ICH BIN HOCHSENSIBEL – WAS BEDEUTET DAS?
Hochsensible Menschen besitzen ein »durchlässigeres« Nervensystem als Normalsensible. Das heißt, dass sie mehr innere und äußere Reize im gleichen Zeitraum aufnehmen und sie komplexer und tiefgründiger verarbeiten als Normalsensible.
Der Alltag eines hochsensiblen Menschen ist davon geprägt, dass er mehr sieht, riecht, hört, schmeckt und fühlt als ein Normalsensibler. Auch Stimmungen und Veränderungen, die sozusagen »in der Luft liegen«, in der Umgebung oder im Körperinneren, werden sehr rasch und intensiv wahrgenommen. Das Empfinden für Organerkrankungen ist stark ausgeprägt.
Auch das vernetzte, ganzheitliche Denken ist bei Hochsensiblen außergewöhnlich intensiv. Das besondere neuronale System verfügt durch die erhöhte Reizaufnahme über eine Menge an Informationen, die entsprechend vielschichtig verarbeitet werden. Hochsensible Menschen haben daher unter anderem die Fähigkeit, komplexe Situationen zum Beispiel in einer Gruppe zu erkennen und zu erfühlen.
Weltweit besitzen 15 bis 20 Prozent der Menschen, unabhängig von Geschlecht und Kultur, diese besondere Disposition. Hochsensibilität wird vererbt. Sie ist weder eine Störung noch eine Krankheit.
Hochsensibilität in der Forschung
Der russische Mediziner und Physiologe Iwan Pawlow (1849 – 1936) stieß bereits Anfang des letzten Jahrhunderts auf das Phänomen der Hochsensibilität. In seinen Versuchen zur Belastbarkeit bei Menschen beobachtete er, dass 15 bis 20 Prozent der Testpersonen auf akustische Reize völlig anders reagierten als bei dieser Art Experiment üblich. Die Schmerzgrenze für »Lärm« war bei diesen Menschen extrem viel niedriger. Sie konnten die Geräusche schon nach kürzester Zeit nicht mehr ertragen. Die anderen Testpersonen reagierten auf den Lärm hingegen erst viel später mit körperlichen Symptomen wie Muskelanspannung, Schwitzen oder Wegdrehen.
Damit bildeten die Hochsensiblen eine separate Gruppe, die komplett aus der Normalverteilungskurve herausfiel. Diese Beobachtung spricht dafür, dass Hochsensibilität eine genetische Charaktereigenschaft und kein erlerntes Verhalten ist.
INFO
HOCHSENSIBLE IN FRÜHEREN GESELLSCHAFTEN
Entwicklungsgeschichtlich betrachtet waren hochsensible Menschen diejenigen, die aufgrund ihrer Feinfühligkeit Gefahren früher und umfassender bemerkt und dadurch das Überleben der Gruppe gesichert haben. Das führte dazu, dass ihnen in der Gesellschaft eine besondere Rolle und Stellung zufiel. Sie waren die Weisen, Gelehrten und Berater an den Fürsten- und Königshäusern. Weitere historisch beschriebene Berufe waren unter anderem Astrologen, Lehrer, Forscher, Künstler, Heiler, Schamanen, Hebammen oder Seher. Bis heute sind kreative und soziale Berufe die Domäne der Hochsensiblen, darunter auch Musiker, Schriftsteller oder Modedesigner.
Der sensible Mensch
Der Schweizer Theologe und Psychiater Eduard Schweingruber (1899 – 1975) beschrieb die Wesensmerkmale der Hochsensibilität 1945 unter dem Titel »Der sensible Mensch« und damit mehr als fünfzig Jahre vor der Pionierin der Hochsensibilität, der amerikanischen Psychologin Elaine Aron (geb. 1944). Und noch ein Forscher ist auf diesem Feld aktiv: der amerikanische Psychologe Jerome Kagan (geb. 1929). Er führte Versuche mit Kindern durch, dabei setzte er Säuglinge verschiedenen intensiven Reizen aus und beobachtete ihre Reaktionen. Etwa 20 Prozent der Babys reagierten außergewöhnlich stark. Sie versuchten, den für sie anscheinend unerträglichen Reizen durch körperliche Reaktionen wie Zappeln, Schreien oder Weinen zu entkommen. Auch die objektiv messbaren Parameter unterschieden sich in der Frühzeitigkeit des Auftretens und der Intensität der Werte: Bei den hochsensiblen Säuglingen konnten zeitlich früher eine höhere Herzfrequenz, geweitete Pupillen und größere Stimmbandschwingungen gemessen werden als bei den Normalsensiblen. Kagan bezeichnete diese Kinder, die anders reagierten als die Norm, als »die gehemmten Kinder«. Der Name basierte auf der Beobachtung, dass sich diese Kinder im Lauf der Jahre zu deutlich vorsichtigeren, introvertierten Kindern im Vergleich zur Kontrollgruppe entwickelten. Auch physische Unterschiede waren auffällig: Bei den Hochsensiblen traten in der Kindheit gehäuft Allergien, Schlafstörungen, Koliken und Magen-Darm-Beschwerden wie beispielsweise Verstopfung auf. Noch in der Pubertät reagierten sie körperlich schneller auf Reize von außen; die Stimmbandschwingungen zeigten bei Stress erhöhte Werte.
»Der Kern des Glücks: der sein zu wollen, der du bist.«
ERASMUS VON ROTTERDAM
Arons »Highly sensitive person«
Trotz dieser frühen wissenschaftlichen Beschreibungen gewann das Thema Hochsensibilität aber erst durch Elaine Arons Forschungen und Publikationen weltweite Aufmerksamkeit. Aron und ihr Team untersuchten verschiedene Gehirnregionen unter anderem mit der Magnetresonanztomografie (MRT) und stellten fest, dass diese Regionen bei Hochsensiblen signifikant höhere Aktivitäten bei der Verarbeitung optischer Reize zeigten als die gleichen Gehirnareale bei Normalsensiblen. 1997 veröffentlichte sie in der angesehenen Fachzeitschrift »Journal of Personality and Social Psychology« den ersten Artikel über Hochsensibilität. Darin prägte sie auch die Begriffe »The highly sensitive person« (»Der hochsensible Mensch«) und »Sensory processing activity« (»Besondere Empfänglichkeit des neuronalen Systems für Reize bei Hochsensiblen«).
Neuere Forschung aus Deutschland
Eine sehr genaue und verlässliche Studie zur Hochsensibilität (Ausgangsthema Sensorische Verarbeitungssensitivität, siehe >) wird seit 2014 von der Diplompsychologin Sandra Konrad an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg in der Professur für Persönlichkeitsentwicklung und Psychologische Diagnostik durchgeführt. Aufgrund der hohen Teilnehmerzahl (3 600 Erwachsene) wird diese Studie wohl auch für die nächsten Jahre wegweisend bleiben. Die Studie bestätigt zu großen Teilen die HSP-Messskala von Aron. Abweichend von Aron, bei deren Diagnose für Hochsensibilität nur ein wichtiges Kriterium von mehreren zutreffen muss, sind nach dieser Studie folgende drei Faktoren ein Muss für Hochsensibilität:
Leichte Erregbarkeit: »Stimmungen anderer Menschen beeinflussen mich.«
Ästhetische Sensibilität: »Ich habe eine feine Wahrnehmung für unterschwellige Dinge in meiner Umgebung.«
Niedrige sensorische Reizschwelle: »Ich fühle mich leicht überwältigt von intensiven Reizen wie starkem Lärm.«
Bislang geht man davon aus, dass etwa 70 Prozent aller Hochsensiblen tendenziell eher introvertiert und vorsichtig sind und mehr Zeit für Entscheidungsprozesse benötigen. Zirka 30 Prozent sind dagegen eher extrovertiert, risikofreudig, aktiv und neugierig. Konrad fand jedoch heraus, dass gerade hochsensible Menschen eine größere Offenheit für neue Erfahrungen zeigen und damit vielleicht ein höherer Prozentsatz zur zweiten Gruppe gehören könnte als bisher angenommen. Das schließt mit ein, dass sich Hochsensible weit mehr als »normale« Menschen Situationen aussetzen, die sehr anstrengend sind. Weil sie in den meisten Fällen aber gar nicht wissen, dass sie hochsensibel sind, leben sie sozusagen gegen ihre Natur. Das führt zu Überlastung und Erschöpfung.
Im deutschsprachigen Raum fand im Jahr 2015 der erste HSP-Kongress für Fachleute und Betroffene in Münsingen bei Bern in der Schweiz statt. Damit hat das Thema auch hierzulande endlich ein öffentliches wissenschaftliches Forum erhalten. Auf weitere Forschungsergebnisse dürfen wir gespannt sein.
Diese Reize empfinden hochsensible Menschen stärker als Normalsensible.
So empfinden Hochsensible
Jeder Mensch, ob normal- oder hochsensibel, nimmt bis zu 95 Prozent aller Reize aus seiner Umgebung unbewusst auf. Hochsensible nehmen aber in derselben Zeiteinheit noch mehr Reize unbewusst auf. Dementsprechend muss ihr Reizverarbeitungssystem auch mehr Einflüsse verarbeiten.
Das Nervensystem eines Hochsensiblen lässt sich mit einem jederzeit offen stehenden Haus für Nachbarn, Freunde, Kinder und Tiere vergleichen, die vom Hausbesitzer empfangen, bewirtet, angehört und unterhalten, vielleicht auch beraten werden. Dadurch ist es dauerhaft gefordert. Geräusche, Gerüche, Licht, Farben, Gefühle, Stimmungen, Interaktionen und vieles mehr dringen ununterbrochen ein.
Auf der einen Seite bedeutet dies eine immense Bereicherung, auf der anderen Seite aber eine fast nicht zu bewältigende Aufgabe – zumindest dann, wenn keine ausreichende Unterstützung vorhanden ist. Um bei dem Bild des offenen Hauses zu bleiben: Der Gastgeber benötigt helfende Hände, zum Beispiel seine Familie, die ihn bei der Bewirtung der vielen Gäste unterstützt, vielleicht auch einen Koch und jemanden, der das schmutzige Geschirr abräumt. Entsprechend benötigt ein hochsensibler Mensch Pausen, um die Einflüsse sortieren und verarbeiten zu können. Das permanente Einströmen der Reize ist auf Dauer nämlich sehr erschöpfend. Der Gastgeber wird die Tür seines Hauses irgendwann einmal schließen wollen – und sei es spät in der Nacht. Analog dazu ist für den Hochsensiblen ein stärkeres Rückzugsbedürfnis normal, um die aufgenommenen Reize überhaupt verarbeiten zu können.
Typische Merkmale bei Hochsensiblen
Jeder hochsensible Mensch ist ein Individuum und hat seine persönliche Biografie, seine besonderen Vorlieben und Eigenschaften. Dennoch zeigt...