1 Einleitung
Jedes Jahrhundert hatte seine ganz eigenen beherrschenden Themen und die damit verbundenen zentralen Herausforderungen. Neben den sozialen Umwälzungen und politischen Revolutionen kam es auch immer wieder zu ökonomischen Krisen. Während es bei Ersteren meist um die scheinbar zeitlosen Fragen von «Reich gegen Arm» und «Mächtig gegen Machtlos» ging, haben ökonomische Krisen einen starken zeitlichen Bezug und sind im Zeitablauf sehr heterogen.
Folgt man Werner Plumpe, so können ökonomische Krisen grob in solche der Vormoderne und solche der (Post-)Industrialisierung unterteilt werden.[1] Wirtschaftskrisen werden in diesem Kontext allgemein als gesamtwirtschaftliche Störungen betrachtet, dies in Abgrenzung zu Begriffen der Konjunkturtheorie (z. B. Depression, Rezession oder Abschwung). Demnach scheinen Wirtschaftskrisen vor 1800, also Krisen der Vormoderne, einen starken Bezug zur Natur und weniger zur Art und Weise des Wirtschaftens zu haben. Zwar gab es auch damals schon Spekulationsblasen an den Börsen, die Tulpenmania der Jahre 1630 – 1638 ist ein bekanntes Beispiel dafür, doch mehrheitlich ging es um viel existenziellere Dinge wie etwa Ernährungskrisen als Folge schlechter Ernten durch klimatische Katastrophen. Wirtschaftskrisen, deklariert als gesamtwirtschaftliche Störungen in Zeiten des modernen Wirtschaftens, weisen hingegen eine viel grössere Nähe zu dem auf, was Ökonomen als Spekulationsblasen bezeichnen. Diese werden im Gegensatz zu den umweltbedingten Krisen der Vormoderne durch aktives Verhalten der Marktakteure herbeigeführt und letztlich zum Platzen gebracht. Später werden wir diese Form gesamtwirtschaftlicher Störungen als mögliche Ausprägung einer Finanzkrise einordnen und als Bankenkrise bezeichnen. Auch (Staats-)Schuldenkrisen fallen in die Kategorie der Finanzkrisen, sie sind jedoch getrennt von Bankenkrisen zu betrachten. Beide Formen von Finanzkrisen sind keinesfalls nur eine Erscheinung der Neuzeit, sondern historisch häufig dokumentierte Ereignisse von grosser Tragweite. Während Bankenkrisen infolge des Platzens einer Spekulationsblase einen bestimmten, mehr oder minder geordneten Verlauf zeigen, gilt dies nicht in gleicher Weise für staatliche Schuldenkrisen. Zu Beginn einer Bankenkrise werden apokalyptisch anmutende Szenarien wie die Grosse Depression in der politischen Diskussion schnell bemüht, um sich sogleich als fälschlich zu erweisen. Wir werden zeigen, dass Bankenkrisen in der Gegenwart zwar häufiger auftreten als früher, in der Regel jedoch von viel kürzerer Dauer sind. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass die Märkte effizienter funktionieren als in der vorindustriellen Zeit. Staatsschuldenkrisen hingegen haben ihren Ursprung nicht in einer Überhitzung der Märkte für verschiedenste Vermögensanlagen, sondern im dauerhaften Politikversagen.
Betrachtet man die ökonomischen Krisen der letzten Jahrhunderte, fällt zudem auf, dass diese in einem immer engeren Kontext zum menschlich-aktiven Handeln stehen. Mit anderen Worten hat sich der Einfluss menschlichen Verhaltens auf die Art der Krise und auf deren Verlauf über die Jahrhunderte hinweg vergrössert. Müsste man für das noch junge 21. Jahrhundert ein zentrales Thema finden, das die Länder global herausfordern wird, so wäre dies eindeutig die zunehmende Verschuldung respektive Überschuldung von Staaten. Erstere ist nicht per se etwas Schlechtes, im Gegenteil. Die Möglichkeit der Verschuldung gestattet es einem Individuum oder auch einem Staat, Ausgaben heute zu tätigen, unabhängig davon, ob Liquidität vorhanden ist oder nicht. Dieses Instrument der Kreditaufnahme ist zentral für unsere Wirtschaftsordnung, da es partiell eine Umverteilung von Vermögenden zu weniger Vermögenden ermöglicht, ohne dass politisch-regulatorisch Einfluss genommen werden muss. Ein Beispiel hierfür ist die Finanzierung der Ausbildung und damit der Aufbau von Humankapital. Für den jungen Menschen mit begrenzten finanziellen Mitteln schafft eine Ausbildung die Möglichkeit, in Zukunft mehr Einkommen zu erzielen. Es ist deshalb sowohl aus Sicht dieses jungen Menschen wie auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll, heute einen Kredit aufzunehmen, der nach erfolgreicher Investition (in Bildung), mit der Rendite der Investition (Bildungsrendite), zurückbezahlt werden kann. Neben dieser positiven Facette von Verschuldung existiert jedoch auch eine negative, die der Überschuldung. Diese tritt salopp gesagt dann ein, wenn der Schuldner seine angehäufte Schuldenlast nicht mehr fristgerecht bedienen kann. Die Gründe hierfür sind vielschichtig und können je nach Typ des Schuldners (Haushalt, Staat, Unternehmen) ganz verschieden sein. Sie sollen in diesem Buch erläutert werden. Im vorangegangenen Beispiel kann eine Überschuldung dadurch entstehen, dass der Bildungskredit in der Jugend zu hoch war oder die Bildungsrendite zu gering ausfiel. Analoges gilt für Unternehmen und Staaten. Bei der Gegenüberstellung der drei Gruppen wird jedoch ein eklatanter Unterschied deutlich werden: Während Unternehmen meist Investitionen tätigen, die kalkulierbar sind und einen gewissen berechenbaren Return on Investment (ROI) versprechen, gilt Gleiches nicht für den Staat; denn dieser ist kein Investor, sondern ein Produzent öffentlicher Güter, und immer mehr auch ein Umverteiler finanzieller Ressourcen. Natürlich kann argumentiert werden, dass auch der Staat, soweit er die Finanzierung der Ausbildung des jungen Menschen übernimmt, einen Anspruch auf die Rendite erheben kann. Mit den klassischen Investitionen eines Unternehmens kann diese Art der staatlichen Investition jedoch nur teilweise verglichen werden, denn ein junger Mensch ist mobil und kann das Land, das seine Ausbildung finanziert hat, nach dem Abschluss jederzeit verlassen. Dieser sogenannte Braindrain belastet aktuell die ost- und südeuropäischen Länder, aus denen besonders die gut ausgebildeten und talentierten Fachkräfte in grosser Zahl abwandern, weil sie zu Hause keine Perspektiven sehen. Auch öffentliche Investitionen in die Infrastruktur (Strassen, Bahnen, Stromversorgung) werden nicht primär im Hinblick auf eine Rendite getätigt, sondern weit mehr im Hinblick auf einen zukünftigen volkswirtschaftlichen Ertrag. Bei den Bahnen in der Schweiz kommen die Benutzer für nur gerade die Hälfte der Kosten auf, der Rest ist (hoffentlich) volkswirtschaftlicher Nutzen, der nicht direkt einzelnen Unternehmen, Regionen usw. zurechenbar ist. Dieser aussermarktliche Ertrag öffentlicher Investitionen ist deshalb problematisch, weil er bei den einzelnen Steuerzahlern in unterschiedlicher Höhe anfällt und weil er nicht wie private Güter auf dem Markt durch die Zahlungsbereitschaft der Nutzniesser bewertbar ist.
So gross die Unterschiede der Wirtschaftseinheiten auch sind, ein Grundsatz ist ihnen allen gemein: Liegen die eigenen Ausgaben dauerhaft über den Einnahmen, wird dies unweigerlich zu Überschuldung führen. Für den Fall des öffentlichen Sektors gibt Abbildung 1 einen historischen Überblick in Form des Ausgaben-Einnahmen-Verhältnisses (AEV)[2] im Zeitverlauf ab 1980 für die Schweiz und für ausgewählte Regionen. Während die Schweiz in den 1980er-Jahren fast in jedem Jahr mehr einnahm, als sie ausgab, lag das Verhältnis sowohl für (Rest-)Europa als auch für Nordamerika stets über 1. Die durchschnittlichen Werte dieser Periode liegen bei 0,98 für die Schweiz und bei 1,10 bzw. 1,21 für Europa und Nordamerika.
Die zweite Hälfte der 1990er-Jahre zeigt ein kontinuierliches Sinken des AEV, wobei der Wert in (Rest-)Europa und Nordamerika das vorläufige Minimum im Jahr 2000 und in der Schweiz 2001 erreicht. Eine mögliche Erklärung hierfür ist der sogenannte Clinton-Boom in den USA und die New Economy, die weltweit um die Jahrtausendwende für wirtschaftlichen Aufschwung und sprudelnde Steuereinnahmen sorgte. Doch steigende Staatseinnahmen bedeuten zumeist auch zunehmende Begehrlichkeiten. So steigen die Ausgaben des Staates meist simultan mit den Einnahmen, doch wenn die Einnahmen zurückgehen, sinken die Ausgaben bei Weitem nicht so schnell. Dies zeigt sich in den Jahren vor der Finanzkrise 2008, in denen das AEV zunächst steigt und erst spät aufgrund von Anpassungen der Ausgabenseite wieder sinkt. Von besonderem Interesse für unsere Analyse sind die Krisenjahre ab 2008. Sowohl in (Rest-)Europa als auch in Nordamerika fallen die Staatseinnahmen infolge der Krise deutlich geringer aus als zuvor. Gleichzeitig werden aber Konjunkturprogramme lanciert, um die Wirtschaft zu stützen. Die Folge ist ein sprunghafter Anstieg des AEV. Für die Schweiz gilt dies nicht. Zum einen wurde sie von der Finanzkrise nicht ganz so hart getroffen wie (Rest-)Europa und Nordamerika, und die Staatseinnahmen blieben entsprechend relativ konstant. Zum anderen hat die Schuldenbremse verhindert, dass die Staatsausgaben sprunghaft gestiegen sind. Auf diese Weise konnte der Schweizer Staat selbst während der Krise mehr einnehmen, als er ausgab.
Abbildung 1: Entwicklung des Ausgaben-Einnahmen-Verhältnisses der Schweiz im Vergleich zu ausgewählten Regionen von 1980 bis 2013. Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Oxford Economics (aus Datastream).
Über den ganzen Zeitraum von 33 Jahren hinweg betrachtet, übersteigen die Einnahmen die Ausgaben in der Schweiz immerhin 16 Jahre lang. In (Rest-)Europa ist dies nur während fünf Jahren der Fall, Nordamerika weist lediglich ein einziges Jahr mit höheren Einnahmen aus. Für die gesamte Periode berechnet, beläuft sich das durchschnittliche AEV in der Schweiz auf 1,01, in Europa auf 1,06 und in Nordamerika auf 1,13.
Wie bereits...