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E-Book

Fliegen kann jeder

Ansichten eines Widerborstigen

AutorGünther Maria Halmer
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783641163891
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Günther Maria Halmers Weg zum Ruhm war steinig. Was er auch anfing, er flog raus. Bis er seine Bestimmung als Schauspieler fand. Seine Rollen als »Tscharlie« in Helmut Dietls »Münchner Geschichten« und als Anwalt Abel machten ihn berühmt und führten zu Engagements an der Seite internationaler Stars wie Meryl Streep, Omar Sharif oder Ben Kingsley. Halmer erzählt unterhaltsam vom Auf und Ab in seinem Leben. Sein Fazit: Man kann oft hinfallen, und man kann immer wieder aufstehen. Letztendlich sind es nicht die Siege, sondern die Niederlagen, die uns im Leben voranbringen - und am Ende unsere Erfolge ausmachen.

Günther Maria Halmer, geboren 1943 in Rosenheim, ist als 'Tscharlie' in Helmut Dietls Kultserie Münchner Geschichten unvergessen, schrieb aber auch mit seiner Rolle als Anwalt Abel u.v.a. deutsche Fernsehgeschichte. Zudem war der Vater zweier Söhne auch als Theaterschauspieler und bei Hollywoodproduktionen an der Seite von Meryl Streep, Maximilian Schell, Omar Sharif, Laurence Olivier oder Ben Kingsley zu sehen.

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Leseprobe

Leben muss wehtun, sonst ist es nicht richtig

Bis zu dem Tag der Aufnahmeprüfung in der Falckenberg-Schule war mein Leben gepflastert gewesen mit Niederlagen, Absagen und nicht bestandenen Prüfungen. Erfolge konnte ich nicht vorweisen. Nur einmal war ich in der A-Jugend Stadtmeister von Rosenheim im Hundertmeterlauf geworden. Das stand sogar im Rosenheimer Stadtanzeiger. Ganz klein. Die Urkunde habe ich als Beweis aufgehoben.

Seit meiner Kindheit hatte ich eigentlich nur Probleme. Im Kindergarten konnte ich mich nicht anpassen, in der Volksschule musste ich immer wieder wegen Störung des Unterrichts aus dem Klassenzimmer, und im Gymnasium kannte ich vor allem den gelangweilten Gesichtsausdruck der Lehrer, wenn sie die Schulprüfungen zensiert zurückgaben.

»Halmer, Fünf.«

Was sonst.

Manchmal ein erstaunter Blick: »Halmer, Drei! Was war los, haben Sie abgeschrieben?«

Mein Mathematiklehrer, ein baumlanger, arroganter Mann mit buschigen Augenbrauen, der nur Akademiker auf Augenhöhe akzeptierte, rief manchmal im Unterricht: »Ich brauche jetzt einen Dummen, Halmer, kommen Sie an die Tafel.« Aus Rache machte ich dann aus diesem Gang zur Tafel eine Clownnummer, sodass die Klasse vor Vergnügen grölte. Aber dieses Gelächter machte mich nicht glücklich. Ich trug und ertrug es wie eine Narrenkappe. Ein trauriger Clown. Von außen betrachtet, wie man jetzt sagt, cool, aber wie es drinnen aussah, ging niemanden was an. Nicht die Lehrer und auch nicht meine Eltern.

»Der Halmer wieder!«, hieß es früher oft. Dieser Ausruf erfolgte immer in einem besonderen, scheinbar nur für mich reservierten Tonfall, irgendwo zwischen genervt und resigniert, und er war meist begleitet von einem vielsagenden Augenrollen. Ich fragte mich schon damals, was genau an meinem Charakter diese Reaktion hervorrufen mochte, und habe bis heute keine endgültige Antwort gefunden. Dabei habe ich immer Menschen beneidet, die mit sich und ihrem Leben konform sind, die Zufriedenen, die Authentischen, die im Bayerischen Fernsehen aus tiefster Überzeugung sagen: »I bin der Ludwig, und da bin i dahoam.« Mir war diese tiefe Verwurzelung mit der Heimat, dieses Sich-Wohlfühlen in seinem Leben nie gegeben. Ich war stets ein Skeptiker, ein Zweifelnder und ein Fragender. Geprägt von der Lust oder sogar dem Zwang zum Widerspruch, einem ewigen »Ja, aber«. Was jedoch machte mich zu diesem misstrauischen, widerborstigen, spröden Knochen, der ich bis heute bin?

Wenn ich versuchen soll, mein Wesen zu beschreiben, dann kommt mir ein Tannenbaum in den Sinn. Dicht und dunkelgrün, mit einem festen, etwas rauen Stamm. Immer ein bisschen zu ernst, auch wenn ein paar bunte Kugeln daran hängen. Mit Nadeln, die stechen. Keine Linde, unter deren Schatten man süße Träume träumt. Einen Tannenbaum kann man nur sehr schwer umarmen. Er bleibt allein, und wenn er sich doch mehr Nähe wünscht, wird er notwendigerweise enttäuscht werden. Oder enttäuschen. Ein Tannenbaum hat nicht nur Nadeln, er hat auch Wurzeln. Und dort muss ich ansetzen. Sie muss ich ausgraben in meinem Bemühen, Antworten zu finden. Also zurück. Weit zurück. Bis zum Anfang.

Mein Vater war ein Bauernsohn. Er stammte aus der Nähe von Sigmaringen und wuchs als jüngstes von sechs Kindern einer strenggläubigen Familie auf. Dort, im immer katholisch gebliebenen Teil von Schwaben, galt die Regel: Schaffe und bete. Als ich meine Großmutter zum ersten Mal besuchte, war ich vier, und ihre erste Frage an mich war: »Na, Büble, kannst du schon beten?« Spaß am Leben zu haben war nicht vorgesehen, und alles, was sich danach anhörte oder einfach nur »sinnlos« schön war, wie Musik, Tanz oder Kunst jenseits des Glaubens, war von vornherein suspekt. Leben muss wehtun, sonst ist es nicht richtig, und gegessen wird, was auf den Tisch kommt.

Meinem Vater war es nicht angenehm, an seine Herkunft erinnert zu werden. Er versuchte, alles Schwäbische, alles Bäurische in sich auszumerzen, trug elegante Hüte und goldene Uhren, sprach gewählt und mit gutem Ausdruck. Rein äußerlich hatte er nichts von einem schwäbischen Bauernbub an sich. Was ihm jedoch eingepflanzt worden war und was er, selbst wenn er gewollt hätte, nie losgeworden ist, ist eine rigorose, jedoch mitunter fast hilflos wirkende Härte, vor allem mir gegenüber, sowie der fromme Katholizismus seiner Familie, der ihm sicher nicht nur Zwang, sondern auch Halt war. Wenn der Papst in Rom auf dem Petersplatz seinen Segen urbi et orbi verkündete, kniete mein Vater überwältigt, mit feuchten Augen vor dem Fernsehgerät. Seine Erziehungsmethoden waren alttestamentarisch streng, so wie er es gelernt hatte. Körperliche Züchtigung war unverzichtbar, und neue, sanftere Erziehungsweisen lehnte er spöttisch als zu weich ab. Wie sollte man mit solchen »amerikanischen« Methoden aus einem Kind einen anständigen Menschen machen? Unmöglich. Einen Jugendlichen mit eigener Meinung konnte er nicht ernst nehmen. Woher willst du das wissen? Werde erst einmal so alt wie ich, dann erkennst du meine Weisheit.

Nun bin ich über siebzig Jahre alt, und noch immer warte ich auf die Erleuchtung, die mir mein Vater vorausgesagt hat. Zu meiner eigenen Überraschung entwickelte sich mit den Jahren jedoch ein gewisses Verständnis für meinen Vater, und das ist mehr, als ich lange für möglich gehalten hatte. Er war ein Produkt seiner Zeit. Gefangen in einem Leben, das er nicht gewollt hatte, aus Pflichtgefühl und religiöser Überzeugung gebunden an eine Frau, die er vermutlich nicht liebte, und schließlich auch noch gestraft mit einem Sohn, der seine Vorstellungen, was zu einem anständigen, erfolgreichen Leben gehört, partout nicht teilen wollte.

Es wurde in der Familie nie offen darüber gesprochen, aber ich habe aus manchen leise gemurmelten Gesprächen der Verwandten gehört, dass mein Vater ursprünglich Theologiestudent gewesen war. Wie damals üblich, durfte der jüngste Bub aus einer Bauernfamilie studieren, um Priester zu werden, damit die Familie einen Fürsprecher im Himmel hatte. Das Leben meines Vaters schlug jedoch einen für alle, wohl auch für ihn selbst, unerwarteten Haken. Auf Exerzitien in einem Kloster in Tirol lernte er meine Mutter kennen, eine äußerst warmherzige, liebevolle Frau, sieben Jahre älter als er. Sie wurden ein Liebespaar, heirateten 1938, und die Familie meines Vaters verlor leider den erwarteten priesterlichen Fürsprecher im Himmel.

In einem unserer seltenen vertrauten Gespräche erzählte mir mein Vater einmal, dass er an meiner Mutter ihre Güte, ihr großes Verständnis und ihr Mitgefühl für andere so geschätzt hat. Für einen jungen Mann, der aus einem so harten Leben kam wie er, verständlich, aber ob das für ewige Liebe reicht? Bis dass der Tod euch scheidet? Solche Fragen stellte man nicht. Ich kann also nur mutmaßen.

Die Ehe meiner Eltern blieb fünf Jahre kinderlos, bis meine Mutter mit siebenunddreißig Jahren, gegen den ausdrücklichen Rat der Ärzte, schließlich doch schwanger wurde. Man hatte ihr von einer Schwangerschaft dringend abgeraten, da ihre körperliche Konstitution sehr schwach war. Von ihrem achtzehnten Lebensjahr an hatte sie wegen Knochenmarktuberkulose zehn Jahre im Gipsbett und im Rollstuhl verbringen müssen. Eine Erstgeburt in diesem Alter war für sie daher ein doppeltes Risiko.

1943 war kein gutes Jahr, um Kinder zur Welt zu bringen. Der Zweite Weltkrieg tobte an allen Fronten, und in der Schlacht um Stalingrad verbluteten, verhungerten und erfroren Tausende von russischen und deutschen Soldaten. Am 31. Januar ergab sich General Friedrich Paulus, gegen Hitlers Willen, der russischen Übermacht. Am 2. Februar kapitulierte auch die 6. Armee. 90 000 deutsche Soldaten wurden gefangen genommen und nach Sibirien verschleppt. Am 18. Februar hielt Reichspropagandaminister Goebbels seine berüchtigte Sportpalastrede, die mit der Frage endete: Wollt ihr den totalen Krieg? Tausende von Frauen und Männern schrien hysterisch wie unter Hypnose: Jaaaaaaaa! Nur vier Tage später, am 22. Februar, wurden Sophie und Hans Scholl in München hingerichtet. In den Konzentrationslagern verloren Millionen von unschuldigen Menschen, Frauen, Männer, Kinder und Greise, unter unfassbar grausamen, demütigenden Bedingungen ihr Leben. In diesem für Deutschland und die ganze Menschheit so schwarzen Jahr, an einem kalten 5. Januar wurde ich in Rosenheim geboren. In einer dunklen Zeit, in der ein Menschenleben nichts bedeutete. Die Bedingungen waren also nicht die besten. Und dennoch: Meine Eltern waren glücklich.

An den Krieg habe ich nur wenige Erinnerungen. Einzig die Bombennächte stehen mir noch vor Augen, in denen wir in einem dunklen, engen Bunker hockten, eng zusammengepfercht mit vielen fremden, nach Schweiß und Angst riechenden Menschen. Meine Mutter erzählte mir später, dass ich immer wieder voller Panik »Bitte Entwarnung!« gerufen habe. Der Gedanke, dass dieser Ausruf zum Wortschatz eines kaum zweijährigen Knirpses gehört hat, sagt doch mehr darüber aus, was Krieg bedeutet, als vieles, was man sonst erzählen könnte. Meine Mutter blieb von da an bei Fliegeralarm in der Wohnung und versteckte sich mit mir todesmutig unter dem Schreibtisch. Auch dafür gilt ihr meine ewige Liebe.

Wir wohnten in der Frühlingstraße 36 in Rosenheim, in einer großen Altbauwohnung im ersten Stock, zusammen mit meinen Großeltern, den Eltern meiner Mutter. Ich erinnere mich an einen langen, fensterlosen Gang mit vielen Türen. Die rechte Seite ging zur Straße hinaus. Im Schlafzimmer meiner Großeltern brannte auf dem Nachttisch vor dem Foto eines mir unbekannten Mannes in Uniform immer eine Kerze. Es war mein Onkel Karl, der...

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