Der Wikinger, der ein Nordafrikaner war – oder Lex Barker?
Schon immer wollte ich wissen, wie es ist, ein Elefant zu sein. Als Mensch, geboren von zwei Menschen, war das natürlich eine etwas schwierige Angelegenheit, aber dennoch war ich davon überzeugt, dass man es erfahren könnte. Elefanten schienen mir als Kind vertrauter zu sein als meine eigenen Eltern. Das war aber nicht weiter verwunderlich. Mein Vater trank sehr viel, er war abhängig von Alkohol, und meine Mutter verhielt sich auch nicht so, wie sich eine Mutter nach meiner Vorstellung verhalten sollte. Sie nahm meine beiden Geschwister in Schutz, nicht aber mich. War mit meiner älteren Schwester etwas passiert, war ich die Schuldige, musste man jemanden aus dem Bett scheuchen, um Zigaretten aus dem Automaten zu holen, hatte man mich ins Auge gefasst. Da schien es mir weitaus besser und angenehmer, in eine Elefantenfamilie hineingeboren zu sein. Innerhalb einer solchen gab es, wie ich gelesen hatte, eine große Loyalität, überhaupt waren die Dickhäuter sehr familienbewusst. Wird ein Baby geboren, versammeln sich alle Tanten und Cousinen um Mutter und Kind, um die beiden zu beschützen. Das war ein Familienverbund, wie ich ihn mir immer gewünscht hatte, da gab es nicht diese schreckliche Unberechenbarkeit, der ich ausgesetzt war. Den Launen und Stimmungen meiner Eltern, bedingt durch die eine oder andere Flasche zu viel. Oder was auch immer.
Familie – war das nicht etwas Hochheiliges? Sollten sich nicht alle Mitglieder zusammenraufen und dabei an einem Strang ziehen? Elefanten, so fand ich damals, lebten uns etwas vor, wie es sein könnte, wenn man nicht gerade in Köln zur Welt gekommen war, hineingeboren in eine Familie, die als solche nicht diesen Namen verdiente. Ich hätte deswegen in Märchenwelten flüchten, mich mit Rapunzel und Aschenputtel identifizieren können, aber das waren keine wirklichen Abenteuer, verschanzt hinter Schloss und Riegel. Ich liebte als Ausgleich zu meiner Realität die Natur und die großen Tierrudel. Jack Londons Roman Wolfsblut las ich wieder und wieder. Ein Rudel Wölfe nähert sich hungrig Menschen und ihren Schlittenhunden – warum ich wohl heute so begeistert Schlittenhunderennen fahre!? –, dramatische Szenen ereignen sich. Später werden Wolfsbluts erste Lebensmonate erzählt, wie er sich mehr und mehr den Menschen anpasst, wie er sich hervorragend als Schlittenhund anpasst. Was hab ich geheult, als er dann für ein paar Flaschen Whiskey an einen Mann verscherbelt wurde, der ihn für Kämpfe einsetzte, gegen Luchse und Bulldoggen, bis Wolfsblut dann endlich gerettet wurde.
Mit Geschichten solcher Art konnte ich mich identifizieren – und mit den Erzählungen über Hannibal, diesem sagenhaften Feldherrn aus Karthago, der im Frühjahr 218 v. Chr. während des Zweiten Punischen Krieges mit siebenunddreißig Elefanten von Hispania aus über die eisigen Alpen zog, um dann ein Jahr später in Italien zu stehen und einen blutigen Rachefeldzug gegen die Römer zu führen. Ehrlich gesagt, die militärischen Leistungen interessierten mich damals wenig, auch begriff ich nicht so richtig, was genau die Fehde der Karthager mit den Römern war – viel spannender fand ich, dass in einem Heer von rund 15000 Reitern und 30000 Fußsoldaten (die Angaben wechseln je nach historischer Quelle) Elefanten mitliefen, Tiere der Savannen Afrikas, die sogar bereit waren, Höhen zu erklimmen, vor denen so mancher menschliche Zweibeiner gezögert hätte, wenn er denn nicht gerade begeisterter Hochalpinist ist. Das fand ich nun wirklich loyal von den grauen Dickhäutern, denn sie hatten auch schon vor der Bergbesteigung so einiges geleistet, nämlich einen Gewaltmarsch von der Iberischen Halbinsel aus. Wahrscheinlich lockte man sie mit genügend Futter, und es war auch Gehorsam gegenüber den Elefantenführern mit im Spiel, aber das hatte ich als Kind noch nicht reflektiert.
Eigentlich hätte es von Hispania etwas gemütlicher an der Mittelmeerküste entlang Richtung Rom gehen können, aber diese leichtere Tour wurde dem kriegslüsternen Hannibal letztlich vermasselt. Die Küstenstädte waren zu gut abgesichert, hier konnte man mit Widerstand rechnen. Und welcher Römer käme schon auf die Idee, dass Hannibal spät im Herbst, hoch oben konnte schon der erste Schnee fallen, die Alpen überqueren würde? Das nannte man dann Überraschung. Nicht von ungefähr ist Hannibal bis heute als großer Stratege bekannt, wenn auch als gescheiterter Stratege. Er hatte sich an der Größe seiner Aufgabe übernommen. Und dass er von Hass getrieben war, seinen Widersacher Rom zu bezwingen, koste es, was es wolle, gehört aus jetziger Perspektive auch nicht gerade zu seinen sympathischsten Charaktereigenschaften.
Publius Cornelius Scipio, einer der Staatslenker und Feldherrn der Römischen Republik, hatte übrigens Wind von Hannibals Plänen bekommen, als er sich in Massilia aufhielt, dem heutigen Marseille. Schon aus diesem Grund war es dem Karthager verwehrt, den Heereswurm an der Mittelmeerküste entlangzuführen, er musste seinen Tross im Mai 218 v. Chr. über die Pyrenäen und den Ebro, einen Fluss im Nordosten Spaniens, führen. Der Raum um Massilia war fest in den Händen der Römer. Von dort aus folgte Scipio dem erbitterten Feind, versuchte den achtundzwanzigjährigen Karthager noch an der Rhône zu schlagen, aber es kam nur zu einem kleinen Scharmützel, zu einer Attacke aus dem Hinterhalt, bei der die Römer sogar siegten.
Hannibal beunruhigte das jedoch wenig, denn die Macht seiner Truppe war damit längst nicht gebrochen – bei seinem Zug über die Pyrenäen war es ihm gelungen, viele der dort ansässigen keltischen Stämme für sich zu gewinnen. Diplomatisches Geschick war hierbei eine wichtige Grundlage gewesen, aber auch das Silber lockte, das er und zuvor sein Vater aus Spaniens Minen gewonnen hatten. Schon bald hatte der Barkas-Spross seine Armee aufgestockt, weshalb die Verluste nicht schmerzten. Und er hatte seine genialen Späher, die neue Routen auskundschafteten, ohne dass Scipio von diesen Operationen erfuhr. Es war ein grandioser Spähtrupp, der da für den Mann aus Nordafrika tätig war, man nimmt an, dass es in dieser Effizienz nie zuvor etwas Vergleichbares gegeben hatte. Trotzdem hatte Scipio ihm letztlich den gesamten Schlamassel bereitet, bestimmte Wege konnte Hannibal nicht mehr einschlagen, und er musste davon ausgehen, dass er diesem Feldherrn spätestens vor den Toren Roms erneut begegnen würde, wenn nicht sogar früher.
Hätte Hannibal nicht viel einfacher in Rom landen können, etwa auf dem Seeweg? Die Handelsniederlassung Karthago war von Rom gerade mal 320 Seemeilen entfernt. Nun ließ er sich auf den Landweg ein, letztlich ein Umweg von über viertausend Kilometern. Aber es gab keine Alternative. Die Wut des Hannibal auf die Römer hatte nämlich auch damit zu tun, dass diese die Karthager nach einer verlorenen Seeschlacht dazu gezwungen hatten, ihre letzten punischen Schiffe zu versenken und den Hafen weitestgehend zu schließen. Verbunden mit hohen Reparationszahlungen. Damals führten von Osten her und nach Osten hin alle Wege an der quirligen Metropole Karthago vorbei, die das westliche Mittelmeer beherrschte, sehr zum Missfallen römischer Senatoren. Diesem Treiben musste ein Ende bereitet werden, das war die Arroganz der Mächtigen, die niemanden neben sich duldeten, denn sie sahen sich auf dem Weg zum Weltreich. Das kommt einem sehr bekannt vor. Hannibals Vater, Feldherr der Karthager während des Ersten Punischen Krieges, zog es aufgrund der erniedrigenden Situation samt Familie nach Hispania. Dort gab es die Silberminen, die man plündern konnte und natürlich unbedingt musste. Mit diesem neugeschaffenen Reichtum konnte dann später Hannibal seine numidischen, libyschen, spanischen und gallischen Soldaten und Söldner sowie die Alpenüberquerung finanzieren. Da war der Vater schon längst nicht mehr am Leben.
Als Kind hatte ich Hannibal und sein Unterfangen mit den Kriegselefanten nicht hinterfragt. Dass fast keiner der Dickhäuter überlebte (bis auf einen einzigen, Hannibals persönlichen Elefanten), das war zwar bedauerlich – aber in den sechziger Jahren hatte der Tierschutz und mit ihm verbundene Fragestellungen noch keine so große Bedeutung gehabt wie heute. Auch Wölfe starben in Büchern, Hunde kamen uns Leben, Menschen – wer auf Expedition ging, musste mit Verlusten rechnen. Nur: Wer würde heute noch mit Elefanten über die Alpen gehen? Das ist eine überaus absurde Vorstellung, keiner würde es mehr machen.
Je älter ich jedoch wurde, je mehr ich mich mit Expeditionen beschäftigte, mich persönlich auf die Spuren von Jack London oder Roald Amundsen begab, rückten die Menschen, die Abenteurer in den Vordergrund. Was waren das für Persönlichkeiten? Was hatte sie dazu getrieben, ungewisse und extrem schwierige Expeditionen zu leiten? Was für Führungsqualitäten hatten sie? Wie hatten es etwa der Norweger Amundsen oder der Brite Robert Falcon Scott, beides Polarforscher, geschafft, Leute zu motivieren, selbst in den unwirtlichsten Gegenden? Wieso ließ Jack London seine Familie allein, um den Chilkoot Trail mit Tausenden anderen zu gehen? Wollte er nur dem Lockruf des Goldes folgen, oder hatte er auch noch andere Triebfedern? Ich hatte die Idee, wenn ich mehr von diesen Männern begriff, von ihren Beweggründen, warum sie manchmal hart reagierten und nicht zu jedem supernett waren, wie sie mit Kritik umgingen, dann würde ich auch Dinge in meinem Leben besser nachvollziehen können.
Bei diesen Überlegungen blitzte auch immer wieder mein Kinderfreund Hannibal auf. Auch bei ihm interessierte...