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Verjüngungskur für die Altersvorsorge

Vorschläge zur Reform der Zweiten Säule

AutorAlois Bischofberger, Jérôme Cosandey
VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl186 Seiten
ISBN9783038239628
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,90 EUR
Die berufliche Vorsorge in der Schweiz geniesst internationale Anerkennung. Allerdings hat sich das sozio-ökonomische Umfeld seit der Einführung des Obligatoriums 1985 stark verändert. Die Individualisierung der Gesellschaft, die Alterung der Bevölkerung sowie tiefere Renditen am Kapitalmarkt stellen das Sozialwerk vor wichtige Herausforderungen. Die gesetzlichen Grundlagen haben mit dieser Entwicklung nur zum Teil Schritt gehalten. Die Autoren verfolgen mehrere Reformansätze. Sie plädieren für mehr Gestaltungsspielraum der Arbeitnehmer, eine nachhaltige Finanzierung der Vorsorgeeinrichtungen dank realistischen technischen Parametern und eine Vereinfachung der BVG-Regulierung, um die Akzeptanz und Miliztauglichkeit der beruflichen Vorsorge zu sichern.

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Leseprobe

02
Mehr Gestaltungsspielraum


Ausgangslage und Handlungsbedarf

Reformvorschlag: Freie Wahl der Anlagestrategie im ganzen Überobligatorium

Mitarbeiter mit beschränkten Einflussmöglichkeiten

Wer will und kann, soll wählen dürfen

Freie Strategiewahl ohne externe Kosten

Vorteile für Arbeitnehmer und Arbeitgeber

Die Schweiz kann vom Ausland lernen

Reformvorschlag: Freie Wahl der Vorsorgeeinrichtung

Vorsorge an den Mitarbeiter statt an den Arbeitsplatz koppeln

Überwindbare Herausforderungen

Fazit

Ausgangslage und Handlungsbedarf


Männer in der Schweiz haben eine durchschnittliche Schuhgrösse von ca. 43, Frauen eine von ca. 38. Würde man die Gesamtproduktion von Schuhen auf diese beiden Grössen ausrichten, könnte man hohe Effizienzgewinne erzielen und die Produktionskosten massiv senken. Nahezu 80% der Bevölkerung könnten jedoch mit diesen Schuhen nicht laufen, sie wären entweder zu klein oder zu gross.

So absurd diese Vorstellung erscheint, so entspricht sie doch der heutigen Organisation der beruflichen Vorsorge. Die Leistungen, die Organisation und die Finanzierung der Vorsorgeeinrichtungen werden in einem Reglement festgehalten, das der paritätisch besetzte Stiftungsrat für alle Versicherten erlässt. Selbst wenn die unterschiedlichen Anliegen der Sozialpartner durch eine angemessene Vertretung der Arbeitgeber und der verschiedenen Arbeitnehmerkategorien berücksichtigt werden, kann sich der Stiftungsrat nur für Lösungen entscheiden, die der Mehrheit der Versicherten zugutekommen.

So ist zum Beispiel die Wahl der Anlagestrategie auf eine dem Kollektiv zumutbare Risikofähigkeit und -neigung ausgelegt. Die Definition von Leistungen bei Tod oder Invalidität sowie die Festlegung der Höhe der Sparbeiträge spiegeln lediglich den kleinsten gemeinsamen Nenner. Dieses kollektive Vorgehen war bis zu den Anfängen der Globalisierung in den 1980er Jahren durchaus sinnvoll. Damals waren die Familienstrukturen, die Ausbildungspfade und die daraus resultierenden beruflichen Laufbahnen relativ homogen. Heute ist die Gesellschaft durch viel mehr Mobilität und Individualität geprägt (Ackermann, Lang 2008). Der vom Stiftungsrat eingeschlagene «Mittelweg» ist deshalb für den Einzelnen nicht mehr repräsentativ.

Je grösser zudem der Kreis der Destinatäre einer Vorsorgeeinrichtung ist, desto weniger kann der Stiftungsrat die individuellen Situationen seiner Versicherten berücksichtigen. Diese Zwangslage ist besonders bei den 224 Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen ausgeprägt. Sie müssen neben den individuellen Interessen von über 2 Millionen Versicherten auch jene von ca. 340 000 Firmen berücksichtigen (BFS 2012a). In einem typischen Stiftungsrat mit 9 oder 10 Mitgliedern (Ammann, Zink 2010) muss deshalb jeder Arbeitgebervertreter die Anliegen von 340 Firmen, jeder Arbeitnehmervertreter jene von 2000 Versicherten vertreten.

Dazu bestehen potenzielle Interessenkonflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. So streben Arbeitgeber mit attraktiven Vorsorgelösungen einen Wettbewerbsvorteil an, um ihre Mitarbeiter länger an das Unternehmen zu binden. Während das für die Arbeitnehmer durchaus vorteilhaft sein mag, können dadurch auch «goldene» Fesseln entstehen, die ihre Mobilität im Arbeitsmarkt reduzieren. Die Einführung des Freizügigkeitsgesetzes (FZG) im Jahr 1995 war eine wichtige Errungenschaft, die es einem Mitarbeiter ermöglicht, sein angespartes Altersguthaben bei einem Stellenwechsel mitzunehmen. Jedoch verbleiben allfällige freie Reserven und Wertschwankungsreserven, die er zum Teil mitfinanziert hat, bei der Vorsorgeeinrichtung. Des Weiteren sind die Arbeitgeber sehr an einer relativ risikoarmen Anlagestrategie ihrer Pensionskasse interessiert, da sie typischerweise die Konsequenzen einer Unterdeckung infolge einer Börsenbaisse mit überproportionaler Beteiligung an den Sanierungsmassnahmen tragen (Helbling 2003). So war 2010 ihr Anteil an Sanierungsmassnahmen neunzehn Mal höher als der Beitrag der Arbeitnehmer (BFS 2011b). Diese geringe Risikoneigung kann langfristig zu tieferen Renditen führen. Ferner sind die Arbeitnehmervertreter trotz zahlenmässiger Parität häufig in einer schwächeren Verhandlungsposition. Obwohl ihnen die gleichen Rechte im Stiftungsrat zustehen, bleiben sie immer noch Angestellte des Unternehmens und dadurch dem Hierarchiedruck ausgesetzt (Beck et al. 2003). Zweitens stammen die Arbeitgebervertreter häufig aus den Bereichen Finanzen, Recht und Personalwesen und verfügen damit über berufliche Qualifikationen, die zur Führung einer Vorsorgestiftung wichtig sind, wie zum Beispiel Finanzkenntnisse für die Beurteilung komplexer Anlageentscheide oder das Verständnis von arbeitsrechtlichen Vorschriften für die Abwicklung von Leistungsfällen. Arbeitnehmervertreter hingegen, die vielleicht aus der Produktion oder aus dem Vertrieb stammen, müssen sich diese Fähigkeiten nebst ihrem täglichen Geschäft aneignen. Dieses Wissensgefälle kann sich zum Nachteil der Arbeitnehmervertreter auswirken.

Schliesslich können durch die Delegation von Vertretern in den Stiftungsrat sogenannte Principal-Agent-Probleme entstehen (Hawkins et al. 2006). Im Gegensatz zu einer Aktiengesellschaft, in der jeder Aktionär bei wichtigen Traktanden mitentscheiden kann, werden die Entscheide einer Vorsorgeeinrichtung allein durch die Stiftungsräte getroffen (Nussbaum 2011). Ohne klare Corporate Governance besteht somit das Risiko, dass einzelne Ratsmitglieder Entscheide zu ihren Gunsten beeinflussen, zum Beispiel durch die Vergabe von Beratungs- und Verwaltungsmandaten an Verwandte oder die Gewährung von Krediten an das eigene Unternehmen. Die Corporate-Governance-Anforderungen, die mit der Strukturreform 2011 eingeführt (Art. 51 BVG) und vom Schweizerischen Pensionskassenverband (ASIP) in einer Charta konkretisiert wurden (ASIP 2007), haben diese Problematik weitgehend entschärft. Problematisch bleibt hingegen die Tatsache, dass die meisten Stiftungsräte einerseits unentgeltlich arbeiten, anderseits persönlich für Fehlentscheide haften. Diese Asymmetrie führt dazu, dass Stiftungsräte Entscheide treffen, die ihre Risiken minimieren, jedoch Opportunitätskosten für die Versicherten beinhalten können. So werden zum Beispiel bei günstiger Marktentwicklung selten Stimmen laut, die eine positive Rendite, die 0,5% unter den Ergebnissen der Konkurrenz liegt, kritisieren. Hingegen ist in schlechten Börsenjahren eine negative Rendite, die den Benchmark als Folge individueller Entscheide des Stiftungsrates um 0,5% unterschreitet, schwer zu erklären. Deshalb ziehen viele Stiftungsräte Investitionen der Pensionskassenvermögen in indexierten Anlagefonds vor. Sie verzichten dadurch auf eine mögliche ausserordentliche Performance, finden sich jedoch bei allfälliger negativer Performance nicht in Erklärungsnot: Ihr finanzielles Ergebnis entspricht definitionsgemäss dem Benchmark.

Wie kann ein einzelner Versicherter diese Interessenkonflikte und die Probleme, die durch Delegation entstehen, umgehen? Das Gesetz sieht heute nur wenige und zum Teil umstrittene Möglichkeiten vor, die eigene berufliche Vorsorge zu individualisieren (Hügli 2011). Vor der Pensionierung kann ein Versicherter Teile seines Altersguthabens für die Finanzierung einer selbstbewohnten Immobilie verwenden (Wohneigentumsförderung, WEF, Art. 30 BVG) und steuerbegünstigte Einkäufe tätigen, sofern diese reglementarisch vorgesehen sind (Art. 79b BVG). Bei der Pensionierung können die Reglemente der Vorsorgeeinrichtungen einen Altersrücktritt vor dem ordentlichen Rentenalter, jedoch frühestens ab dem vollendeten 58. Altersjahr vorsehen (Art. 1i BVV 2). Ferner kann der Versicherte verlangen, dass ihm mindestens ein Viertel seines Altersguthabens als einmalige Kapitalabfindung ausgerichtet wird (Art. 37 BVG). Von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen sind die Möglichkeiten der Versicherten sehr beschränkt, ihre Anlagestrategie nach ihrer Risikoneigung und -fähigkeit zu personalisieren, ihre Leistungen bei Tod und Invalidität selber zu definieren oder die Leistungserbringer für die Verwaltung ihrer Vorsorge auszuwählen. Da jedoch Individualisierungsmöglichkeiten, so erwünscht sie sind, nicht risikolos sind und zu fehlenden Vorsorgemitteln im Alter führen können, beschränken sich unsere Reformvorschläge auf das Überobligatorium.

Reformvorschlag: Freie Wahl der Anlagestrategie im ganzen Überobligatorium


Mitarbeiter mit beschränkten Einflussmöglichkeiten


Der Kapitalmarkt wird häufig «dritter Beitragszahler» genannt. Die dort erwirtschaftete Rendite wird zu 90% durch die strategische Asset Allocation, also die Zuteilung des Vermögens auf unterschiedliche Anlageklassen wie Obligationen, Aktien und Immobilien, bestimmt. Die optimale Zuteilung hängt von den erwarteten Renditen, von der Risikofähigkeit und -neigung und vom zeitlichen Anlagehorizont des Investors ab. Die allermeisten Vorsorgeeinrichtungen verwenden eine identische Asset Allocation für alle ihre Versicherten. Diesen Entscheid trifft der Stiftungsrat u.a. basiert auf der durchschnittlichen Anstellungsdauer der Angestellten im Unternehmen und auf einem relativ vorsichtigen Risikoprofil, typischerweise mit einer Aktienquote von ca. 25% (BFS 2011a).

Doch wer ist besser in der Lage, einzuschätzen, wie lange ein Mitarbeiter noch im Unternehmen bleibt? Wer weiss am besten, ob ein Angestellter sich in den kommenden Jahren selbständig macht, ein Studium im Ausland beginnt oder ein Haus kauft? Wer kriegt am besten mit, ob ein Mitarbeiter schlaflose Nächte hat, weil seine Pensionskasse aufgrund einer als zu hoch empfundenen Aktienquote Wertschwankungen...

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