Ankunft
Der Tag der Geburt oder die Invasion der Aliens
Heute ist einer dieser Sommertage, an denen man am liebsten auf einer Decke am See liegen würde, mit einem kühlen Bier in der Hand. Es ist angenehm warm draußen, ohne zu heiß zu sein, und die Sonne wirft durch die Blätter der Bäume tanzende Schatten auf den Boden. Es ist einer dieser Tage, die man am liebsten wie früher verbringen würde: an nichts denkend, in den Tag hinein lebend mit dem unbeschwerten Gefühl von Leichtigkeit und der Aussicht darauf, alle Möglichkeiten des Lebens noch ausschöpfen zu können.
Aber wir befinden uns nicht am See, sondern in einem hellgrauen Krankenhauszimmer mit dunkelblauem Linoleumboden. Und wir sind uns ganz sicher: Heute wird der schönste Tag unseres Lebens! So liest man das doch immer überall. Wir stellen uns schon seit Jahren vor, dass die Geburt unseres ersten Kindes sogar noch unsere Hochzeit toppt. Und unsere Hochzeit war schon wie die gefrorene Sahne im Inneren eines Spaghettieises: einfach das Beste, was man sich vorstellen kann.
Ehrlich gesagt, hatte ich immer ein bisschen Angst vor dem Heiraten. Ich habe tatsächlich zwei Freundinnen, die schon ihre Hochzeitseinladungen verschickt hatten und dann wieder alles abgesagt haben, weil sie erst kurz vor Schluss gemerkt haben, dass der Typ doch nicht der Richtige war. Und dann liest man ja immer von diesen Geschichten von Hochzeiten, bei denen am Ende alle so besoffen sind, dass es der Bräutigam mit der Schwägerin auf dem Klo treibt oder die Braut mit dem Bruder ihres frisch Angetrauten abhaut.
Bei uns war die Hochzeit wie das Ende eines Rosamunde-Pilcher-Romans: links wie rechts voller Liebe und Harmonie. Dass unsere Freunde besoffen den Golfcart der Hotelanlage geknackt und damit den Rasen umgepflügt haben, verschweigen wir mal lieber.
Und dann noch das Datum! 8.8.2008! Kippt man die Zahl Acht in die Waagrechte, ist sie das Zeichen für Unendlichkeit, und somit sind wir uns ganz sicher: Wenn auch statistisch jede dritte Ehe scheitert, bei uns ist die Ewigkeit vorprogrammiert.
Und nun soll unsere Liebe durch die Geburt unserer Zwillinge gekrönt werden. Wir stellen uns schon vor, wie sie nach der Geburt in rosa Kaschmirjäckchen eingewickelt in unseren Armen schlafen.
Natürlich sind wir nicht so naiv zu denken, eine Geburt sei ein Sonntagsspaziergang im warmen Sonnenlicht, aber wir versuchen uns einfach auf das »Danach« zu konzentrieren und nicht an die blutige Presserei und Schreierei davor.
Und irgendwie habe ich mir vorher gar keine Gedanken darüber gemacht, wie sich das so anfühlt mit einem Zwillingsbauch im Endstadium.
Durch die hellgrauen Vorhänge fällt sanft das Sonnenlicht auf den gelb gerahmten Blumendruck an der Wand, und ich fühle mich nicht wie eine beseelte Elfe, die auf die Niederkunft ihrer Elfenkinder wartet, sondern wie ein gestrandeter Wal, der nicht mehr zurück ins Meer findet.
Aber egal. Auf diesen Tag haben wir jahrelang gewartet: endlich Eltern!
Mir ist irgendwie plötzlich ganz schummerig, und ich spüre, dass die Kinder nun irgendwie tatsächlich aus diesem Bauch rauswollen. Nur wie?! Immerhin sind wir schon im Krankenhaus, und es kann uns nicht passieren, dass unsere Töchter im Auto geboren werden oder im Eingangsbereich zwischen den automatischen Schiebetüren. Das ist einer Frau in den USA passiert, und das Ganze wurde von der Überwachungskamera praktischerweise mitgefilmt. Die Geburt dauerte nicht mal fünf Minuten, und sie hat sich ihr Baby selbst da unten rausgezogen. Allein bei dem Gedanken kriege ich schon Schnappatmung.
Dagegen geben wir gerade ein ziemlich verlorenes Bild ab: Peter steht in unserem grauen Krankenhauszimmer vor mir, ich hänge halb auf dem Bett, und wir gucken uns beide mit einem schmerzverzerrten Gesicht an. Er ist co-schwanger und leidet mit, weil Männer bekanntlich schon aus einem Schnupfen gerne eine Lungenentzündung machen. Hilfesuchend und mit einem flauen Gefühl im Magen gucke ich ihn an:
»Peter, kannst du bitte noch mal nach der Ärztin klingeln? Die muss mal ganz schnell die Wehen messen. Ich glaube, da dreht gerade alles völlig durch.«
Er guckt ganz erschrocken. Aber vielleicht auch nur deshalb, weil ihm in diesem Moment bewusst wird, dass sich seine ehemals schlanke Frau nun endgültig in ein rothäutiges dickes Etwas verwandelt hat. Es ist die 35. von 40 errechneten Schwangerschaftswochen. Die Kinder wollten schon viel früher raus. Deshalb habe ich schon vor Wochen angefangen, irgendwelche Tabletten zu schlucken, die die Wehen bremsen sollen. Und als die nicht mehr halfen, kam ich an einen »Anti-Wehen-Tropf«. Zwei Wochen war ich angeschlossen an dieses Teil, und es kam mir vor, als hätte ich permanent einen Hund an der Leine. Und diese ganzen Anti-Wehen-Medikamente haben bei mir die unschöne Nebenwirkung, dass sie die Durchblutung fördern. Ich bin rot wie ein Hummer, und dazu sind meine Füße dick angeschwollen und leuchten knallrot. Ich versuche, mir einzureden, dass ich mir durch meine neue Färbung wenigstens die Zeit sparen kann, mir auch noch die Nägel rot zu lackieren. Aber ehrlich gesagt, würden es die Ausmaße meines Bauchs sowieso verhindern, dass ich überhaupt die Füße erreiche. Laufen ist auch nicht mehr möglich. Da ich ständig das Gefühl habe vornüberzukippen, ziehe ich es vor, mich im Rollstuhl fahren zu lassen. Ansonsten liege ich einfach nur da.
Es ist der 1. August, und ich hoffe nur, dass eine Ärztin kommt und keiner dieser Ärzte. Die halten mich allesamt für ein Blondinchen, das einen auf Hollywood-Geburt machen will. Denn ich habe mir von Anfang an gewünscht, dass ich die Zwillinge nicht auf natürlichem Weg zur Welt bringen möchte, sondern per Kaiserschnitt. Und das war ein sehr, sehr großer Fehler! Schließlich ist nur eine Mutter, die bei der Geburt vor Schmerzen fast ohnmächtig wird, zumindest einen Dammriss hat oder wenigstens so laut schreit, dass die Fensterscheiben klirren, eine gute Mutter.
Die ganzen Arzttypen haben mich glatt ausgelacht, als ich da mit meinem großen Kuschelkissen unter dem Arm stand und meinte, mir sei eine Spontangeburt zu riskant für die Kinder. Schließlich kann sich bei einer Zwillingsgeburt das zweite Baby verirren und den Weg nicht finden, wenn das erste schon draußen ist. Einmal hat mich der Oberarzt beim Anblick meines Kuschelkissens tatsächlich gefragt, ob ich mein Schnuffeltuch dabeihätte! Da habe ich mich gefühlt wie in der sechsten Klasse, als mich die Jungs immer in den Mülleimer gesteckt haben.
In den Klassenräumen standen damals immer recht große Papiermülleimer ohne Deckel. Und da haben sie mich reingesetzt. Und wenn man da mit dem Hintern erst mal drinsteckt, kommt man nämlich ohne fremde Hilfe nicht mehr heraus. Das ist maximal erniedrigend, und ich habe mich danach selten wieder so hilflos gefühlt – erst seit ich durch meine Zwillingsschwangerschaft Stammgast in der Gynäkologie bin, fühle ich mich wieder ähnlich dämlich.
Nach einer dieser unzähligen Untersuchungen, die man so hat während einer Zwillingsschwangerschaft, meinte einer dieser Oberärzte, ich solle doch unbedingt eine natürliche Geburt »probieren«. Einen Kaiserschnitt könne man ja immer noch machen. Soll heißen: Wenn Komplikationen auftreten, kann nach der natürlichen Geburt von Zwilling Nummer eins die Nummer zwei immer noch aus dem Bauch geschnitten werden. Damit dürfte ich also die Schmerzen einer natürlichen Geburt UND eines Kaiserschnitts erleben – quasi als Survival-Training. Ich erwog, ihn zu fragen, ob er an einer Penisverlängerung interessiert sei. Die würde ich auch persönlich und ohne Narkose vornehmen, aber ich verwarf den Gedanken dann doch wieder. Unsere Hebamme hat Peter und mir geraten, immer positiv zu denken. Das würde sich angeblich auch gut auf die Kinder auswirken. Übrigens wird eine Zwillingsschwangerschaft automatisch als Risikoschwangerschaft eingestuft. Die ÄrztINNEN – allesamt selbst Mütter – haben mir mehrheitlich von einer natürlichen Geburt abgeraten. Und dazu bin ich ja auch noch Erstgebärende. Peter ist sowieso für einen Kaiserschnitt, weil er meint, jede werdende Mutter soll doch selber entscheiden, wie sie »es« durchziehen will. Und wenn sie sich allein in den Wald hocken will und ihr Kind zwischen Ameisenhaufen und Tannenbäumen gebären möchte – Hauptsache, SIE hat das so entschieden und nicht irgendein reinlabernder Idiot.
»So, Frau Imhof, da wollen wir mal schauen, ob heute der Geburtstag Ihrer Mädels ist, wa?!«
Die blonde junge Ärztin, die mich schon öfters untersucht hat, kommt durch die Tür gerauscht und reißt mich aus meinen Geburtsgedanken.
»Ja, vielleicht hängen Sie mal den Wehenschreiber an, also irgendetwas ist tatsächlich ganz anders als sonst. Ich kann es aber auch nicht genau sagen. Komischerweise ist die Fruchtblase aber noch nicht geplatzt.«
Die Ausschläge sind so hoch, dass man überhaupt keine Kurven mehr erkennen kann. Es sind nur noch senkrechte Linien. Und die Wehen werden immer heftiger. Ich beiße mir in den Daumen. »Der Muttermund ist auch schon drei Zentimeter offen. Kaiserschnitt wollten Sie, ja?! Frau Imhof, es wird höchste Zeit! Sie sind zwar fünf Wochen zu früh, aber Sie haben doch auch so tapfer durchgehalten all die Monate! Und – hach – dass ich jetzt ausgerechnet Dienst habe! Ich finde das so cool, dass wir das zusammen machen. Ach so, aber Sie sind ja Privatpatientin. Dann macht das der Oberarzt, dann müssen wir jetzt noch warten.«
Warten auf den Sascha Hehn für Arme? Niemals!
»Nein, ich bin keine Privatpatientin, und wir brauchen auch keinen Oberarzt, ich...