Zernikow
Er war kein Elefant, «Jumbo» war ein Bär aus Stoff. Die Mutter hatte ihn aus einem grauen Feldmantel geschneidert, mit Holzwolle ausgestopft und ihm mit weißen Wäscheknöpfen einen hellen Blick verliehen. Er war das große Weihnachtsgeschenk für den kleinen Wolf-Herman gewesen, das jüngste von uns sechs Geschwistern.
Daß es das letzte Weihnachten zu Hause in Zernikow sein würde, mit dem prachtvollen Tannenbaum, der bis zur hohen Decke reichte, konnte die Mutter beim Nähen damals nur ahnen. Vor allem unser Vater wußte, daß etwas Katastrophales auch für uns geschehen würde, nur noch nicht wann und wie. Das Foto, auf welchem der zweijährige Wolf, damals Bürschli genannt, glücklich strahlend den feldgrauen Jumbo in den Armen hält, wurde erst später mit der Unterschrift im Album «Weihnachten 1944, das letzte Mal in Zernikow» versehen. Erst mit dieser Unterschrift war es auch als das letzte Mal besiegelt. Doch weder Foto noch Beschriftung verraten, wie es weiterging.
Auf dem Bild ist der Stoffbär fast so groß wie das Kind, der Weihnachtsbaum größer als beide, der Raum größer als der Weihnachtsbaum. Beim Betrachten des Fotos erinnere ich mich daran, wie mein jüngster Bruder und ich einmal bei Tage im Weihnachtssaal allein waren. So etwas war vorher noch nie vorgekommen, daß Kinder in diesem festlichen Saal allein gelassen wurden. Ich solle vorsichtig sein und auf Bürschli gut aufpassen, hatte eine der Kinderschwestern beim Verlassen des Raumes noch gesagt.
Mir kam es vor, als seien wir in heiligen Gefilden. Nach einigem Bestaunen des Tannenbaums bis zu seinem Stern hoch oben unter der Decke des Saales betrachtete ich die Krippe unter dem Baum. Da war ein Häuschen aus Holz, mit Moos bedeckt, darin Maria und Josef mit dem Jesuskind, das auf echtem Stroh lag, die Strohhalme so dick wie Balken unter dem winzigen, rosa Kindchen. Vor der Krippe standen die Heiligen Drei Könige in ihren prächtigen Gewändern. Von so nah hatte ich diese magischen Figuren vorher noch nie betrachten können. Ich flüsterte ihnen etwas zu, um ein geheimes Gespräch zu versuchen. Aber da krabbelte Bürschli behende auf den Baum zu – bloß nicht in die Krippe hinein! –, erhob sich und faßte eine der allergrößten Silberkugeln, die unten am Weihnachtsbaum hingen. Er wollte mit der glitzernden Kugel spielen wie mit einem Ball. Dabei zerbrach sie in feine, spitze Scherben.
Wir waren sehr erschrocken, daß etwas so Feierliches, das offenbar auch besonders empfindlich war, in Scherben lag. Einen Moment wartete ich noch, ob nicht Engel vom Weihnachtsbaum herniederschweben, die Scherben wie mit einem Magnet anziehen und im Himmel wieder schön zusammenkleben würden. Aber die Engel könnten ja auch herunterkommen, um uns für dieses Vergehen zu strafen. Beim Gedanken an Strafe verwandelten sich die Engel schnell in Kinderschwestern, und Strafe würde bedeuten Kloppe, das heißt, den Hintern versohlt kriegen. Auch Bürschli hatte Angst, daß die Kinderschwestern die Scherben sehen könnten, daß wir beide Kloppe kriegen würden, er, als hätte er noch in die Hosen gemacht, ich, seine zwei Jahre ältere Schwester, weil sie nicht aufgepaßt hatte – egal warum: Alle würden Kloppe kriegen, sollte diese Untat entdeckt werden.
Bürschli stimmte meinem Rat zu, die silbernen Bruchstücke unter dem großen Teppich des Saals zu verstecken. Dabei verbot ich ihm aber zu helfen mit einem «Du bist noch so klein und zu ungeschickt, wenn du das anfaßt, kommt Blut aus deinen Fingern!». Vorsichtig schob ich Scherbe um Scherbe unter den dicken, dunkelroten Teppich, dabei den Blick zwischendurch auf die Tür gerichtet: Falls jemand hereinkäme und das Verstecken noch nicht beendet wäre, wollte ich schnell so tun, als würde ich beten. Gefaltete Hände haben nichts getan, die Kugel ist von selbst vom Himmel gefallen.
Niemand kam, und auch am Abend wurden die silbernen Weihnachtsscherben unter dem Teppich nicht entdeckt. Einige Wochen nach Weihnachten überkam mich aber doch noch einmal die Angst, die Scherben könnten zutage kommen, als der große Perserteppich aus dem Saal eingerollt wurde, um mit den Ahnenbildern aus der Kirche zusammen eingemauert zu werden. Die entblößten Parkettdielen wurden abgefegt, am Rande einer großen Fläche von Staub lag noch die inzwischen zu winzigen Silberstückchen zerriebene Weihnachtskugel. Sie wurde wie Staub mit weggefegt.
«Weihnachten 1944», das Foto mit Bürschli und Jumbo unter dem Weihnachtsbaum ist, soweit ich weiß, auch die letzte der schönen Aufnahmen, welche die Mutter von unserem Zuhause in Zernikow gemacht hatte. Wovon es kein Foto gibt, dazu habe ich auch keine datierten Anhaltspunkte zum Erinnern mehr. So muß ich mich nun an Bilder halten, die mir aus dem optischen Gedächtnis, wie von weither, von tief hinten im Kopf vor die geschlossenen Augen treten. Dabei tauchen auch vielerlei Eindrücke auf, die lange vor diesem Weihnachten liegen, Bilder aus dem Blickwinkel eines Kleinkindes, welche ein Kameraauge sowieso nicht einfangen kann.
Früh und prägend – der erste Eindruck des Kastanienlaubs. Daß mir dieses Bild überhaupt noch im Gedächtnis blieb, mag daran liegen, daß ich unter den beiden Kastanienbäumen hinter dem Gutshaus «das Licht der Welt» zum ersten Mal auch selbst erblickte. Unter das regendichte, schattenspendende Blattwerk der alten Kastanien wurden wir sechs Kinder der Reihe nach im Kinderwagen zur Mittagsruhe gelegt. Im Herbst geboren, im Frühjahr darauf die Blätter betrachtend, muß ich noch zu den Babys gehört haben, dem entspricht auch diese Erinnerung:
Muster, hell und dunkel ineinandergefächert, Blattgefieder wie große, dunkelgrüne Hände hoch oben, die Muster bewegen sich leicht, Schatten, Stille. Aber dann Blendung, die schönen Muster weg, Arme hochstrecken, um sie zurückzuholen, aussteigen und den Bäumen nachlaufen wollen, laufen unmöglich, weil festgegurtet, nur noch Schreien. Jemand kommt, Versuch zu sprechen: Die Bäume sollen doch nicht davonlaufen! Das unverständliche Gestammel wird auf hohen Rädern aus dem Sonnenlicht hinein ins Dunkel der Mauern geschoben.
Nach dem ersten Eindruck vom Sehen taucht die Erinnerung an schnelles und wendiges Laufen auf. Diese Erinnerung verbindet sich mit einem Engel aus Stein. Jahraus, jahrein stand er, ein Kind mit Flügeln, ohne selbst bei Hitze oder Sturm auch nur mit der Wimper zu zucken, ungerührt im Park. Wenn dann jedoch wir Kinder bis zum Taumeln im Kreis um ihn herumliefen, schien er virtuose Pirouetten auf seinem Sockel zu vollführen, als nähme er als Mittelpunkt des Kindervergnügens daran teil.
Ein solcher Engel aus Stein stand im Park von Zernikow. Es war eine Putte aus der Zeit des Rokoko. Die «Alte Labes»[1] hatte die kleine Figur von Potsdam nach Zernikow bringen lassen, als sie das Gut mit einem Park im englischen Stil umgab.
Mit dieser Rokokoputte verknüpfen sich auch Geschichten über die sagenhaften Feste des genußfreudigen Ehepaars von Labes. So erzählte unsere Mutter, während sie mit helfenden Frauen eine Tischdekoration arrangierte und eine große Schale mit Blumen füllte: «Ja, damals, bei der alten Labes waren die Tischdekorationen noch viel fabelhafter! Mitten in ein solches Blumenbukett wurde eine Putte plaziert. Aus dem Dorf wurde ein echtes Kind ausgeliehen, vergoldet und zwischen die Blumen gesetzt.» Ich fragte mitfühlend nach, was passiert wäre, wenn das Kind Bächlein hätte machen müssen. Meine Mutter antwortete mir: «Es wurde auf sein Töpfchen gesetzt, von Blumen umgeben war das nicht zu sehen. Das brave Kleinkind saß ganz still, vom Fasanenessen bis zum Nachtisch. Erst beim Abräumen des Festmahls merkte die Bedienung, daß das Kind inzwischen gestorben war. Damals wußte man noch nicht, daß ein Lebewesen auch durch die Poren der Haut atmen muß. Wahrscheinlich hatte die goldene Schuhcreme die feinen Poren des Kindes verstopft.»
Von dieser Geschichte an glaubte ich, der kleine Engel im Park sei das Dorfkind, das an Vergoldung gestorben war. Versteinert blieb es dann zwischen Schloß und Dorf stehen. In den groben Poren des Steins konnte man aber kein Gold mehr entdecken.
Das steinerne Engelchen war von einer gepflegten Blumenrabatte umgeben. Auf die Ranunkeln und Stiefmütterchen durfte man natürlich nicht treten! Erhöhte Sandsteine faßten die Blumenrabatte zu einem Rondell ein. Erst liefen wir Kinder im Kreis in einer Richtung um die Blumenrabatte herum, die beiden älteren Brüder Christof-Otto und Peter-Anton vorneweg, ich – etwas langsamer – hinterher. «Auf Wiedersehen!» sagten mir die Brüder beim Überholen, kamen plötzlich in Kehrtwendung wieder: «Guten Tag!», rasten weiter – ich hinterher –, wir prallten aufeinander, wieder ein fröhliches «guten Tag, guten Tag, auf Wiedersehen!». Balancieren auf den Steinkanten, umdrehen, hinunter, wiedertreffen, in immer schnelleren Pendelbewegungen ging das lustige Laufspiel hin und her.
Dreißig Jahre später, 1973, konnte ich, mit einem «Passierschein» versehen, von Westberlin aus kurz nach Zernikow fahren. Am Abend hatte man sich rechtzeitig im «Tränenpalast», der Kontrollstelle an der Friedrichstraße, wiedereinzufinden. Was fängt man mit solch knapp bemessenen Passierscheinstunden an? Nach den Rosen suchte ich, deren Blätter wie Gravensteiner Apfel riechen, nach dem Engel aus Stein und seinem Rondell. Weit lief ich in den abgeholzten Park hinaus, in der Hoffnung, etwas wiederzufinden und seien es auch nur Bruchstücke, die sich mit denen der Erinnerung verbinden ließen. Aber mit viel zu großen Schritten hatte ich mich vom Haus meiner Geburt entfernt, als trüge ich...