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Herzensbildung

Ein Plädoyer für das Kapital in uns

AutorAnselm Bilgri
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783492975896
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wissen ist Macht, heißt es, und gut ist, was man jederzeit abrufen und messen kann - vor allem in ökonomischer Hinsicht. Wir leben in einer Welt der Zahlen und Formeln, Zeit ist Geld, Erfolg rein materiell. Im Angesicht der Krise wird deutlich, welchen monströsen Götzen wir opfern. Der ehemalige Benediktinermönch und Bestsellerautor Anselm Bilgri erinnert unsere Wissens- und Informationsgesellschaft an ein anderes Bildungsideal: die Herzensbildung. Im Vordergrund stehen die sozialen, emotionalen, kommunikativen, religiösen und künstlerischen Fähigkeiten des Menschen. Herzensbildung ist nicht unmittelbar zweckgerichtet, sondern zielt auf die Entfaltung von Persönlichkeit und die Formung unseres Wesens. Sodass das, was die alten Philosophen unter Glückseligkeit verstehen, überhaupt erst möglich wird.

Anselm Bilgri, geboren 1953, war bis 2004 Benediktinermönch, Cellerar und Prior des Klosters Andechs. Heute wirkt der 'Gratwanderer zwischen Kirche und Welt' als Vortragender, Buchautor, Coach und Mediator. und ist Mitgründer der Akademie der Muße. Bei Piper erschienen seine Bücher 'Finde das rechte Maß', 'Stundenbuch eines weltlichen Mönches', 'Herzensbildung' und 'Vom Glück der Muße'.

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Leseprobe

LIEBE


für die
Ego-Gesellschaft


  

»Liebe und tu, was du willst!«

AUGUSTINUS

Seit der Aufklärung, also seit der Zeit, die wir die Moderne nennen, strebt der Mensch nach der Freiheit von Bindungen. Ging es zunächst darum, Gebundenheiten an vorgegebene Autoritäten und Strukturen zu überwinden, etwa im feudalistischen Ständestaat mit seinen seit Jahrhunderten gewachsenen gegenseitigen Abhängigkeiten und Privilegien, so durchdrang die Idee der Freiheit und Ungebundenheit des Individuums immer mehr den Bereich der persönlichen Lebensgestaltung. Individualismus nennen wir dieses Phänomen. Man denke nur an die Freiheit bei der Partner- und Berufswahl, die es in einem derart hohen Maße wie zu unserer Zeit nie in der Geschichte menschlicher Gesellschaften gegeben hat. Früher bestimmten die Herkunftsfamilie und ihr gesellschaftlicher »Stand« den zukünftigen Ehepartner und den »zünftigen« Beruf. Heute erleben wir dies in der Regel nur noch in der Begegnung mit anderen Kulturen, in Zeiten der Migration oft vor der eigenen Haustüre. Den langen Weg, den unsere Gesellschaft hier zurückgelegt hat, erfahren wir bewusst, wenn etwa der türkische Nachbar erzählt, dass seine Verwandten in der Heimat die Braut für ihn ausgesucht haben. Wir mögen ihn – und uns – dann fragen: Wo bleibt die Liebe? Und meinen damit unseren modernen, von der freien Wahl des Lebenspartners geprägten Begriff. Für unsere Großeltern hatte dieser Begriff auch noch einen anderen Klang, das merkte ich während meiner Jahre als Pfarrer in dem sehr ursprünglich gebliebenen Dorf Machtlfing, von Andechs aus Richtung Feldafing gelegen. Wenn ich bei meinen Gesprächen mit den älteren Dorfbewohnern, zu deren Jugendzeit diese Form der Lebenspartnerwahl noch durch andere Kriterien wie die Größe des Hofes und Anzahl des Viehs im Stall bestimmt wurde, nach der Liebe fragte, so antworteten sie oft, sie sei mit der Zeit schon gewachsen. Das Wort Liebe hat hier eine andere Bedeutung.

Was also meinen wir, wenn wir von Liebe sprechen? Thomas von Aquin, der große Gelehrte des christlichen Mittelalters und bestimmende Theologe bis ins 20. Jahrhundert herein, hat die Liebe mit dem Willen in Verbindung gebracht. Er nennt die Liebe sogar eine Tugend des Willens. Für den deutschen Philosophen und Thomas-Experten Josef Pieper bedeutet Liebe so viel wie gutheißen. »Jemanden oder etwas lieben heißt: diesen jemand oder dieses Etwas ›gut‹ nennen und, zu ihm gewendet, sagen: Gut, dass es dich gibt; gut, dass du auf der Welt bist!« Diese Gutheißung ist eine Willensäußerung. Sie hat den Sinn: Ich will, dass es dich, dass es das gibt!

Für uns Heutige scheint diese Verbindung nur schwer nachvollziehbar zu sein, ist der Bereich des Willens doch eher gegen den Affekt, also das Gefühl der Liebe gerichtet. Wille hat nach unserem modernen Empfinden mehr mit Leistung, Anstrengen, Tun, Erfolg, Selbstverwirklichung zu tun. Mehr mit dem Ich als mit dem Du. Das Wollen vermittelt eher rationale Kühle als gefühlsmäßige Wärme. Der Wille scheint zuerst auf den eigenen Vorteil bedacht und nicht auf das Wohlergehen des anderen. Wir sprechen nicht von ungefähr von der Ego-Gesellschaft, die sich breitzumachen scheint, im Gegensatz zur Solidargemeinschaft der oft diskreditierten Sozialromantiker. Damit verbunden konstatiert man dann die soziale Kälte der modernen, von Wettbewerb und Ökonomie bestimmten Lebenseinstellung, versehen mit dem Etikett des Neoliberalismus.

Damit schließt sich der Kreis zum Ausgangspunkt unserer Überlegung, der Freiheit des Individuums. Sie zu verwirklichen und bis zu den Grenzen auszuloten, das scheint die Maxime unserer Zeit zu sein. »Das Prinzip Eigennutz«, so ein vielzitierter Buchtitel eines bekannten Verhaltensforschers, steht am Anfang der biologischen Entwicklung des Lebens hin zu sozialen Verbänden von Lebewesen, die gerade im Miteinander ihre Individualität schützen und bewahren.

  

Liebe heißt, Sorge für sich und
andere tragen


Betrachten wir zunächst den Begriff der Selbstverwirklichung: Er bezeichnet die Erweiterung des Entfaltungsspielraums menschlicher Personen in Abgrenzung zur Fremdbestimmung und gehört damit wesentlich zum Prozess der Identitätsfindung in der Entwicklung des Menschen zu einer reifen, erwachsenen Persönlichkeit. Sah man in der vormodernen Zeit die Aufgabe des Einzelnen im Nachahmen vorbildlicher Personen, im Übernehmen von vorgegebenen Ordnungen und der Erfüllung rollenspezifischer Pflichten, so gelten heute vor allem Selbstannahme, Selbstwerdung in der Bildung und Autonomie als Leitwerte moderner Gesellschaften. Aber besonders in Krisensituationen und Phasen, in denen wichtige berufliche und private Weichenstellungen vorgenommen werden, wird deutlich, dass der Einzelne auf andere angewiesen ist, dass die Verwirklichung des eigenen Selbst durch eine Gemeinschaft gestützt ist. Gelangt man zu dieser Einsicht, wird jeder Einzelne erkennen, dass er neben der Eigenverantwortung verpflichtet ist, sich um die anderen und das Wohl des Ganzen zu sorgen.

Bei dem großen deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, Martin Heidegger, wird der Begriff der Sorge zu einer der Grundbestimmungen des menschlichen Daseins. In der Beziehung zur Umwelt ist für Heidegger »das Dasein ein Besorgen«, in der Beziehung zu den Mitmenschen ist es Fürsorge. Das Wort Fürsorge hat heute einen etwas angestaubten Hautgout staatlicher oder kirchlicher Sozialarbeit angenommen, auch wenn im Zuge der Entwicklung des Sozialstaatsgedankens das frühere Fürsorge-Wesen in Wohlfahrtspflege oder Sozialhilfe umbenannt wurde. Die Fürsorge verlor damit ihren Almosencharakter und wandelte sich in einen Rechtsanspruch des Einzelnen, basierend auf Gerechtigkeit und nicht auf freiwilliger Barmherzigkeit.

Diese Akzentverschiebung in der Bedeutung des Begriffs Fürsorge macht gleichzeitig auch ein Problem unserer individualisierten Gesellschaft offenbar. Das Interesse am Leben des anderen nimmt ab. Immer wieder schrecken uns Meldungen auf, dass einsam verstorbene Menschen erst nach Wochen oder Monaten in ihren Wohnungen aufgefunden werden. Offensichtlich wurden sie von den Menschen ihrer Umgebung nicht vermisst. Oder die zunehmende Unfähigkeit junger Eltern, mit den Erziehungsproblemen schon bei Kleinkindern fertig zu werden. Die in letzter Zeit vermehrten Meldungen über Misshandlungen von Babys und Kleinkindern nimmt die bestürzte Umgebung erst wahr, wenn das Kind im wahrsten Sinn des Wortes schon in den Brunnen gefallen ist. Alle Welt einschließlich der Sozialämter wundert sich dann, wie es möglich war, diese Missstände über lange Zeit hinweg nicht zu bemerken. Die Sorge um andere, ohne sie in der Freiheit ihrer Lebensführung einzuengen, muss wieder zu einem ganz neuen Postulat moderner Gesellschaften erhoben werden, gerade weil die familiären Bindungen und Fürsorgepflichten immer weniger zu greifen scheinen. Auch, wenn es eine Gratwanderung sein wird zwischen der Sozialkontrolle früherer kleinräumiger Lebensgemeinschaften in Nachbarschaften, Dörfern, Milieus und der heute weitgehend beklagten Anonymität nicht nur in Großstädten.

Dass es Not tut, der Fürsorge wieder einen anderen Stellenwert zu geben, zeigt vor allem unser Umgang mit Alten, Kranken und Behinderten, gerade angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerung auf der Nordhalbkugel unserer Erde. Das vierte der zehn Gebote machte das Kümmern um alt gewordene Eltern zur ethischen Pflicht der hebräischen Nomadengruppen. Von archaischen Gesellschaften kennen wir aber auch andere Formen der Altenpflege: Es gab und gibt durchaus die Gepflogenheit, alte und damit zur Last gewordene Angehörige einfach am Wegesrand oder auf Bergeshöhen auszusetzen, um die nachfolgenden Generationen unbelastet ihrer Wege ziehen zu lassen. Derartige Verhaltensweisen sind unserer vom Christentum geprägten abendländischen Kultur inzwischen fremd und verabscheuungswürdig geworden. Wie aber heute mit der Frage nach der Fürsorge umgehen, in einer Gesellschaft, die das selbstbestimmte Leben des Individuums so hoch schätzt?

Auch an der anderen Grenze des Lebens, im Bereich der Zeugung, Geburt und Erziehung des Nachwuchses gibt es weitere, mit der Entwicklung vom Wissen um das biologische Prinzip des Lebens auf uns zukommende Probleme der Sorge. Ganz neu sind die ethischen Fragen der Familienplanung nicht. Verhütung, Abtreibung und Kindstötung waren schon immer Optionen der Geburtenkontrolle, wobei vor allem die letzten beiden durch das Christentum sanktioniert wurden. Neu sind jedoch die pharmazeutischen, medizinischen und genetischen Möglichkeiten in Gegenwart und Zukunft. Plötzlich erhebt sich wieder die Frage nach dem lebenswerten Leben, die mit dem Ende des Nationalsozialismus (wie übrigens auch die Frage der Euthanasie) erledigt schien. Wird durch den Vergleich der Erbsubstanzen bei Vater oder Mutter oder durch die vorgeburtliche Untersuchung eines Fötus eine schwere Behinderung festgestellt, wird die Frage aufgeworfen: Was ist mehr wert, das Leben des Kindes und seine »eingeschränkten« Chancen oder das unbeschwerte Zusammenleben einer glücklichen Familie?

Die Frage nach dem Glück des Menschen stellt sich in diesem Zusammenhang plötzlich ganz neu: Was ist Glück? Ist es das Schicksal (fortuna) des Menschen, das er annehmen muss, oder die Glückseligkeit (vita beata), die er durch sein sinnvolles und zielgerichtetes Tun gestalten soll?

In unserer säkularisierten Welt geht der Maßstab von einer heteronomen Ethik und Moral über zu einer autonomen. Nicht mehr Gott, sondern der Mensch ist das...

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