2. NICK – EINE TOTGEBURT
Wenn ich etwas von Anfang an konnte, dann war es das: Aller Welt von meinen Problemen zu erzählen, auch wenn’s keiner hören wollte. Hauptsache, ich trug das Belastende nicht mehr allein in mir herum. Ein sehr einschneidendes Erlebnis war in dieser Hinsicht die Totgeburt meines Kindes gewesen. Zwei Kinder hatte ich schon, einen Sohn und eine Tochter, Maurice und Raffaella. Von ihrem Vater hatte ich mich getrennt. Nun hatte ich Jürgen kennengelernt, und wir wünschten uns nichts sehnlicher als ein gemeinsames Kind. Maurice und Raffaella hatten es beide nicht eilig gehabt, den Mutterleib zu verlassen, anscheinend fanden sie es dort recht gemütlich. Als Maurice zwei Wochen über der Zeit war, meinte mein damaliger Arzt: »Na Mädel, hast dich wohl verrechnet. Bist ja auch noch jung.« Ich war damals einundzwanzig, jung, das stimmte, aber es konnte nicht sein, dass ich mich verrechnet hatte. Ich wusste immer ganz genau, wann ich meine Tage hatte. Selbstbewusst protestierte ich: »Das kann nicht sein, ich hab genau nachgezählt, ich bin jetzt vierzehn Tage überfällig.« Missmutig schaute mich der Halbgott in Weiß an – vor gut fünfunddreißig Jahren wurden Ärzte noch so gesehen –, er duldete keinen Widerspruch. Doch bei dem Kind, dem Kind von Jürgen und mir, sah es genau anders aus. Ich betete um jede Woche, die es in meinem Körper blieb, sich weiter bis zur eigenen Lebensfähigkeit entwickelte. Und auch jetzt hatten mich Ärzte beruhigen wollen, doch ich hatte inzwischen gelernt, nicht jedem »Halbgott« zu vertrauen. Ich musste die Sache selbst in die Hand nehmen.
Bei Maurice hatte ich es kurz vor der Geburt auch schon gemacht. Eine Idee war schneller geboren als mein Sohn: Ich entschloss mich kurzerhand, eine Wandertour zu machen, hoch einen Berg hinauf, rund fünf Stunden, dann wieder hinunter, vielleicht rutschte das Baby dann Richtung Muttermund. Das Ergebnis war frustrierend. Trotz aller körperlichen Anstrengung, trotz aller Bewegung passierte gar nichts. Erst einige Tage später platzte die Fruchtblase. Bei Raffaella war es nicht viel anders gewesen. Immerhin merkten in diesem Fall die Ärzte, dass etwas dann doch nicht stimmte, sie blieb einfach zu lange in mir drin. Ein Kaiserschnitt wurde notwendig, und der operierende Gynäkologe fragte mich: »Ähm, sind Sie vielleicht eine Sportlerin aus dem Osten? Sie haben so eine Muskulatur ...« Entgeistert sah ich den Arzt an, ich verstand nicht, was er mir damit sagen wollte. Er begriff und erklärte: »Bei einem solchen Muskelaufbau, wie Sie ihn haben, will kein Kind rauskommen. Es hat dazu gar nicht die Kraft.« Es war wenige Jahre nach der Wende, und nun war ich auf einmal eine Hochleistungssportlerin aus der DDR. Ohne Sport konnte ich mir tatsächlich kein Leben vorstellen, aber nie und nimmer hätte ich mich als Hochleistungssportlerin bezeichnet, und zur Welt kam ich in Köln – das war nicht unbedingt Osten. Oder doch?
Was war nur los mit diesem dritten Kind?
Es war nicht das erste Baby von Jürgen und mir. Ich war Ende zwanzig, als wir uns ineinander verliebten. Dieser große blonde Mann, attraktiv und von sehr besonnener Art, war so ganz anders als der Vater meiner beiden ersten Kinder. Ich war sehr bald sicher, dass ich mit diesem Mann Pferde stehlen konnte, also alt werden wollte. Und so heirateten wir. 1993. Inzwischen war ich Mitte dreißig, und da ich immer einen Haufen Kinder wollte, war der Wunsch nach einem weiteren Kind für uns selbstverständlich. Nicht so selbstverständlich war das, was dann geschah, nachdem wir gemeinsam beschlossen hatten, unsere Familie zu vergrößern. Es dauerte nicht lange, und ich wurde schwanger. Große Freude, großes Glück. Aber schon bald verlor ich das Kind. Große Trauer. Doch kurz danach war ich wieder in anderen Umständen, wie es damals so schön hieß. Und erneut passierte das Furchtbare, ich verlor das Kind. Ich gab nicht auf, letztlich hatte ich insgesamt neun Fehlgeburten. Wie war das möglich? Es irritierte mich maßlos, denn ich hatte schon zwei gesunde Kinder auf die Welt gebracht. Waren meine Eizellen irgendwie allergisch auf Jürgens Samen? Das war mein erster Gedanke, es gab dieses Phänomen, und es schien eine Erklärung zu sein für das, was ich gerade durchmachte.
Schließlich war ich abermals schwanger, doch dieses Mal hatte ich es bis zum fünften Monat geschafft. Alles schien gut zu verlaufen, und so wagten Jürgen und ich es, endlich in den Urlaub zu fahren. Doch bei unserer Rückkehr hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich fühlte mich nicht wohl, dabei hatten wir doch gerade erst Ferien gemacht. Um meinem Unwohlsein auf den Grund zu gehen, suchte ich am nächsten Morgen meinen Frauenarzt auf. Damals lebten wir im Allgäu, in der Nähe von Memmingen. Der Gynäkologe untersuchte mich mit Ultraschall, und dabei stellte er etwas Schreckliches fest. Fast tonlos sagte er: »Ihr Baby ist nicht mehr am Leben, es gibt keine Herztöne von sich.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben. Das konnte nicht sein, auch wenn ich mich nicht mehr genau erinnern konnte, wann ich das Kind in mir gespürt hatte. Hatte ich es überhören wollen? Noch ganz benommen von dieser Nachricht und meinem Gedankenwirrwarr fragte ich: »Und nun?«
Bei aller Verzweiflung, die sich in mir ausbreitete, begriff ich doch: Ich hatte ein totes Kind im Bauch, und dort konnte es nicht bleiben. Doch wie kam es aus mir heraus, es war doch schon so viele Monate alt? Durch eine Ausschabung? Laut stellte ich diese Frage.
»Für eine Ausschabung ist das Kind zu groß«, bemerkte der Arzt, als er sich mit seiner Hand durch das braune Haar fuhr, einige Silberfäden bemerkte ich trotz der schwierigen Situation; vielleicht aber auch gerade wegen ihr. »Sie müssen es normal zur Welt bringen.«
Ich musste schlucken. Normal zur Welt bringen – was war daran normal, ein totes Kind zu gebären? Es war das Unnatürlichste, was ich mir vorstellen konnte.
»Aber wie geht das ohne Wehen?«
»Die werden künstlich in Gang gesetzt. Es tut mir leid.«
Aus der Arztpraxis wurde ich direkt in ein Krankenhaus transportiert. Geburtsstation. Es war kaum zu ertragen. Da lag ich in einem Klinikbett, wartete nach der Spritze auf das Einsetzen meiner Wehen – und in meiner unmittelbaren Umgebung schrien die werdenden Mütter, die pressten und pressten und meinten, sie könnten nicht mehr, um dann doch zu können und ein gesundes Baby zu gebären. Wie verrückt war das denn? Mich selbst hatte man nicht in den Kreißsaal geschoben, das hatte man dann doch als nicht richtig empfunden, aber ich befand mich in einem kleinen Raum direkt daneben. Er war so klein, dass mehr als das Bett darin kaum Platz hatte, die Tür stand deshalb auch offen. Wann wirkte denn endlich die Wehen-Spritze? Es dauerte endlos lange. Und all die gesunden Kinder, die ihre Lungen testeten und laut kundtaten, dass es ihnen gar nicht gefiel, so plötzlich selbst atmen zu müssen, sie nagten mit ihrem kräftigen Gebrüll sehr an meiner Seele.
Eine Hebamme mit mausgrauen Augen erschien und schaute besorgt auf ihre Uhr. »Sie müssen herumlaufen, laufen und laufen, sonst wird das nichts.«
Wahrscheinlich hatte sie in meiner Akte gelesen, dass ich ein Muskelpaket bin, ich, die einstige DDR-Sportlerin.
Mitten im Laufen erklärte sie: »Wenn das Kind jetzt nicht bald kommt, müssen wir operieren. Sonst wird es zu gefährlich.«
Nun hatte ich genug. »Es mag ja sein, dass ihr hier alle hektisch werdet, was mich betrifft, aber wenn ihr nicht die Geduld habt, ich habe sie.« In meiner Wut hatte ich das Sie vergessen. »Das Kind in mir ist bestimmt schon zwei Tage tot, und jetzt möchte ich es so zur Welt bringen, wie ich es will. Ich laufe hier noch ein paar Stunden herum, und sollte bis heute Abend nichts passiert sein, können wir immer noch eine Entscheidung über eine Operation treffen.«
»Aber es könnte auch für Sie gefährlich werden ...«
»Nichts da«, unterbrach ich sie. »Sie haben doch gehört, was ich gesagt habe.«
Es war mir wichtig, dem Kind, das nicht mehr am Leben war, trotzdem diese Ruhe zu geben. Wenn seine Seele noch ein wenig Zeit brauchte, um sich von mir zu verabschieden, dann sollte es diese haben. Diese Gelassenheit wollte ich für das Kind aufbringen. Es hatte schon genug durchgemacht.
Die Hebamme schaute mich aus ihrem fahlen Gesicht erstaunt an. Mit einem derartigen Widerstand hatte sie offensichtlich nicht gerechnet. Eher mit einer Frau, die sich in ihr Schicksal ergibt. Ich aber wehrte mich, verkündete deutlich und mit Nachdruck, was ich nicht wollte. Und schon gar nicht wollte ich mir Angst einjagen lassen. Das funktionierte nicht bei mir, diese Taktik hatte keine Chance. Ich wusste selbst am besten, wann ich Angst haben musste, das war wie ein Instinkt, der mir sagte, dass ich zu handeln hatte. In dieser Situation hatte sich meine Angst aber nicht gemeldet. Es ging einzig und allein darum, dem Kind Zeit zu geben.
Und ich hatte richtig entschieden. Wir mussten langsam voneinander Abschied nehmen.
Schließlich merkte ich, dass sich etwas tat, vorsichtig ging es los. Ich musste pressen, so wie alle anderen werdenden Mütter pressten, und Arzt und Hebamme standen um mich herum wie Zuschauer, die darauf warteten, dass endlich etwas geschah. Und dann wurde Sätze geäußert, die ich nie vergessen werde, ich hörte auf einmal, wie gesagt wurde: »Können wir jetzt nicht mal daran ziehen, damit wir die Sache hier endlich beenden können? Es ist doch sowieso schon tot.«
»Ist das passiert, oder denke ich nur, dass es passiert ist?« Ich konnte das nicht stehen...