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Die Bedeutung des Milizsystems für die Schweiz und ihre politische Kultur
Der flexible Mensch und die Talgenossenschaft
Georg Kohler
Milizprinzip und politische Kultur
Bürgerengagement ist unerlässlich für die direkte Demokratie
Notwendige Anpassung an eine veränderte Realität
Miliz macht Mühe
Martin Heller
Hintergründe
Eine Art Milizprinzip
Die Landesausstellung
Anschauliche Prägnanz
Einsichten
Ballast abwerfen
Das Programm
Rückenwind für Amateure
Hans Geser
Berufe: Restbestände einer früheren, ständischen Gesellschaftsform?
Beruflichkeit als Ursache sozialer Spannungen und Konflikte
Drei Quellen der Entberuflichung in der modernen Gesellschaft
Zur Modernität kommunaler Milizstrukturen
Optimistischer Ausblick
Der flexible Mensch und die Talgenossenschaft
Georg Kohler
Die Schweiz sei auf das Milizsystem angewiesen, schreibt Georg Kohler. Als Teil eines engen Geflechts von Institutionen und kollektiven Einstellungen präge es die politische Kultur des Landes, die sich durch Egalitarismus, Eigenverantwortung, Non-Zentralismus sowie Solidarität und Kompromissbereitschaft auszeichne. Da das Milizsystem durch Individualisierung und Globalisierung unter Druck stehe, seien auch diese Wesensmerkmale der Willensnation Schweiz in Gefahr. Eine Erneuerung des Milizsystems sei deshalb nötig. Dies entspricht dem Idealtyp einer «genossenschaftlich-liberalen, republikanischen Schweiz» in der abschliessenden Diskussion (siehe S. 196, «Welche Schweiz wollen die Schweizer?»). AM
Subsidiarität, Gemeindeautonomie, Föderalismus, Milizprinzip und direkte Demokratie sind Schlüsselbegriffe im politischen Selbstverständnis der Schweiz; dieser Nation, die sich gern als «Eidgenossenschaft» bezeichnet, als einen «Bund der Eidgenossen», in dem der Titel «Staat» nur den Kantonen, nicht aber der Zentralgewalt zusteht. Die Schweiz ist CH: confoederatio helvetica, Republik der Bürger und Bürgerinnen und Bund von sechsundzwanzig staatlichen Körperschaften.
Was vielen Zeitgenossen nur noch wie eine antiquierte Litanei vorkommt, umreisst – trotz allem – zentrale Problemfelder gegenwärtiger Politik. Die erfolgreiche Selbst- und Zukunftsgestaltung des Landes hängt nicht zuletzt davon ab, ob es ihm gelingt, seine kollektivhistorischen Bestände, die von den genannten Begriffen erinnert werden, mit notwendig gewordenen Verschiebungen institutioneller und identitätspolitischer Art in Einklang zu bringen. Dass Anpassungen notwendig sind, wird niemand leugnen, der den seit bald einem Vierteljahrhundert grundlegend geänderten Kontext beachtet, in dem sich unser Land zu behaupten hat.
Hier können weder diese neuen gesellschaftlichen und politischen Umweltbedingungen hinreichend genau analysiert noch die starken und komplizierten Zusammenhänge umfassend durchleuchtet werden, die sowohl zwischen den erwähnten innenpolitischen Kategorien (Föderalismus, Milizprinzip, direkte Demokratie) als auch mit deren aussenpolitischen Komplementären (Neutralität, militärische Eigenständigkeit, Souveränität) bestehen. Wichtig ist jedoch die Einsicht, dass wir es stets und sehr schnell mit einem intrinsisch wirksamen Ideengeflecht zu tun bekommen, mit einem Netzwerk von Voraussetzungen und Interessenbalancen, das es verunmöglicht, ein einzelnes Gestaltungsprinzip herauszulösen und für sich allein zu betrachten.
Um ein Beispiel zu geben: Die aussenpolitische Leitfigur der Neutralität hatte immer schon eine höchst innenpolitische Funktion. Ohne die Neutralität wären nämlich die deutsche und die romanische Schweiz immer wieder in tiefe Konflikte geraten; ohne militärische Deckung wäre Neutralität aber nicht mehr als ein leeres Etikett geblieben, was sogleich auf das schweizerische Volksheer und sein Milizprinzip verweist – dessen Effektivität auf einem föderalen Gemeinsinn basiert und so weiter. Beim Thema «Milizprinzip und direkte Demokratie» geht es also um einen Ausschnitt aus einem dichten System von expliziten Institutionen und – vorwiegend impliziten – kollektiven Einstellungen.
Dieses Verhältnis von Milizprinzip und direkter Demokratie möchte ich in drei Hinsichten erörtern: Unter dem Aspekt seiner traditionellen, «klassischen» Gestalt; unter dem Aspekt seiner nach wie vor gegebenen Unabdingbarkeit im Rahmen des schweizerischen Basiskonsenses und der von ihm geprägten politischen Kultur, einer Verbindung, die freilich an vielen Stellen in Widerspruch geraten ist mit allgemeinen Zivilisationstendenzen, die auch die Schweiz bestimmen; schliesslich unter dem Aspekt notwendiger Anpassungen von Milizprinzip und direkter Demokratie an die gegebenen Wirklichkeiten – Anpassungen, die in der von vielen konservativen Impulsen geprägten Schweiz nicht ohne Mentalitätsumstellungen und schwierige institutionelle Entscheidungen zu haben sein werden.
Milizprinzip und politische Kultur
Gesellschaften, menschliche Grossverbände, brauchen Institutionen, d. h. ausdrücklich formulierte Regeln, deren Geltung nicht zuletzt von den Sanktionen abhängt, die eine Regelverletzung nach sich zieht. Ohne sanktionsbewehrte Gesetze gibt es keine dauerhafte soziale Ordnung. Gleichwohl liefern nicht sie das eigentliche Fundament gesellschaftlicher Stabilität. Denn Sanktionen allein reichen nie aus, um eine Gemeinschaft auf das geregelte, einigermassen zwanglose, durchschnittlich friedliche Zusammenleben ihrer Angehörigen zu verpflichten. So etwas gelingt erst dann, wenn bei den Menschen, die die kollektive Einheit bilden, auch die Überzeugung herrscht, dass die Institutionen und deren Organe und Wirkungen im Grossen und Ganzen anerkennenswert, begründbar gerecht, erscheinen. Max Weber nennt diese Basis der (politischen) Körperschaft den «Legitimitätsglauben» ihrer Mitglieder. Dessen Inhalte, Wertannahmen und – mehr oder weniger stillschweigenden – Orientierungen bilden in ihrer Gesamtheit das, was wir die politische Kultur eines rechtlich institutionalisierten Verbandes – eines Landes, eines Staates – nennen.
Worin besteht nun die politische Kultur der Schweiz, des «Bundes der Eidgenossen»? Ich will hier ein Dokument aufgreifen, das auf einleuchtende Weise die zentralen Elemente nennt. Es ist die im Jahr 2000 gehaltene 1.-August-Rede von Bundesrat Kaspar Villiger auf dem Rütli (Villiger 2000).1
1 Zitiert nach der gekürzten Fassung, die am 2. August 2000 in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschienen ist.
Um den Ursprung und das Leitproblem des klassischen Modells der schweizerischen politischen Kultur anschaulich zu machen, greift Villiger historisch weit zurück:
«Es spricht einiges dafür, dass viel, was den Sonderfall Schweiz ausmacht, seine Wurzeln vor und in der Zeit des Bundesbriefes hat. […] Die politische Keimzelle ist nicht die Familie oder der Weiler oder das Dorf, sondern die Talschaft. Es gibt Gemeinschaftsaufgaben, und im Tal bildet sich eine Schicksalsgemeinschaft. Es gilt die Interessen der Talschaft nach aussen zu vertreten. Das braucht Entscheidungs- und Ausführungsorgane. Das alles findet in der Talgenossenschaft den institutionellen Ausdruck. […] Es ist auffällig, dass gewisse Verhaltensweisen unseres Volkes im Laufe seiner Geschichte jenen Verhaltensweisen ähneln, welche die Talgenossenschaften der Urschweiz entwickelt haben. […] In der Talschaft war ein begrenzter Kreis von Menschen aufeinander angewiesen. Dieser Kreis war nach innen zu besorgen und nach aussen zu sichern. Das Sichkümmern aller um dieses Gemeinwesen ging sozusagen in Fleisch und Blut über. Nach innen entwickelte sich die genossenschaftliche Idee, nach aussen der Widerstand. Nichts von Belang wird aus der Verantwortung entlassen. Das Volk wird sozusagen durchgehend politisiert.»
Villigers Rückgriff auf die hochmittelalterliche Urschweiz, um den kollektivhistorischen Kern der Mentalität freizulegen, die die politische Kultur des Landes prägt, wäre wissenschaftlich durchaus zu untermauern. Darauf will ich verzichten. Doch abgesehen von der Genealogie ist im Stichwort «Talgenossenschaft» vieles zu erkennen, was die traditionelle Gestalt des helvetischen common sense charakterisiert:
– der egalitaristische Anspruch, der einerseits verlangt, dass jeder Bürger, jede Bürgerin in möglichst umfassender Weise Teil des Souveräns ist, der anderseits aber scharfe Wir/ihr-Unterscheidungen impliziert; denn wer nicht zur Gemeinschaft gehört, der soll auch nichts für und über sie zu bestimmen haben;
– die non-zentralistische, föderalistische Einstellung der «talgenossenschaftlichen» Vereinigungen untereinander; denn wer für grösstmögliche Selbstverantwortung optiert, der muss diese den anderen nicht weniger als sich selber zumuten;
– die, trotz allem, gegebene diversitätsfreundliche Solidar- und Kompromissbereitschaft im Rahmen der föderalen Gemeinsamkeiten; denn bei allem Eigensinn sind sich die verschiedenen «Talgenossenschaften» (sprich: Kantone) der Tatsache bewusst, dass sie ihre spezifischen Qualitäten nur zusammen mit den anderen gegen eine als fremd wahrgenommene Umwelt bewahren können.
Die genannten Elemente fügen sich zu einer Konzeption, die deutlich macht, dass und warum die Institutionen der direkten Demokratie, des subsidiären Staatsaufbaus,...