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E-Book

Simplicity - Die Kunst, die Komplexität zu reduzieren

AutorBenedikt Weibel
VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783038239420
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,30 EUR
Die Welt ist komplex. Das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden zu können ist überlebenswichtig. Seit über 2000 Jahren setzen sich Philosophen, Mathematiker, Mediziner, Psychologen, Ökonomen und Managementlehrer, Architekten, Maler und Schriftsteller mit dem Phänomen der Einfachheit auseinander. Benedikt Weibel fasst alle diese Ansätze zusammen: nicht in einer trockenen Abhandlung, sondern anhand vieler amüsanter und lehrreicher Geschichten. Sie sind Grundlage für den praktischen Teil mit Anregungen zur Reduktion der Komplexität und der Fokussierung auf das Wesentliche - auch im alltäglichen Leben.

Benedikt Weibel (* 1946) Dr. rer. pol., Studium und Assistenz an der Universität Bern. Diplomierter Bergführer. 1978 Eintritt in die SBB. 1993-2006 Vorsitzender der Geschäftsleitung der SBB. 2003-2006 Präsident des Weltverbandes der Eisenbahnunternehmungen. 2003-2007 Verwaltungsrat der französischen Staatsbahn. 2007/08 Delegierter des Bundesrates für die EURO 2008. Heute Honorarprofessor an der Universität Bern, Publizist, Präsident und Mitglied verschiedener Verwaltungsräte.

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Leseprobe

1. Der weisse Tod

«Das mache nun mal den Homo sapiens aus, Mustererkennung, sagte er.» William Gibson

Vier Tage lang schneite es ohne Unterbruch. Am 23. Februar 1999 lagen im hinteren Paznauntal im Westen von Österreich vier Meter Neuschnee. Dort, wo heftige Stürme zu Triebschneeansammlungen geführt hatten, war die Neuschneedecke noch viel höher. Um 16 Uhr ging in Galtür eine Lawine ab, wie man sie noch nie gesehen hatte. Mit einer ungeheuren Zerstörungskraft, begleitet von einer 100 Meter hohen Staubwolke, stürzten die Schneemassen ins Tal. Um Mitternacht und am Nachmittag des nächsten Tages kam es zu zwei weiteren Lawinenabgängen. Die Schadensbilanz war verheerend. 38 Todesopfer, 48 Verletzte, 60 Gebäude schwer beschädigt, 100 Autos zerstört.

Was als Lawinenwinter 1999 in die Geschichte eingegangen ist, begann mit mehreren Nordweststaulagen, begleitet von heftigen Schneefällen im gesamten Alpenraum. Erstmals wurde während mehrerer Tage die höchste Gefahrenstufe 5 ausgelöst. Ganze Talschaften waren von der Umwelt abgeschlossen. Trotz aller Prävention löschten Jahrhundertlawinen nicht nur in Galtür, sondern auch in Chamonix, Evolène und Lavin zahlreiche Menschenleben aus. Die Schadensumme betrug mehrere Hundert Millionen Euro.

Die enormen Schäden des Lawinenwinters 1999 haben der Lawinenforschung neuen Auftrieb gegeben. Die Lawine ist ein anschauliches Beispiel für das, was man eine Diskontinuität nennt. Wind, Temperaturen und Schneefall führen zu permanenten Veränderungen einer Schneedecke. Irgendein Hebel löst schliesslich die Lawine mit ihrem zerstörerischen Potenzial aus. Im Skigebiet der Alpe d’Huez, am Pic du Lac Blanc, haben französische Forscher nach der mathematischen Formel gesucht, mit der sich nicht nur der Lawinenabgang, sondern auch dessen Ausmass berechnen lassen.1 Auf 2900 Meter Höhe errichteten sie eine Modellanlage, mit der sie Lawinenniedergänge simulierten. Sie arbeiteten nur nachts, weil die Sonne die Schneekristalle zu sehr verändern würde. Da liegt der Kern des Problems. Die Varietät von Schneekristallen ist unendlich gross. Sonne, Wind und Wärme verändern sie pausenlos. Damit ist auch der Reibungswiderstand, der für das Auslösen einer Lawine entscheidend ist, eine sich permanent verändernde Grösse. Die Forscher kamen zum Schluss, dass es drei Faktoren sind, die für die Zerstörungswirkung einer Lawine entscheidend sind: Hangneigung, Reibungskräfte und Geschwindigkeit. Davon ist allerdings nur die Hangneigung ohne Probleme messbar. Um die Reibungskräfte einschätzen zu können, muss man Schneeprofile freilegen und interpretieren.

Jahrzehntelang gehörte das Freilegen von Schneeprofilen zum Standard der Lawinenausbildung. In der Realität war das Verfahren allerdings kaum praktikabel. Schneeprofile können selbst auf engstem Raum unterschiedliche Ausprägungen haben. Auf einer Skitour müsste man für jeden Hang mit einer sich ändernden Exposition einen Schneekeil graben. Mehr graben als gehen. Deshalb hat kaum jemand das in den Kursen Gelernte angewandt. Wie seit eh und je hat man sich in der Praxis auf die Intuition verlassen.

Trotz der grossen Komplexität ist das System Schnee immerhin klar definiert. Seine Parameter können beobachtet und gemessen werden. In ganz andere Dimensionen stossen wir vor, wenn wir von Wetter und Klima sprechen. Der Begründer der Chaostheorie, Edward N. Lorenz, entwickelte ein meteorologisches Modell mit zwölf Variablen. Durch einen Zufall fand er heraus, dass seine Modellrechnungen zu unerwarteten Ergebnissen führten, obwohl er, wie er meinte, die gleichen Ausgangswerte eingegeben hatte. Bei der Überprüfung des Vorgangs stellte er fest, dass die Ausgangswerte von ursprünglich sechs Stellen nach dem Komma auf drei Stellen gerundet waren. Eine minimale Veränderung der Ausgangswerte führte zu völlig anderen Modellergebnissen. Lorenz illustrierte den Sachverhalt mit dem mittlerweile berühmt gewordenen Bild, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann. Diese Erkenntnis stellte sein gesamtes Wettermodell infrage und führte zum Schluss, dass das Verhalten komplexer Systeme nicht vorhersehbar ist.2

Tausende Forscher beschäftigen sich mit dem Klima. In den Assessment Reports des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) wird dieses gesammelte Wissen auf Hunderten von Seiten zusammengefasst. Es ist eine Auseinandersetzung um Wahrscheinlichkeiten zwischen Überzeugungstätern, Skeptikern und nüchternen Wissenschaftlern. Umso erstaunlicher, dass es im Wesentlichen nur vier Faktoren sind, die das Weltklima während der Erdgeschichte immer wieder fundamental verändert haben: Sonnenaktivität, Vulkantätigkeit, Strömungen in den Ozeanen und der CO2-Ausstoss. Dazu kommen als Ergebnis der jüngeren Forschung noch zwei besonders unsichere Faktoren: die Wolken und Aerosole (Staubpartikel). Der Nutzen eines solchen Musters liegt in seiner Praktikabilität. Jeder dieser Faktoren ist ein potenzieller Hebel, der eine Situation zu verändern vermag. Im Falle des Klimas ist allerdings nur der CO2-Ausstoss vom Menschen beeinflussbar. Kein Wunder, dass sich die Klimadebatte auf diesen Faktor konzentriert.3

Die Reduktion komplexer Tatbestände auf wenige, aber entscheidende Faktoren ist ein Thema, das die grossen Denker seit Jahrtausenden beschäftigt. Die Aussage «entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem» wird dem englischen Scholastiker Wilhelm von Ockham4 zugeschrieben. In einer freien Übersetzung heisst das Zitat, man solle sich in Erklärungsmodellen auf möglichst wenige Faktoren beschränken. Dieses methodologische Prinzip hat zu verschiedenen Interpretationen geführt. Man solle bei der Auswahl oder Konstruktion einer Theorie immer die einfachste auswählen. Man solle eine geringe Anzahl von Grundkategorien auswählen. Beweise sollten möglichst kurz gehalten werden.

Die Maxime des Scholastikers aus dem 14. Jahrhundert wurde mit dem bildhaften Ausdruck Ockhams Rasiermesser verewigt: Suche das Wesentliche und schneide alles andere mit dem Rasiermesser ab.5

Der Pionier, der in der Frage des Umgangs mit Lawinen zu Ockhams Rasiermesser griff, heisst Werner Munter.6 Noch nicht 20 Jahre alt, hatte er sämtliche Viertausender im Kanton Bern im Alleingang bestiegen. Mit der Begründung, man möchte nicht an seinem Begräbnis teilnehmen, schloss ihn der Schweizer Alpen-Club aus seinen Reihen aus. Munter studierte Geschichte, Psychologie, Germanistik und machte seinen Universitätsabschluss in Philosophie. Seine eigentliche Berufung fand er aber als Bergführer. Schon früh fiel er als genialer Tüftler auf. Mit seiner Munter-Bremse war ihm in den 1970er-Jahren der Durchbruch zur dynamischen Seilsicherung am Berg gelungen. Wir waren damals zusammen Aspiranten im Bergführerkurs. Unsere Klassenlehrer, alles herausragende Alpinisten, waren skeptisch gegenüber Neuerungen. Sie schworen auf die klassische statische Schultersicherung. Ein Test sollte zeigen, welche Methode besser war. Als Erster band sich der Bergführeraspirant Felice, Adjutant an der Gebirgskampfschule und einer der besten Kletterer im Kurs, am Standplatz fest. Er sicherte über seine Schulter, als der mit Steinen beschwerte, 80 Kilogramm wiegende Autoreifen abgeworfen wurde. Die Wucht des Sturzes liess ihn an die Wand schnellen, sein Kinn platzte auf, der Standplatz sah aus wie ein Schlachthof. Nachdem ihn der Helikopter abtransportiert hatte, begab sich Werner Munter auf den blutverschmierten Sicherungsplatz. Mit seinem Rauschebart mit weissen Einsprengseln glich er grossen Bergführern aus der klassischen Zeit des Alpinismus. Er strahlte auch deren Ruhe aus. Es war totenstill, als der Reifen ein zweites Mal fiel. Dank dem kontrollierten Seildurchlauf wurde Munter nicht einmal in die Standsicherung gerissen. Es war das einzige Mal, dass ich im Gebirge einen tosenden Applaus erlebte. Damit war die Diskussion entschieden. Als wir am nächsten Tag wieder im Fels waren, brach mir in der Wand ein Block weg, und ich stürzte. Mein Seilschaftspartner sicherte mit der Munter-Bremse und hielt den Sturz ohne Probleme. Heute gehört die dynamische Seilsicherung zum Einmaleins des Bergsports. Sie hat unzählige Menschenleben gerettet. Auch mein eigenes.

Werner Munters Faszination für Lawinen ging so weit, dass er das Schicksal herausforderte, um Eigenerfahrungen in Lawinenabgängen zu erwerben. Er erzählt, dass es schon zwei Stunden braucht, um sich selber aus einer Lawine zu befreien. Als Bergführer instruierte er in Lawinenkursen das übliche Schneeprofil-Verfahren, das damals als die wissenschaftliche Methode galt. Das habe ihn innerlich zerrissen, weil er spürte, dass dieser Weg in die Irre leitet. Seine intensive Beschäftigung mit dem Phänomen Lawine führte ihn zur Erkenntnis, dass man Lawinenabgänge als zufällige Ereignisse begreifen muss. Er begann sich intensiv mit dem Phänomen des Zufalls und mit Wahrscheinlichkeiten zu beschäftigen. Er suchte nach Wegen, den Zufall zu überlisten. Nicht absolute Sicherheit könne das Ziel sein, sondern maximale Risikoreduktion. Das sei eine wissenschaftliche Fragestellung. Man müsse dafür die Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung anwenden. Voraussetzung dafür ist eine genügend grosse Datenbasis. Die ist glücklicherweise vorhanden. Seit 1940 sind die Lawinenunfälle in der Schweiz ausführlich dokumentiert.

Munter analysierte Hunderte von Lawinenunfällen und kam zum Schluss, dass es fünf...

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