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Liberalismus oder Staatsintervention

Die Geschichte der Versorgungspolitik im Schweizer Bundesstaat

AutorMaurice Cottier
VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl216 Seiten
ISBN9783038100157
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,20 EUR
Eine sichere und ausreichende Versorgung von Bevölkerung und Wirtschaft mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen gehört zu den grundlegenden Herausforderungen eines jeden Staates. Diese Aufgabe hat der moderne Bundesstaat in der Zeit seines Bestehens mit unterschiedlichen Konzepten zu erfüllen versucht. Erstmals werden die historischen Stationen der schweizerischen Versorgungspolitik von 1848 bis in die heutige Zeit umfassend nachgezeichnet und in den Kontext der allgemeinen Schweizer Geschichte gestellt. Die Versorgungspolitik wird dabei kultur- und ideengeschichtlich im Spiegel der Wirtschaftspolitik reflektiert.

Maurice Cottier (* 1981) Historiker. Von 2010 bis 2011 war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement tätig, seit September 2012 ist er Doktorand am Historischen Institut der Universität Bern und schreibt seine Doktorarbeit im Rahmen des SNF-Forschungsprojekts «Fatale Gewalt im urbanen Raum: Bern 1850-1930».

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Leseprobe

Liberale Versorgungspolitik der Gründungszeit


2.1 Liberale Wirtschaftspolitik als Versorgungspolitik


Auf den ersten Blick scheint es, als hätten die liberalen Gründungsväter des Bundesstaats die Versorgungsfrage ignoriert. Anders als die Ordnungen des Ancien Régime unterhielt der neue Bundesstaat keine eigenen Kornhäuser mehr; der Getreidehandel wurde vollständig liberalisiert und die Getreidezölle wurden per Gesetz auf ein Minimum reduziert.1 Die Verfassung von 1848 enthielt keine expliziten Grundsätze zur Bekämpfung von Versorgungskrisen. Somit gab es weder Versorgungsinstitutionen noch eine Versorgungsgesetzgebung.

Drei Jahre nach der Staatsgründung beschrieb der liberale Bundesrat die wirtschaftliche Situation des Landes wie folgt: «Auf dem europäischen Kontinent ist kaum ein Land wie die Schweiz, das so wenig im Stande ist, seine Bedürfnisse aus eigenem Boden zu erzeugen, das daher in so hohem Grade interessiert ist, dass es seine Konsumgegenstände, seine Rohprodukte wohlfeil beziehen […] kann.»2 Diese Aussage zeigt, dass sich der Bundesrat sehr wohl mit der Versorgung des Landes auseinandersetzte. Die Liberalen waren für Versorgungsfragen durchaus sensibilisiert und hatten eine klare Vorstellung davon, wie man die Versorgungssicherheit des Landes gewährleisten wollte. Die zitierte Aussage des Bundesrats trifft den Kern der liberalen Versorgungspolitik. Kurz: Es ging darum, Bedingungen zu schaffen, um «Konsumgegenstände» und «Rohprodukte» dauerhaft, sicher und günstig aus dem Ausland beziehen zu können.

In der Tat war die Versorgung des jungen Staats krisengefährdet. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Schweiz noch grösstenteils ein weitgehend durch traditionelle Strukturen geprägtes Agrarland. Versorgungskrisen wurden vor allem durch klimabedingte Missernten verursacht. Das gesamte vormoderne Europa war chronisch von solchen unwetterbedingten «Krisen alten Typs» bedroht.3 Dabei bildete die Schweiz keine Ausnahme. Das Jahr 1816 gilt als das Jahr ohne Sommer, und auch der darauf folgende Sommer war kalt und verregnet. In der Ostschweiz (und im süddeutschen Raum) verursachte dies verheerende Hungersnöte. Aber auch in den übrigen Gebieten der Eidgenossenschaft kam es zu Nahrungsmittelknappheiten.4 1846 und 1848, unmittelbar vor der Gründung des Bundesstaats, erschütterte eine europaweite Kartoffelfäule auch die Schweiz.5 Ein krisenbedingter Mangel an Lebensmitteln und Hunger waren im jungen Bundesstaat noch sehr präsente Erfahrungen.

Die liberale Versorgungspolitik hatte aber nicht nur rückwärtsgewandt die Krisen alten Typs im Blick. Im 19. Jahrhundert wandelte sich die Schweiz kontinuierlich von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft. Dies rief jedoch eine neue, moderne Gefahr für die Versorgung hervor, denn durch ihre hohe Abhängigkeit von Rohstoffimporten war die aufstrebende Schweizer Industrie von Anfang an auf einen kontinuierlichen Nachschub aus dem Ausland angewiesen.

Wie ging nun aber der junge Bundesstaat diese beiden Seiten des Problems bei der Versorgungssicherung an? Für die Beantwortung dieser Frage ist die Feststellung entscheidend, dass die Versorgungspolitik des jungen Bundesstaats widerspruchslos in der allgemeinen liberalen Wirtschaftspolitik aufging. Dies erklärt auch, weshalb die Versorgungspolitik weder eine eigene Gesetzgebung noch eigene Institutionen kannte. Seit Adam Smiths’ The Wealth of Nations gründete die liberale Wirtschaftspolitik auf den Prinzipien der individuellen wirtschaftlichen Freiheit, des freien und internationalen Handels, der internationalen Arbeitsteilung sowie auf offenen, effizienten und günstigen Verkehrswegen.6 In diesem Sinn war die wichtigste wirtschaftspolitische Regelung der Bundesverfassung von 1848 die weitreichende Handels- und Gewerbefreiheit und damit einhergehend die strikte Trennung von privater und öffentlicher Sphäre.7 Gleichzeitig wurden in der Schweiz die Grundlagen für einen einheitlichen Wirtschaftsraum geschaffen, indem innerhalb der Eidgenossenschaft sämtliche kantonalen Zölle abgeschafft und eine gemeinsame Aussenhandelspolitik eingeführt wurden.

Diese Grundsätze bestimmten denn auch die Politik, welche die Versorgung durch günstige und gesicherte Importe zu gewährleisten hatte. Die Bundesverfassung bestimmte, dass «[d]ie für inländische Industrie erforderlichen Stoffe […] möglichst gering zu taxiren» seien. Gleiches galt für «die zum nothwendigen Lebensbedarf erforderlichen Gegenstände».8 Niedrige Zölle und internationale Handelsverträge sollten den freien Handel mit Getreide anregen. Dabei gingen die Liberalen davon aus, dass die freie Konkurrenz der privaten Händler im Fall einer regionalen Getreideknappheit den raschen Nachschub sicherte. Nach liberaler Auffassung bewahrten die freigesetzten Marktkräfte im Fall regionaler schlechter Ernten – den Krisen alten Typs – das Land vor Lebensmittelknappheit und Teuerung.9 Auch bei den industriellen Rohstoffen wollten die Liberalen so eine dauerhafte Versorgung sicherstellen, die gleichzeitig allgemeinen wirtschaftlichen Wohlstand schaffen und vor Krisen schützen sollte. In der liberalen Gründungszeit des Bundesstaats ging so die Versorgungspolitik vollständig in der Wirtschaftspolitik auf. Zwischen der Art und Weise, wie das Land Wohlstand erlangen und wie es gegen Versorgungskrisen geschützt werden sollte, bestand kein Widerspruch.

Für die praktische Umsetzung der liberalen Wirtschafts- und Versorgungspolitik war der Bau von Eisenbahnen die entscheidende Voraussetzung. Überall auf der Welt entstanden Schienennetze. Die Bahnen revolutionierten die räumliche und zeitliche Dimension des Güteraustauschs. Im Zeitpunkt der Gründung des Bundesstaats hatte die Schweiz jedoch beim Eisenbahnbau akuten Nachholbedarf.10 Der Bau eines umfassenden Netzes stand deshalb zuoberst auf der liberalen Agenda, und die Eisenbahnfrage bestimmte weitgehend das politische Programm in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Gründung des Bundesstaats.

Abbildung 1:
Bau des Piantorino-Viadukts für die Gotthardbahn in den späten 1870er-Jahren. Die liberale Versorgungspolitik stützte sich wesentlich auf günstige Importe zur Stärkung der einheimischen Wirtschaft und zur Überbrückung regionaler Ernteausfälle. Ein zunehmend dichteres Eisenbahnnetz, auf dem grosse Gütermengen kostengünstig transportiert werden konnten, verband die Schweiz mit dem Ausland.

Der Geschäftsführungsbericht des Bundesrats von 1868 illustriert exemplarisch, wie verwoben Eisenbahnbau, Versorgungssicherheit und Wirtschaftswachstum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren: «Bei diesem Anlasse hatten wir alle Ursache, uns zu dem Verkehrsmittel der Eisenbahnen Glük zu wünschen. Hätten wir diese nicht zur Verfügung gehabt, so würde der Bezug der Vorräthe aus dem Osten Europas für uns, wenn nicht unmöglich, doch nur unter Bedingungen erhältlich gewesen sein, wodurch die herrschende Theuerung noch empfindlich erhöht worden wäre.» Die Eisenbahnverbindung zu den Kornkammern Osteuropas befreite die Schweiz von der traditionellen Versorgungsgefahr, die von regionalen Ernteausfällen ausging.

Sie ermöglichte in den Augen des Bundesrats aber noch mehr. Denn unmittelbar im Anschluss an die oben zitierte Passage nennt er die allgemeinen wirtschaftlichen Vorteile, welche die Schienenverbindungen bringen: «Die fortschreitende Entwicklung des ungarischen und überhaupt des osteuropäischen Eisenbahnnezes, das diesen in der Regel äusserst fruchtbaren Gegenden einen von Jahr zu Jahr wachsenden Wohlstand sichert, uns aber vor Theuerung schützt und niedrige Warenpreise in Aussicht stellt, wird zur Folge haben, dass unser Land immer mehr auf die Kultur des Futterbaues, also auf Viehzucht, Käse- und Milchprodukten angewiesen wird. Bereits zeigt sich in dieser Richtung bei unsern Landwirthen eine vermehrte Thätigkeit, und die seit einiger Zeit fortgesezten Versuche zum Exporte von kondensirter Milch in grössern Quantitäten scheinen zu höchst befriedigenden Ergebnissen führen zu wollen. Der Verkehr mit den Nachbarstaaten zeigt ebenfalls eine steigende Tendenz. Die auffallendste Zunahme notieren wir bei Oesterreich, da seit 1866 der Waarenverkehr mit diesem Lande sich mehr als verdoppelt hat. Wir geben uns der Hoffnung hin, der mit dem Beginne des laufenden Jahres ins Leben getretene schweizerisch-oesterreichische Handelsvertrag werde, den Erwartungen entsprechend, die bisher bestandenen, so unbedeutenden Handelsbeziehungen in einer für beide Länder erspriesslichen Weise mehr und mehr entwickeln.»11 Der Bericht bestätigt die Versorgungspolitik des liberalen Bundesstaats, die vollständig in seiner allgemeinen Wirtschaftspolitik aufging. Privatwirtschaft, grenzüberschreitender Handel, günstige und effiziente Verkehrswege und internationale Arbeitsteilung führten in der Vorstellung der liberalen Eliten nahtlos von der Verhinderung von Nahrungsmittelknappheit zur Vergrösserung von nationalem Wohlstand. Diese Entwicklung wurde in den 1860er-Jahren durch multilaterale Handelsabkommen gestärkt.12

Der Bericht verweist zudem auf einen weiteren wichtigen Aspekt der liberalen Versorgungspolitik. Die Idee der internationalen Arbeitsteilung, der Eisenbahnbau und der dadurch intensivierte grenzüberschreitende Handel veränderten zunehmend auch die Schweizer Landwirtschaft. Die Eisenbahnen brachten das ausländische Getreide zuerst bis an die Grenzen und ab den 1850er-Jahren ins Landesinnere, wodurch es billiger angeboten werden konnte. Die Preisspanne zwischen Getreide und tierischen Produkten, die sich seit den 1830er-Jahren ausweitete, vergrösserte sich in den 1860er-, vor allem aber...

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