DIE GEBURT DER PILGERREISE FÜR »FREUDE – FRIEDE – FREIHEIT«
Heute ist der 18. März 2006, und ich sitze am Steuer des »Jakobsmobiles«, wie wir liebevoll den 20 Jahre alten, weiß lackierten Transporter nennen.
Die Nacht war kurz, und daher wäre nun der ideale Zeitpunkt für ein Nickerchen. Die wärmenden Strahlen der Frühlingssonne, die uns durch die Windschutzscheibe fast direkt in das Gesicht scheinen, verführen dazu. Otto ist bereits auf dem Beifahrersitz eingeschlafen, denn nach der Veranstaltung hatten wir bis Mitternacht das wichtigste technische Equipment samt der Leinwand abgebaut und abschließend natürlich ein Geburtstagsbier getrunken.
Mit dem alten VW Bus sind wir auf dem Heimweg von Berchtesgaden, wo Otto und ich gestern Abend im Rahmen der BERGinale einen Filmvortrag über unseren Jakobsweg zeigten. Wie jedes Mal waren viele Besucher gekommen, das Interesse am Pilgern scheint nach wie vor enorm zu sein, und so war diese Veranstaltung auch mein ganz persönliches Geschenk zu meinem heutigen Geburtstag.
Einige Jahre sind vergangen, seit Otto und ich zu Fuß in Santiago de Compostela angekommen waren. Im Kopf lasse ich den gestrigen Abend und auch mein Leben seit jener Pilgerreise Revue passieren. Allerhand hat sich seither ereignet und so manches in mir verändert. Unter anderem verbringe ich täglich etwas Zeit in der Natur, was für mich die beste Möglichkeit ist, um in mich selbst zu gehen, mein Gottvertrauen zu festigen und nicht zu vergessen, dass ich stets auch Pilger bin.
So in Gedanken versunken, kommt mir die Idee, womöglich wieder einmal eine Pilgerreise zu unternehmen, denn obwohl es anstrengend war, sind die vier Monate auf dem Pilgerweg von Linz nach Spanien wundervoll gewesen.
Also, wohin könnte eine neue Reise führen? Plötzlich kommt auf meine innere Frage eine klare Antwort, und ich bekomme am ganzen Körper Gänsehaut: »Jerusalem!« Wenn ich in meinem Leben wieder als Pilger aufbreche, dann versuche ich, dort hinzugehen, auch wenn ich nicht weiß, ob das für mich überhaupt möglich sein wird.
Der »Gedanke« ist so stark, dass mir die Haare, bis auf die wenigen auf dem Kopf, zu Berge stehen, und zugleich verspüre ich ein angenehm kühles Kribbeln, das langsam auf- und absteigt. Dieser Zustand hält ein paar Minuten an. Ich blicke zu Otto hinüber und rufe ihm zu, dass ich gerade eine ganz außergewöhnliche Idee habe. Verschlafen und die Augen anfangs nur halb geöffnet, dreht er seinen Kopf zu mir, während ich ihm begeistert von meiner Idee erzähle. Jetzt ist auch er wach!
Zu diesem Zeitpunkt war das ganze Unternehmen jedoch noch weit entfernt. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dieser Gedanke war nun geboren und somit der Grundstein für die Pilgerreise nach Jerusalem gelegt. Ein halbes Jahr später unterhielt ich mich nach unserem Vortrag in Burghausen, Deutschland, mit dem dortigen Pfarrer Max Pinzl über die Pilgerreise nach Santiago. Irgendwie kamen wir im Gespräch auf Jerusalem, und er erzählte mir, dass es sehr wohl möglich sei, dorthin zu Fuß zu gehen. Er habe sogar ein altes Buch darüber. Es sei von einem deutschen Theologieprofessor namens Friedrich Schröger verfasst, welcher in den Jahren 1972, 1973 und 1975 in drei Etappen von Passau bis Jerusalem pilgerte.
Er borgte mir schließlich dieses Buch, und es wurde zu meinem treuen Begleiter. Ich bin dankbar für die Wegbereitung durch Friedrich Schröger, denn er bestärkte mich, den Weg nach Jerusalem auf den Spuren des Apostels Paulus und des Dritten Kreuzzugs anzulegen.
Apropos Kreuzzüge, diese waren eine Wallfahrt mit dem Schwert in der Hand, Kriegszug und Bußgang zugleich!
Doch mir ist es wichtig, gleich zu Beginn festzuhalten, die Kreuzzüge nicht zu glorifizieren, denn wer für Gott oder in seinem Namen tötet, tötet im weiteren Sinn immer für sich und sein Ego! Wir alle sind Schwestern und Brüder und dies nicht nur bildhaft im Sinne einer Metapher, denn wir sind alle ein Teil Gottes und sollten uns dessen stets bewusst sein.
Es ist nicht nur aus geschichtlicher Sicht spannend, sich auf die Spuren der Kreuzzüge zu begeben und an die Originalschauplätze einer jahrtausendealten Geschichte zu kommen, sondern auch weil durch eine bewusste Pilgerschaft zugleich eine Heiligung des Weges erfolgt.
So begleitete mich in den letzten Jahren mehr oder weniger ständig der Gedanke, nach Jerusalem zu gehen, während sich mir die verschiedensten Hürden, bis hin zum Verwaltungsgerichtshof wegen meiner Dienstfreistellung, in den Weg stellten.
Ob nun privat oder beruflich, es ist nicht einfach, das Netz, in dem wir in unserer Gesellschaft leben und uns bewegen, etwas zu lockern, um freier zu werden. Was in meinem Fall heißt, Polizist bleibt Polizist. Aber endet nicht auch das Berufsleben einmal, und sind wir dann nicht wieder auf das »reduziert«, was wir wirklich sind, ohne Titel und dergleichen, einfach nur auf unser Menschsein?
Diese Pilgerreise sollte inklusive Planung, Vorbereitung und anschließender Aufarbeitung ein knappes Jahr in Anspruch nehmen, denn es ist nicht sinnvoll, einfach salopp zu sagen: »Ich bin dann mal weg.« Es ist unbedingt ratsam, vorher zu Hause alles so gut wie möglich zu regeln, um dann frei und unabhängig den Weg beginnen zu können und bei der Rückkehr nicht auf ein Chaos zu stoßen. Dies wäre mit Sicherheit eine Belastung unterwegs.
Im Frühjahr des Jahres 2010 erhielt ich überraschend die Mitteilung, dass mein Antrag auf Freistellung genehmigt werden sollte, womit nach so langer Zeit des Wartens mein Wunsch plötzlich doch in Erfüllung ging. Ich beschloss, die Pilgerreise bereits am 24. Juni 2010 anzutreten, weshalb nur mehr wenige Monate für die erforderlichen Vorbereitungen blieben.
Dabei führte ich auch das eine oder andere Gespräch mit Otto. Dieser wurde immer hellhöriger, und obwohl er die vergangenen Jahre keine Ambitionen zum Mitgehen gezeigt hatte, entschloss er sich Anfang Mai dazu mitzukommen! Seine Entscheidung beschrieb er mir wie folgt:
»Vor dem Aufbruch auf den Jakobsweg und auch während der Pilgerreise kreisten meine Gedanken ständig um mein abgenütztes rechtes Knie. Daher trug ich auf dem Weg als Prophylaxe immer einen Kniestrumpf. Zum Glück bekam ich aber keine Knieprobleme, dafür neben einer Unmenge an Blasen brennend heiße Fußsohlen! Durch die starken Schmerzen war ich damals mehrmals knapp am Aufgeben. Daher war eine Pilgerreise nach Jerusalem keine Option. Dennoch ließ mich der Gedanke nicht los. Insgeheim hoffte ich auf Klarheit beziehungsweise auf irgendein Zeichen. Ja, und so saß ich am 13. Mai 2010, dem Christi-Himmelfahrtstag, im Linzer Mariendom und dachte wieder mal über diese Pilgerreise nach. Draußen schien die Vormittagssonne, und obwohl bereits Mai, war es dennoch sehr kühl drinnen. Ich starrte auf den Hauptaltar und war in Gedanken versunken. Da bemerkte ich, wie plötzlich eine Taube aus dem Dunkel des Kirchenhauptschiffes kommend in Richtung des Altares flog und direkt auf dem Kopf der Marienstatue landete. Vielleicht geschieht dies ja öfter, aber für mich war es mein erhofftes Zeichen, und so entschloss ich mich an diesem Tag, die Pilgerreise nach Jerusalem mitzumachen. Ich hatte zwar noch leichte gesundheitliche Bedenken, aber meine Entscheidung war gefallen!«
Ein Chirurg hätte Otto dann doch noch fast umgestimmt, als dieser zu ihm sagte: »Wie können Sie überhaupt an eine Pilgerreise zu Fuß nach Jerusalem denken? Es wäre viel besser, eine Hüftoperation zu planen, ganz abgesehen von dem abgenützten rechten Kniegelenk!«
Also besorgten wir uns die erforderlichen Ausrüstungsgegenstände, Sprach- und Reiseführer der verschiedenen Länder, Landkarten und sonstige Unterlagen bis hin zum Visum für Syrien.
Zu guter Letzt fuhren wir am 3. Juni 2010 gemeinsam nach Kärnten zu Baldur Preiml, dem ehemaligen Spitzensportlertrainer, bei dem sich Otto ein paar gute Tipps für seinen Bewegungsapparat holen wollte. Wir trafen vormittags am Hafnersee ein und unterhielten uns vor einem Seminarhotel mit Baldur über unseren geplanten Weg. Während wir miteinander redeten, kam aus dem Foyer des Hotels ein Mann, den ich nicht kannte, er stellte sich zu uns und verfolgte unser Gespräch.
»Was verkauft ihr?«, richtete er plötzlich eine Frage an uns, und wir antworteten etwas entgeistert: »Nichts! Wir bereiten uns gerade auf eine lange Pilgerreise vor und holen dafür gesundheitliche Tipps von Baldur ein.« Jetzt war der Mann erst richtig neugierig geworden: »Wohin soll es gehen?«, fragte er weiter. »Nach Jerusalem!«, war unsere sowohl einstimmige als auch knappe und klare Antwort.
Er stand verblüfft da und wiederholte ungläubig: »Zu Fuß nach Jerusalem?«
»Ja«, sagte ich, »unsere Reise beginnt in drei Wochen.«
Er war offensichtlich so begeistert von unserer Idee, dass er spontan fragte: »Könnte ich eventuell mit euch beiden mitgehen?«
Daraufhin herrschte Stille, wir blickten ihn skeptisch an, und um seinem Wunsch noch mehr Nachdruck zu verleihen sagte er: »Also, wenn ihr mich mitnehmt, dann gehe ich mit!«
Wir hatten bis zu diesem Zeitpunkt David nicht persönlich gekannt, trotzdem sagten Otto und ich spontan zu. Er wollte natürlich noch das Einverständnis seiner Familie und musste einiges abklären, aber schlussendlich war er dabei. In den noch verbleibenden Wochen fuhren wir mit David unter anderem nach Wien, damit auch er das sechsmonatige syrische Visum erhielt und um ihm bei der Beschaffung seiner Ausrüstung behilflich zu sein.
Seine Motivation mitzugehen war, auf dem Weg Zeit zu haben, um über seine »12 Werte« nachzudenken, mit denen er sich schon...