Im Anschluss an den Kirchentag in Dresden war ich am 19. Juni 2011 in die Talkshow „Anne Will“ eingeladen; das Thema war „Gutmenschen“. Ich habe die Einladung angenommen, weil mich schon lange beschäftigt, dass Begriffe wie „Gutmensch“ und „Weltverbesserer“ so abschätzig verwendet werden. Ja, sollen wir denn alle „Bösmenschen“ und „Weltverschlechterer“ werden oder neudeutsch: Realisten?
Die Sendung war dann ziemlich anstrengend. Der FDP-Politiker Martin Lindner erklärte, ich suggeriere, es gäbe klare (?) Lösungen, „die einfach so von Laien auf der Straße nachvollzogen werden könnten“. Als ich sagte, dass „Selig sind, die reinen Herzens sind“ nicht von mir stamme, sondern aus der Bibel, konterte er: „Das muss dann auch Bibel bleiben und darf nicht den Anspruch erheben, reale Politik zu machen.“ Ähnlich argumentierte der Medienphilosoph Norbert Bolz, der sagte: „An Gutmenschen stört mich nichts, solange das privat bleibt.“
Raus aus den Mauern
Der „Tagesspiegel“ kommentierte am 20. Juni 2011: „Es ging erst um Margot Käßmann, dann um Winfried Kretschmann, dann wieder um Margot Käßmann. Um Haltungen, Haltungsnoten. Für die Abteilung Attacke hatte sich Will den FDP-Politiker Martin Lindner und den Medienphilosophen Norbert Bolz an die Seite geholt. Lindner erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen, er schimpfte, dass die Käßmänner dieser Welt die Pragmatiker der Politik belächeln, wenn nicht verunglimpfen. Die sollen die ‚Drecksarbeit‘ machen, über die andere im Engelsflug hinwegschweben. Bolz verriet am Anfang seine Klugheit, als er den Kirchenleuten wie Käßmann dringend empfahl, ihre Ratschläge, Kommentare, Bauanleitungen fürs Weltgeschehen hinter den Mauern der Kirche zu belassen. Derartiger Unsinn konnte, musste die ehemalige EKD-Vorsitzende lächeln lassen …“
Das Lächeln fiel mir allerdings schwer. Denn die Attacke empfand ich als heftig. Ich respektiere Politikerinnen und Politiker, wenn sie erkennbar darum ringen, Lösungen für Herausforderungen unserer Zeit zu finden, die sie vor den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch vor ihrem eigenen Gewissen verantworten können. Mir ist klar, dass es da auch Kompromisse geben muss, und mancher Kompromiss ist nicht faul, sondern sehr fleißig errungen. Und dabei gilt: Wer im Hinterkopf hat, was die Bergpredigt als Kontrastgesellschaft beschreibt, nämlich dass die Barmherzigen, die Armen, die mit der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden „selig“ gepriesen werden, wer ein Bewusstsein dafür hat, dass wir Salz der Erde und Licht der Welt sein sollen, gestaltet anders, hat besondere, durch lange Tradition bewährte Maßstäbe, die ihn oder sie leiten. Da geht es nicht zuerst um Sicherheit, Wachstum, Mehrheiten, sondern um Solidarität, den Blick auf die Schwachen, die Suche nach Zukunftschancen für die Jungen.
Aber was soll die Aufforderung, Christinnen und Christen, insbesondere kirchliche Amtsträgerinnen und Amtsträger, sollten hinter Kirchenmauern bleiben? Glauben findet nicht im Abseits statt. Wie wir leben, im Alltag, in Familie, Nachbarschaft, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, darin bewährt sich unser Christsein. Wir fühlen uns aufgefordert, den Mund aufzumachen für diejenigen, die ins Abseits gedrängt werden, deren Würde infrage gestellt wird, uns einzusetzen für Gerechtigkeit, Frieden, die Bewahrung der Schöpfung. Deshalb kann die Kirche auch kein vom Alltag abgeschotteter Raum sein, in dem es vermeintlich um „das Eigentliche“ geht. Das Eigentliche ist das Leben der Menschen, das sie aus Glauben leben und verantworten. Dafür schöpfen sie Kraft in Bibellektüre, Gottesdienst und Gebet, aber es findet mitten in der Welt statt.
Zeugnis der Reformatoren
Mich überzeugt an den Gedanken der Reformatoren besonders, dass sie das Leben mitten in der Welt nicht geringer achten als das Leben im Kloster oder im Zölibat. Als Martin Luther Katharina von Bora heiratete, war es ein Zeichen, dass auch Leben in einer Familie, mit Sexualität und Kindern von Gott gesegnetes Leben ist. Für viele Reformatoren war der Schritt zur Ehe ein theologisches Signal. Die Kirchenhistorikerin Ute Gause erklärt, die öffentliche Heirat von bisher zölibatär lebenden Priestern und Mönchen und Nonnen sei eine Zeichenhandlung gewesen, die „etwas für die Reformation Elementares deutlich machen wollte: die Weltzuwendung und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens“1. Nun wird ja den Evangelischen im Land eher unterstellt, dass sie weniger sinnlich seien als die römischen Katholiken oder die Orthodoxie. Die Reformatoren aber wollten gerade deutlich machen: Weltliches Leben ist nicht weniger wertvoll als priesterliches oder klösterliches. Es ging ihnen um die Umsetzung unseres Glaubens im Alltag der Welt.
Dafür ist von entscheidender Bedeutung das eigene Gewissen, das mich drängt, mein Handeln zu verantworten vor Gott. Das Gewissen ist die innere Stimme, die mir klarmachen kann, was richtig und was falsch ist. Natürlich gibt es hierüber vielfältigste Debatten und Diskussionen von Sokrates bis hin zur Psychoanalyse. Ist es die Religion, sind es die Wertvorstellungen der Eltern oder der Gesellschaft, die das Gewissen bestimmen und formen? Oder ist es die ganz praktische Vernunft, die es prägt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Immanuel Kant). Mit Martin Luther wird das Gewissen zu einer entscheidenden Instanz. An der Bibel wird es geschärft und der einzelne Mensch muss sein Handeln davor verantworten. Keine kirchliche oder weltliche Autorität kann über dem Gewissen stehen.
Die Bibel als Quelle
Das Evangelium weist auf die Sorge für die Schwachen, Witwen und Waisen hin, auf Fremde, die unter uns wohnen, die zu schützen sind. Gerechtigkeit und Frieden sind in großen Bildern der Hoffnung gemalt. Diese Texte können nicht gelesen, über diese Texte kann nicht gepredigt werden ohne Bezug zur Realität unserer Zeit.
Das gilt zuallererst für den einzelnen Christen und die einzelne Christin. Wir sehen diese Welt als Gottes Schöpfung an, als Haus Gottes, Gottes oikos, so das griechische Wort für „Haus“. In diesem oikos sind wir gemeinsam Haushalterinnen und Haushalter, gemeinsam verantwortlich in der einen Familie der Kinder Gottes. Deshalb können wir uns nicht zurücklehnen, solange wir nicht betroffen sind von all der Not und Zerstörung.
Als Christin kann ich nicht einfach resignieren, nach dem Motto: Ich kann doch ohnehin nichts tun, also halte ich mich aus allem raus und richte mich in meinem Leben so bequem wie möglich ein. Das ist einfach, macht weniger angreifbar und verschont vor Verletzungen. Es geht aber um eine Frage der Haltung! Wenn ich als Christin die Welt als Gottes Schöpfung und mich als Gottes Geschöpf betrachte, trage ich auch Verantwortung für diese Schöpfung. Wenn Gott jeden Menschen zum eigenen Bilde geschaffen hat, kann es mich nicht unberührt lassen, wie es anderen Menschen ergeht. Wenn Gerechtigkeit biblisch gesehen der Maßstab für gelingendes Zusammenleben ist, muss ich mich fragen, was ich für die Gemeinschaft tun kann. Wenn Leben in Fülle verheißen ist, werde ich darum ringen, mein Leben sinnvoll und in Fülle zu leben und dabei auch Sorge dafür tragen, dass genau das anderen in meinem Umfeld, aber auch darüber hinaus möglich ist.
Persönlich bin ich überzeugt, dass der christliche Glaube mir einen offenen Blick auf die Welt ermöglicht. Ich kann in aller Freiheit Menschen und die Welt anders als üblich wahrnehmen, weil ich sie als Geschöpfe Gottes sehe und nicht festgelegt bin in vermeintlich unüberwindbare Zwänge. Das gibt mir auch die Freiheit zu sehen, wo ich eingebunden bin in Lebensumstände und Gesellschaft. Ich habe ein Einkommen, mit dem ich das Studium meiner Kinder finanzieren konnte, eine Wohnung, freue mich, ein neues Kleid zu kaufen, essen zu gehen – und bin sehr dankbar dafür, bin mir bewusst, wie privilegiert ich leben darf. Diese Lebensfreuden werden mir aber nicht abgesprochen im Glauben. Um Lebensfülle darf es doch gehen! Doch ich sollte auch Distanz genug haben, um zu fragen, was mein Leben im Kern ausmacht.
Der bewegendste Bibeltext zum Thema findet sich im Gleichnis vom Weltgericht beim Evangelisten Matthäus:
Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen
(Mt 25,35–36).
Jesus stellt klar: Wo wir Fremde aufnehmen, Armen beistehen, Kranke besuchen, Gefangene unterstützen, da begegnen wir ihm selbst! Das ist letzten Endes eine sehr überraschende Antwort für Menschen, die heute nach Gott fragen. Geh hin zu denen, die am Rande stehen, da findest du Gott! Das wird nicht so gern gehört. Aber es wird immer wieder erlebt. Wenn ich Asylsuchende besuche und ihre Freude über die Wahrnehmung erlebe, bewegt mich das. Wenn ich die Hand eines kranken Menschen halte, spüre ich innere Ruhe. Wenn ich im Gefängnis erlebe, was es jemandem bedeutet, dass ich ihm Würde nicht abspreche, nehme ich etwas wahr von Gottes Zuwendung. Das sind doch Herausforderungen für uns heute!
Ich kann diesen Text, die Zehn Gebote, die Seligpreisungen, die Prophetenworte, die Gleichnisse Jesu nicht lesen, ohne sie auf meinen Kontext zu beziehen. „Die Kirche“, das sind Christinnen...