ГРOЗНЫЙ
GROSNY
Einwohner: 272 000
Föderationskreis: Nordkaukasus
Löwen und Hochhäuser
Drei Stunden später sitze ich im Flieger. Auffallend viele Frauen tragen Kopftücher und viele Männer die für die Region typischen Bärte, die von den Ohren bis zum Kinn reichen, aber über der Oberlippe rasiert sind. In der Reihe vor mir knipsen drei Mädchen Handyfotos: Sie halten ihre Flugtickets vor sich und machen das Victory-Zeichen. Ihre gestickten Kleider und Ringe mit Edelsteinen sehen teuer aus, ihre Gesichtszüge wirken eher orientalisch als russisch. »Wir studieren Englisch in Moskau, jetzt fahren wir nach Hause zur Familie«, erzählt eine von ihnen. Auf meine Frage, ob Grosny gefährlich sei, zuckt sie mit den Schultern, gibt dann aber ein paar Tipps: »Sei immer höflich. Fass keine Frauen an. Und trage bloß keine Shorts.«
Aus dem Flugzeugfenster wirkt Tschetschenien überraschend grün (was hatte ich erwartet? Eine Wüste? Bombenkrater?), bei der Landung ertönt die Melodie von »Schwanensee«. Aktuell 32 Grad und klar, sagt die Stewardess durch. »Thank you for choosing UTair.«
Das Flughafengebäude ist ein flacher Betonklotz mit einem Putin-Porträt links und einem Achmat-Kadyrow-Porträt rechts, das ist der Vater des aktuellen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Beide Bildnisse sind so hoch wie ein Stockwerk. Über ihnen sind die goldenen Minarette einer Moschee auf dem Flugzeugvorplatz auszumachen.
An der Außenwand stehen zwei Zitate des alten Kadyrow, der 2004 von Sprengstoff-Attentätern getötet wurde. »Meine Waffe ist die Wahrheit, und jede Armee ist machtlos gegen sie«, lautet das eine, und das andere: »Der einzige Beweis für Patriotismus ist die Tat.« Darunter bewachen Messingskulpturen wild fauchender Löwen den Ausgang. Willkommen in Tschetschenien.
Murad schreibt, er sei noch auf einem Termin. Ich solle ein Taxi zur Moschee nehmen, dort würde er mich abholen. Welche er damit meint, ist keine Frage. Das »Herz Tschetscheniens« ist die größte Moschee Russlands, und tatsächlich hält das Taxi vor einem Herz: Auf dem Parkplatz gegenüber wurde eine »I love Grosny«-Skulptur für Erinnerungsfotos aufgestellt.
Ich kenne Grosny noch von Fernsehbildern aus dem Krieg. Dort sahen ganze Stadtviertel aus wie Aleppo in Syrien heute, Endzeitstimmung mit Panzern zwischen Schuttbergen und Häusergerippen.
Jetzt stehe ich vor einer prachtvollen Moschee mit marmorverkleideten Wänden. Kein Staubkorn liegt auf dem polierten Steinboden davor, kein Blatt wuchert auch nur einen Millimeter zu weit aus den akkurat gestutzten Hecken. Gleich nebenan ragen die Wolkenkratzer von »Grosny City« in die Höhe, ihr Anblick erinnert mehr an Abu Dhabi als an Bombenruinen.
Mit Milliardensummen aus Moskau wurde die Stadt nach den Kriegen wieder aufgebaut, als neues Wahrzeichen ist der 435 Meter hohe »Achmat Tower« geplant. Betrachtet man den Entwurf für den höchsten Wolkenkratzer des Landes, ist es mit einiger Mühe durchaus möglich, die Ähnlichkeit mit einem gigantischen Penis zu ignorieren. Als Dank für die finanzielle Unterstützung solcher Protzbauten sorgt Putins muslimischer Statthalter Kadyrow mit seiner schwarz uniformierten Privatarmee, den Kadyrowzi, einigermaßen für Ruhe.
Ruhe. Tatsächlich. Kaum ein Geräusch ist zu hören; wenige Menschen sind zu sehen, nur ein paar Gläubige mit Gebetskappen, die über den Moschee-Innenhof schlendern. Ich kann diesen Ort noch nicht einschätzen, fühle mich als Fremdkörper und spüre die Blicke auf mir. Ein Ausländer mit Rucksack und Kamera fällt auf, Touristen kommen nicht oft hierher.
Direkt vor mir hält ein silberner Toyota Corolla. Die hinteren Scheiben sind verdunkelt, zwei Männer mit kurzen schwarzen Haaren und hellen karierten Hemden steigen aus. Sie wirken ernst und kommen zügig auf mich zu.
»Stephan?«, fragt der eine.
»Murad?«, frage ich zurück, und wir schütteln uns die Hände. Der zweite Mann ist sein Bruder Ruslan. Ich wünsche beiden alles Gute zum Ende des Ramadans, dann steige ich auf die Rückbank.
Bei der Ortsrundfahrt sitze ich hinter getönten Fenstern, als wäre ich ein Spion. »Die Hauptstraße nannte man früher ›Siegesallee‹, jetzt heißt sie bis zur Moschee ›Putin-Prospekt‹, dann ›Kadyrow-Prospekt‹«, erklärt Murad. Auch hier: alles sauber, alles wie neu. »Und jetzt passieren wir das Denkmal der drei Idioten!« Er deutet auf eine Statue mit drei bolschewikischen Soldaten. Wer für die Kommunisten kämpft, muss ein Idiot sein, finden die Tschetschenen, deshalb der Spitzname.
Mit der Sowjetzeit verbinden sie ein nationales Trauma, weil Hunderttausende gegen Ende des Zweiten Weltkriegs deportiert wurden. Die Parallelstraße heißt trotzdem bis heute nach Rosa Luxemburg. Restaurantnamen dagegen deuten auf andere Helden hin: Nicht weit vom »Hollywood1« steht das »HalAl Pacino Café«.
Wir halten an einer Brachfläche außerhalb des Ortszentrums und steigen aus. Hier ist nichts sauber, nichts hergerichtet. Aufgewühlte graue Erde, wuchernde Gräser, ein paar Löcher im Boden und Mauerreste. »Früher war das ein großer Markt«, sagt Murad. »Dort drüben gab es Waffen zu kaufen. Im letzten Krieg wurde die Fläche zweimal bombardiert. Dabei wurde auch das Kinderkrankenhaus zerstört.« Er redet ohne sichtbare Emotion, wie ein Museumsführer, der ein Landschaftsgemälde aus dem 19. Jahrhundert erläutert. Vermutlich hat er das schon oft erzählt. »Jemand aus dem Kadyrow-Klan wird hier sicher bald bauen, ist eine gute Location.«
Zum Abendessen teilen wir uns eine 42 Zentimeter große Pizza Mexikana im »Spontinni«, einem gepflegten Fast-Food-Italiener in der Putinstraße 5: bunte Kissen auf Holzbänken, englischsprachige Sinnsprüche auf Kreidetafeln an der Wand (»Eat fresh, stay fresh«), auf einem Bildschirm läuft ein Disney-Cartoon. »Ich hasse Russland«, sagt Murad. »Ich meine die Regierung, nicht die normalen Leute.«
Nachkriegs-Tschetschenien, das funktioniere folgendermaßen: »Putin schickt Geld, dafür müssen wir seine Spielregeln einhalten. Die lokalen Machthaber sind Arschkriecher, denen ist egal, was die Leute denken, sie interessiert, was Putin will. Wer etwas Positives über den Präsidenten sagt, kommt ins Fernsehen und hofft dadurch auf Vorteile.«
Investitionen aus Moskau seien immer an Vorgaben gekoppelt: »Wenn du ein Café eröffnen willst oder ein Einkaufszentrum, ist das okay. Aber eine neue Fabrik? Unmöglich. Wir sollen abhängig bleiben. Die komplette Industrie wurde im Krieg dem Erdboden gleichgemacht.«
Nach kurzem Ringen um die Rechnung, das ich für mich entscheiden kann, fahren wir zu Murads Haus etwas außerhalb des Zentrums. Eine fast drei Meter hohe Ziegelmauer mit schwerem Stahltor schützt den verwilderten Garten, in dem er den Wagen zum Stehen bringt. Er wohnt auf einer Baustelle: Das geräumige Erdgeschoss mit drei Zimmern, Bad und Küche ist nahezu fertig. Aber die Betontreppe nach oben führt auf einen Dachboden, in dem noch Parkett und Verkleidung fehlen und Bretter und Farbeimer herumstehen. »Ich muss erst noch ein bisschen Geld verdienen, damit ich weitermachen kann«, erklärt Murad. Er träumt davon, eines Tages Reisen für Touristen zu organisieren. Doch dafür muss sich die Sicherheitslage verbessern, müssen ausländische Ministerien ihre Reisehinweise abschwächen.
Vielleicht wäre auch noch eine Überarbeitung der aktuellen »Visit Chechnya«-PR-Broschüre ratsam, die er mir in die Hand drückt. Darin posiert nämlich der stellvertretende Chef eines Ausflugsveranstalters namens »Tour Ex« mit einem Messer in der Faust. Unter dem Foto steht, wer mit ihm unterwegs sei, habe die »Garantie für einen komfortablen Aufenthalt«.
Einladender ist dagegen eine Sammlung von Tschetschenien-Postkarten. Gezeigt werden beleuchtete Moscheen in der Dunkelheit, Blumenwiesen vor grünen Hügellandschaften und historische Wachtürme.
Am nächsten Morgen ziehen wir alle etwas Schönes an, polieren unsere Schuhe und fahren nach Inguschetien. Verwandte besuchen in der Nachbarrepublik. Murad, sein Bruder, ihr Vater, der am Vorabend noch vorbeikam, und ich. »Du hast dir den besten Tag des Jahres ausgesucht, heute feiern wir das Fastenbrechen«, sagt Murad. Dann dreht er die Auto-Stereoanlage auf, und wir brettern zu Billig-Eurodance von Scooter zum Stadtrand von Grosny. »Mesmerized«. »Metropolis«. »Psycho«. Sterile Musik, passend zu sterilen Häusern und sterilen Straßen, alles ist sauber, glatt poliert und künstlich. Doch irgendetwas stimmt nicht an diesem Frieden, es wirkt wie ein »Truman Show«-Frieden, potemkinsches Blendwerk. Die Menschen hier haben Angst vor ihrer Regierung, das Trauma des letzten Krieges, der erst 2009 endete, können sie noch nicht verarbeitet haben. Mir fällt auf, dass nirgendwo Kriegsversehrte zu sehen sind.
Tschetschenien ist ein einmaliges Experiment in radikaler Vergangenheitsbewältigung: Lassen sich die Spuren zweier Kriege wegbetonieren? Neuen Asphalt und neue Stadt drauf, dazu einen autoritären Herrscher an die Macht, der für Ordnung sorgt, und fertig?
Es ging um die Unabhängigkeit von Russland im Ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996 und dem Zweiten, der ab 1999 zehn Jahre andauerte. Eine Ära des Schreckens mit mehr als 150 000 Todesopfern und der vollen Bandbreite an Kriegsverbrechen und...