I.
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Da muss doch noch Leben ins Leben!
Es wird Zeit, den Faden aufzunehmen, seinen Anfang zu suchen und ihn weiterzuspinnen, dass wieder ein Gewebe daraus werde. Ein Teppich am besten, auf den wir uns setzen können und unsere Geschichten erzählen.
Um Zeit also geht es und um uns in dieser Zeit und um die Frage, ob wir uns noch begegnen in der Zeit. Wir – das sind die Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt noch immer und trotz aller Enttäuschung und Fragwürdigkeit in der Beziehung zu dem lebendigen Gott der Juden und Christen sehen, wie die Bibel von ihm erzählt.
Und wir – das sind die Menschen, die sich vielleicht abgewendet haben von diesem Gott, mit dem sie als Kinder noch gelebt haben oder von dem ihnen die Eltern oder Großeltern erzählt haben. Nun aber erleben sie, dass ihnen dieser Gott und mit ihm die Kirchen, Gemeinden und Gruppen, die sich auf ihn berufen, ihnen nichts mehr zu sagen haben. Dass dieser Gott und seine Fürsprecher und Fürsprecherinnen Antworten schuldig bleiben. Möglicherweise sogar verantwortlich sind für vieles, das es vor Gott gar nicht geben dürfte: Gewalt. Krieg. Angst. Not. Und Tod.
Was soll ich denn mit einem Gott, der mich vor all dem nicht bewahrt oder sogar hineinstürzt ins Elend? So fragen viele und so fragen wir, die Christen und Christinnen auch zuweilen. Ich auch. Immer wieder.
Um uns also geht es und um diesen Gott. Wozu brauchen wir ihn, wenn wir ihn denn brauchen? Und was ist der Preis?
Auf diese Fragen gibt es endlose theologische Abhandlungen. Es gibt Lehrbücher, es gibt Anweisungen zum Glauben. Es gibt Anleitungen zur Gottesbegegnung, die einem Internet-Date ähneln. Und es gibt Geschichten.
Geschichten von Menschen, die diesen Gott suchen und wieder verlieren. Geschichten von Menschen, die nach ihm fragen und von Menschen, die nie von ihm gehört haben. Es gibt Menschen, tatsächlich, die ihn lieben, diesen Gott, und es gibt Menschen, die ihn verfluchen.
Ob Geschichten wahr sind oder nicht, ob sie etwas zeigen von der erlebten Wirklichkeit oder nicht, können nur die beurteilen, die sie erlebt haben. Alle anderen können diese Geschichten glauben oder nicht. Oder sie können sie für möglich halten und dann schauen, ob sie für das eigene Leben irgendeine Bedeutung haben. Ob es denn sein könnte, dass sich das Gewebe der anderen Geschichte mit meinem Lebensgewebe verknüpft und daraus möglicherweise ein neues Muster in meinem Lebensteppich entsteht.
Ich liebe sehr die schön gewebten Teppiche der Völker und die so aufregend gewebten Geschichten der Menschen, die mir begegnen. Manchmal erzähle ich dann auch eigene Geschichten, hineingewoben in die Zeit, die wir ja doch teilen und in der wir gemeinsam leben. Und so beginne ich mit meinen Geschichten und denen, die ich gehört habe und in denen auch ich mitgewebt habe, und sei es nur für einen Augenblick.
Ich beginne mit dem Sonntag, denn nach christlicher Zeitrechnung – und ich leugne nicht, das ist die meine – beginnt die Woche mit dem Sonntag. Nicht mit dem Montag, denn vor der Arbeit des Montags geschieht die Verheißung zum Leben. Vor der Leistung, die gefordert wird, liegt der Zuspruch – der Zuspruch, dass vor aller Arbeit, aller Leistung, allem Zwang, allem Selbstbeweis die Liebe sich offenbart. Die Liebe, die uns in dieses Leben hineingeliebt hat, lang bevor wir auch nur den ersten Atemzug getan haben.
Sonntag also. Sonntagsgeschichten. Welche Sonntagsgeschichten fallen mir ein, wenn ich meine Erinnerungen weit zurückschauen lasse?
Ein weißer Flachbau, rechtwinklig angeordnet um einen Parkplatz: ein Supermarkt, der damals »Meyer« hieß und im Kind, das ich damals war, die Vorstellung erzeugte, dass alle »Meyers« einen Supermarkt besäßen, ja eigentlich selbst ein solcher wären. »Keine Feier ohne Meyer« war ein stehender Begriff bei uns zu Hause. Schon früh, lange vor der Zeit, seit der Lebensmittelgeschäfte auch am Sonntag öffnen können, lebte ich mit der Vorstellung, dass Feier und Einkaufen dicht zusammengehören. Dass sich etwa 40 Jahre später diese Verbindung umgedreht haben würde und das Einkaufen, zumal das sonntägliche, das eigentliche Sonntagsfest geradezu ersetzt oder doch wesentlich ausmacht, konnte ich damals nicht ahnen.
Neben dem SB-Markt Meyer stieg der betörende Duft von »Zuntz« auf, auch ein Name, der sich mir einprägte als ein Synonym für Kaffee und Schokolade. Wir gingen nicht in ein Kaffeegeschäft, sondern zu »Zuntz« und das blieb so, auch als die Geschäfte ihre Namen änderten. Dass »Zuntz« der Name einer überaus klugen und kreativen Jüdin war, begriff ich tatsächlich erst in diesen Tagen. Im rechten Winkel zu Meyer und Zuntz dann eine Reinigung und ein Schuster, ja, ein echter Schuster mit Lederduft und schwarzen Fingern, noch zwei andere Geschäfte, die mir entfallen sind –, vermutlich, weil sie nicht besonders dufteten und dann endlich wird es Sonntag: die Kneipe.
Ob sie so hieß oder anders, weiß ich nicht. Auch sehr viel später erst fiel mir auf, dass zu dem gesamten Ensemble sehr wohl auch eine Kirche gehörte, eigentlich nicht zu übersehen. Aber nicht sie gestaltete die Sonntage meiner frühen Kindheit, sondern eben diese Kneipe. Und der kleine Rasen daneben, der den Übergang zur Straße etwas traulicher erscheinen lassen sollte.
Auf diesem Rasen trafen wir uns fast jeden Sonntag, Nora und ich. Nora war meine beste Freundin. Wir wohnten nebeneinander, lebten miteinander und Nora war die Schwester, die ich mir wünschte. Nora musste an fast jedem Sonntagmittag zu dieser Kneipe im Einkaufszentrum gehen. Und weil sie sich manchmal fürchtete, allein hinzugehen, oder weil sie einfach nicht allein gehen wollte, ging ich mit. Denn ich fand diese Kneipe faszinierend, weil sie so ganz anders war als unser ordentliches, sauberes 70er-Jahre-Kleinfamilienzuhause.
Ich habe die Kneipe als klein und eng in Erinnerung, dunkel. An der Seite ein Spielautomat, für den Noras Opa uns gelegentlich einen Groschen gab. Links vom Eingang erstreckte sich der Tresen, eine metallbeschlagene Oberfläche auf Eichenholzkorpus, dort war der Geruch nach abgestandenem Bier noch unangenehmer als auf der rechten Seite des langgezogenen Raumes, an der die Tische standen. Diese viereckig, mit je einem Stuhl an jeder Seite, aus hellerem Holz, die Lehnen hart, die Sitzflächen noch härter. Und alles zu groß für kleine Kinder. Aber immerhin, die Kneipe schmeckte nach Fassbrause, nach viel Fassbrause, denn die bekamen wir, wenn wir sonntagmittags dorthin gingen.
Was haben Kinder von fünf, sechs, sieben Jahren am Sonntagmittag in einer Kneipe zu suchen? Was suchen Männer und Frauen zwischen 20 und 90 Jahren am Sonntagmittag in einer Kneipe?
Nora suchte ihren Vater. Immerhin glückliche Suche, denn sie wusste, dass er da war. Denn deswegen wurde sie ja geschickt in diesen Bierdunst zu Spielautomat und Fassbrause, weil ihr Vater dort meist die Sonntagvormittage verbrachte, gemeinsam mit seinen Eltern, Noras Großeltern. Frühschoppen sagte man dazu und dieser Frühschoppen war das, was man heute ein unanfechtbares und unwandelbares Ritual nennen würde. Eine familiäre Sonntagspflicht, so verpflichtend, dass Noras Mutter, die zu Hause das Sonntagsessen kochte und sich dabei wegen ihres frühschoppenden Mannes grämte, weil sie kaum Chancen hatte, dieses Ritual auch nur vorübergehend zu verändern. Nora erzählte manchmal leise, dass ihre Mutter am Sonntag oft weinte, wenn sie den Braten zubereitete.
So suchte und fand sie ihren Vater sonntagmorgens in der Kneipe, er suchte und fand seine Eltern und wer weiß, was die Großeltern dort gesucht haben – gefunden haben sie neben dem Bier sich selbst als Eltern und Sohn. Sie haben einander vergewissert, dass sie noch da sind und als Familie füreinander erkennbar sind. Und vielleicht auch einfach ein paar Stunden, in denen sie nicht verantwortlich waren – für das Bier nicht und nicht für das Geschäft, nicht für Frau und Kind, nicht für die Welt oder die nächste Mietabrechnung. Sie durften da sein und nichts weiter.
Für Nora bedeutete dieses Sonntagsritual ihres Vaters allerdings, dass die Freude für den Rest des Tages spürbar gestört war und bis zum Abend auch kaum mehr gerettet werden konnte, denn ihre Mutter und sie waren eben nicht Teil dieses Sonntagsrituals. Ihre Mutter wollte nicht in die Kneipe gehen und ihr Vater nicht ohne seine Eltern sein – und so scheiterte der...