44I. Selbstverlust
1. Der Gegensatz von Ich und Empathie
(Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse)
Schopenhauer, der Empathie unter dem Begriff des Mitleids ins Feld führt, hat sich wie kaum ein anderer Denker zu dessen Aufwertung verpflichtet gefühlt. Anders als fast alle Denker der letzten Jahrhunderte und insbesondere die des Deutschen Idealismus maßt er dem individuellen Ich und dessen Selbstbewusstsein keine systematisch tragendene Bedeutung bei. Er geht im Gegenteil von einer Sichtweise aus, der gemäß das emotional wie verstandesmäßig isolierte Ich nichts als eine eitle Illusion ist. Schopenhauer sieht im Einreißen der »Mauer zwischen Du und Ich«, also im Mitleid, das Ziel.[1] Zugleich betont er, dass dieses Einreißen nur kurzzeitig und in konkreten Akten der Einfühlung stattfindet. Für Schopenhauer sind die Illusion des Ich und das Mitleid mithin einander entgegengesetzt. Im Mitleid erblickt er eine Korrektur der Illusion des Ich. (Umgekehrt lässt die Architektur seines Denkens aber auch die Idee zu, dass es die Illusion des Ich mit all seinen Interessen und Erlebnisformen wie dem Neid ist, welche eine Art Schalter oder auch Filter darstellt, der Mitleid kontrolliert und unterbindet.)
Wie wir sehen werden, ist auch für Nietzsche das Ich nichts Gegebenes, sondern eine Art von Illusion. Und ebenso wird auch Nietzsche Mitleid und Ich antithetisch positionieren. Doch anders als Schopenhauer sieht Nietzsche dabei im Mitleid eine Gefahrenquelle.
Im Folgenden werden wir Nietzsches Position anhand eines kurzen Textes darstellen und in ihren Implikationen entfalten. Dies wird uns eine Annäherung an die schwierige Frage erlauben, was ein Ich oder Selbst sein kann (im Folgenden wird zwischen Ich und Selbst nicht weiter unterschieden). Was kann es bedeuten, sein Ich zu verlieren, wenn man in die Schuhe eines anderen schlüpft?
Die Rede ist von § 207 von Jenseits von Gut und Böse. Dort benutzt Nietzsche den Begriff des Mitleids nicht explizit (und natürlich ebenfalls nicht den erst 1909 von Titchener erfundenen 45englischen Begriff »empathy« als Übersetzung der deutschen »Einfühlung«). Dennoch dreht die Diskussion sich sachlich genau um die Frage des intellektuellen und mitfühlenden Verstehens von anderen Menschen. Der objektive Mensch, von dem dort die Rede ist, wird geprägt von der Wahrnehmungsfähigkeit. Ihre zentrale Form ist das, was wir heute Empathie nennen würden. Zudem endet der voraufgegange § 206 bei der Frage von »Mitleid« und dem Verstehen des anderen.[2] (Wir werden später sehen, dass Mitleid für Nietzsche ein Sonderfall von Empathie ist.)
Ich möchte den Abschnitt zunächst vollständig zitieren und dann im Detail analysieren:
Wie dankbar man auch immer dem objektiven Geiste entgegenkommen mag – und wer wäre nicht schon einmal alles Subjektiven und seiner verfluchten Ipsissimosität bis zum Sterben satt gewesen! – zuletzt muss man aber auch gegen seine Dankbarkeit Vorsicht lernen und der Übertreibung Einhalt thun, mit der die Entselbstung und Entpersönlichung des Geistes gleichsam als Ziel an sich, als Erlösung und Verklärung neuerdings gefeiert wird: wie es namentlich innerhalb der Pessimisten-Schule zu geschehn pflegt, die auch gute Gründe hat, dem »interesselosen Erkennen« ihrerseits die höchsten Ehren zu geben. Der objektive Mensch, der nicht mehr flucht und schimpft, gleich dem Pessimisten, der ideale Gelehrte, in dem der wissenschaftliche Instinkt nach tausendfachem Ganz- und Halb-Missrathen einmal zum Auf- und Ausblühen kommt, ist sicherlich eins der kostbarsten Werkzeuge, die es giebt: aber er gehört in die Hand eines Mächtigeren. Er ist nur ein Werkzeug, sagen wir: er ist ein Spiegel, – er ist kein »Selbstzweck«. Der objektive Mensch ist in der That ein Spiegel: vor Allem, was erkannt werden will, zur Unterwerfung gewohnt, ohne eine andre Lust, als wie sie das Erkennen, das »Abspiegeln« giebt, – er wartet, bis Etwas kommt, und breitet sich dann zart hin, dass auch leichte Fusstapfen und das Vorüberschlüpfen geisterhafter Wesen nicht auf seiner Fläche und Haut verloren gehen. Was von »Person« an ihm noch übrig ist, dünkt ihm zufällig, 46oft willkürlich, noch öfter störend: so sehr ist er sich selbst zum Durchgang und Wiederschein fremder Gestalten und Ereignisse geworden. Er besinnt sich auf »sich« zurück, mit Anstrengung, nicht selten falsch; er verwechselt sich leicht, er vergreift sich in Bezug auf die eignen Nothdürfte und ist hier allein unfein und nachlässig. Vielleicht quält ihn die Gesundheit oder die Kleinlichkeit und Stubenluft von Weib und Freund, oder der Mangel an Gesellen und Gesellschaft, – ja, er zwingt sich, über seine Qual nachzudenken: umsonst! Schon schweift sein Gedanke weg, zum allgemeineren Falle, und morgen weiss er so wenig als er es gestern wusste, wie ihm zu helfen ist. Er hat den Ernst für sich verloren, auch die Zeit: er ist heiter, nicht aus Mangel an Noth, sondern aus Mangel an Fingern und Handhaben für seine Noth. Das gewohnte Entgegenkommen gegen jedes Ding und Erlebniss, die sonnige und unbefangene Gastfreundschaft, mit der er Alles annimmt, was auf ihn stösst, seine Art von rücksichtslosem Wohlwollen, von gefährlicher Unbekümmertheit um Ja und Nein: ach, es giebt genug Fälle, wo er diese seine Tugenden büssen muss! – und als Mensch überhaupt wird er gar zu leicht das caput mortuum dieser Tugenden. Will man Liebe und Hass von ihm, ich meine Liebe und Hass, wie Gott, Weib und Thier sie verstehn –: er wird thun, was er kann, und geben, was er kann. Aber man soll sich nicht wundern, wenn es nicht viel ist, – wenn er da gerade sich unächt, zerbrechlich, fragwürdig und morsch zeigt. Seine Liebe ist gewollt, sein Hass künstlich und mehr un tour de force, eine kleine Eitelkeit und Übertreibung. Er ist eben nur ächt, so weit er objektiv sein darf: allein in seinem heitern Totalismus ist er noch »Natur« und »natürlich«. Seine spiegelnde und ewig sich glättende Seele weiss nicht mehr zu bejahen, nicht mehr zu verneinen; er befiehlt nicht; er zerstört auch nicht. »Je ne méprise presque rien« – sagt er mit Leibniz: man überhöre und unterschätze das presque nicht! Er ist auch kein Mustermensch; er geht Niemandem voran, noch nach; er stellt sich überhaupt zu ferne, als dass er Grund hätte, zwischen Gut und Böse Partei zu ergreifen. Wenn man ihn so lange mit dem Philosophen verwechselt hat, mit dem cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Cultur: so hat man ihm viel zu hohe Ehren gegeben und das Wesentlichste an ihm übersehen, – er ist ein Werkzeug, ein Stück Sklave, wenn gewiss auch die sublimste Art des Sklaven, an sich aber Nichts, – presque rien! Der objektive Mensch ist ein Werkzeug, ein kostbares, leicht verletzliches und getrübtes Mess-Werkzeug und Spiegel-Kunstwerk, das man schonen und ehren soll; aber er ist kein Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein complementärer Mensch, in dem das übrige Dasein sich rechtfertigt, kein Schluss – und noch weniger ein Anfang, eine Zeugung und erste Ursache, nichts Derbes, Mächtiges, Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will: vielmehr nur ein zarter ausgeblasener feiner beweglicher Formen-Topf, der auf irgend einen Inhalt und Gehalt erst warten muss, um 47sich nach ihm »zu gestalten«, – für gewöhnlich ein Mensch ohne Gehalt und Inhalt, ein »selbstloser« Mensch. Folglich auch Nichts für Weiber, in parenthesi. – [3]
Nietzsche bringt die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen hier in direkte Relation zu einer besonderen Vor- oder Zubereitung. Die Kernmetapher dieser Vorbereitung ist eine Verdünnung des Menschen:
[…] und breitet sich dann zart hin, dass auch leichte Fusstapfen und das Vorüberschlüpfen geisterhafter Wesen nicht auf seiner Fläche und Haut verloren gehen […].
[…] sich glättende Seele […].
[…] Der objektive Mensch ist in der That ein Spiegel […].
Diese Verdünnung ist die Bedingung dafür, dass der objektive Mensch, also der wahrnehmende Mensch, den Abdruck des anderen auffängt. Um rezeptiv zu sein, muss der Mensch seine eigenen Krusten und Störungen ausgleichen und sich entleeren oder glätten:
[…] dass auch leichte Fusstapfen und das Vorüberschlüpfen geisterhafter Wesen nicht auf seiner Fläche und Haut verloren gehen […].
Was von »Person« an ihm noch übrig ist, dünkt ihm zufällig, oft willkürlich, noch öfter störend […].
[…] er ist […] vielmehr nur ein zarter ausgeblasener feiner beweglicher Formen-Topf, der auf irgend einen Inhalt und Gehalt erst warten muss, um sich nach ihm »zu gestalten« […].
Diese Metaphern implizieren, dass die Wahrnehmungsfähigkeit die Identität eines Menschen von Grund auf prägt. Gemäß diesen Passagen stimmt es also nicht, dass man die Dinge und andere Menschen schlicht mit einem sensuell-kognitiven Apparat wahrnimmt und diese Wahrnehmungen dann mit anderen psychischen Systemen als Information teilt. Vielmehr bedeutet wahrnehmen und erkennen, dass man sich als Ganzes für die Wahrnehmung und das Erkennen vor- und zubereiten muss. Man muss ein objektiver Mensch sein, muss ›rezeptiv‹ sein. Das heißt aber nicht, dass man ein ›rezeptives Ich‹ besitzt. Für Nietzsche wäre dies ein Oxymoron, ein Unding. Ein ›rezeptives Ich‹ kann es gemäß Nietzsche nicht geben.
48Das Kerngeschäft des objektiven Menschen ist Wahrnehmung. Nietzsche scheint wie immer kompromisslos: Man kann nur wahrnehmen und erkennen, wenn dies das Hauptziel des Menschen ist. Zumindest kann...