BDM-Mitglied bin?

Darauf gab es keine überzeugende Antwort. Und weil die Rassenlehre des Dritten Reichs wissenschaftlich und bürokratisch untauglich war, konnten die Nürnberger Gesetze vom September 1935 nur hilflos auf die «Glaubensgenossenschaft» als Nachweis für die Zugehörigkeit zum Judentum zurückgreifen.

Dem Fähnleinführer Hans Scholl blieben Ernüchterungen ebenfalls nicht erspart. Zur geistigen Uniformierung der HJ gehörte auch das einheitliche Liedgut. Etwa Volkslieder fremder Kulturen zur Gitarre zu singen, wie Hans es im Kameradenkreis gern tat, wurde untersagt. Genauso erging es ihm mit «undeutscher» Literatur, beispielsweise mit den «Sternstunden der Menschheit» seines Lieblingsdichters Stefan Zweig. Wusste er denn nicht, dass auch dessen Schriften am 10. Mai 1933 in dem gewaltigen Autodafé aus Papier den Ketzertod geistiger Irrlehren erlitten hatten?

Trotz erster Gläubigkeitseinbußen war Hans stolz, im September 1935, knapp siebzehnjährig, ausgewählt zu sein, die Fahne des Ulmer HJ-Stammes nach Nürnberg tragen zu dürfen, zum Reichsparteitag, der in diesem Jahr den Beinamen «Parteitag der Freiheit» erhielt. Die Juden machte er ganz besonders unfrei.

Nürnberg. Nirgends sonst, nicht einmal in Berlin, verstand es das Regime, die rednerische Willensübertragung durch den Führer und Reichskanzler derart wirksam in Szene zu setzen. Hier wurden die massenatmosphärischen Gefühlskontakte zu einer monumentalen Liturgie der Macht gestaltet: mit disziplinierten Hunderttausendschaften, mit nächtlichen Vereinigungsfeiern unter Lichtdomen, wobei der überhöhte Eine im Scheinwerferzirkel seine Beschwörungsmagien zelebrierte.

Entsprechend die Wirkung. Ein neugieriger, zugleich distanzierter Beobachter, der weltanschaulichen Ansteckung unverdächtig, gibt seine Eindrücke wieder, der einstige französische Botschafter André François-Poncet: «Aber erstaunlich und nicht zu beschreiben war die Atmosphäre der allgemeinen Begeisterung: ein eigenartiger Rausch, von dem Hunderttausende von Männern und Frauen erfaßt wurden, eine romantische Erregung, fast mystische Ekstase, eine Art heiligen Wahns.»

Umso bemerkenswerter, dass ein sichtbar enttäuschter Hans Scholl aus Nürnberg, aus dem «Medina neben dem nationalsozialistischen Mekka München», zurückkehrte. Ins Land der Franken fahren, wie es in einem der...

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