Die zweite Verwandten-Besuchsreise kurz vor dem Berliner Mauer-Bau
Einige Jahre später.
Längst war die Oberschulzeit vorüber, und zum letzten Mal trafen wir uns im ausgehenden ersten Studienjahr kurz vor den Sommerferien zum Marxismus-Leninismus-Seminar. Hier durfte man nicht fehlen, denn am Ende gab´s da auch eine Prüfung, die Note dafür stand dann auch auf dem Diplom-Zeugnis und war damit auch Bestandteil des Gesamt-Prädikats eines Naturwissenschaftlers, in diesem Falle eines Diplom-Physikers.
Die Sommerferien standen an und wie vor vier Jahren ging´s für mich auch diesmal nicht zum obligatorischen Ernteeinsatz, sondern, nun zum zweiten Mal in meinem Leben, zum Verwandtenbesuch in die alten Bundesländer, nach Bayern und gar nicht so weit weg von meinem Thüringer Wohnort. Aber es schien, als würden da Welten dazwischen liegen. Es ging diesmal zur Tante L. nach Dörfles bei Coburg, zur ältesten Schwester meiner Mutter und von Onkel J., eine von insgesamt sieben Geschwistern. Für mich heute wie damals erstaunlich, dass die vielen Geschwister meiner Eltern, von Mutter und Vater, alle eine ordentliche Ausbildung hatten, obwohl die Großeltern höchstens Normalverdiener waren und die Großmutter sich ja vor allem um die Kinder und den Haushalt kümmern musste. Geordnete Verhältnisse und eine bescheidene Lebensweise, wobei sich die Kinder wohl auch gegenseitig erzogen, waren offenbar der Grund dafür.
Diese Tante war es vor allem, die die Oma entlastete und sich zu Hause in Oberschlesien auch um die Familienangelegenheiten kümmerte, um die Geschwister, um Essen und Wäsche, um die Ordnung in der Wohnung. Sie war es, die diese Wohnung verwaltete und sich später um Oma und Opa sorgte, nachdem alle anderen Geschwister das Zuhause wegen des Kriegszustandes verlassen hatten, entweder der Aufforderung dazu gefolgt waren, an die Front zu gehen oder auch schon gefallen waren. Sie hatte es miterleben müssen, wie noch zum Ausklang des Krieges fast alle in dem Hindenburg benachbarten kleinen Wohnort Mechtal (heute: Miechovitz) verbliebenen älteren Männer erschossen wurden, das als Vergeltungsmaßnahme für sinnlose Panzerfaust-Attacken von verblendeten Hitlerjungen - meist im fanatischen Werwolf organisiert oder von diesem unterstützt - Attacken gegen heranrückende russische Soldaten. Getreu der Göbbels-Propaganda glaubten sie, damit etwas gegen die sogenannten bolschewistischen Untermenschen und für den „Endsieg“ zu tun.
Tante L. war es auch, die später, nach Kriegsende, die Oma, die ein offenes Bein hatte, pflegte. Sie musste auch das Geld für Medikamente und Lebensmittel in irgendeiner Weise beschaffen, arbeitete deshalb viele Jahre auch auf dem Hochbau und durfte da in keiner Phase dieses Lebens ihre deutsche Muttersprache anwenden. Das war nicht gestattet und machte für sie die Meisterung des Alltags äußerst schwierig. So lebte sie noch mehr als 10 Jahre in der alten Heimat - die Großeltern waren zwischenzeitlich verstorben - und diese Jahre prägten sie, bis endlich ihre Übersiedlung nach Dörfles bei Coburg in die Bundesrepublik anstand.
Nun wartete sie dort auf meinen Besuch, auf mich, von dem die Oma bei der Geburt sagte, mit mir sei Berthold, ihr geliebter Sohn auferstanden. Er war kurz zuvor gefallen. Ich war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Mein zweiter Name wurde deshalb auch nach ihm benannt. Und später nannte man mich häufig nur noch so, denn ich war diesem Onkel tatsächlich zum Verwechseln ähnlich.
Meine Gedanken waren schon lange vor meiner Abreise in Dörfles. Ich fragte mich, wie wird Tante L. wohl wohnen, wovon lebt sie? Ich wusste, sie hat ja nur eine bescheidene Rente.
In diesen Tagen des Sommers 1961, war vieles in Bewegung geraten. Viele Menschen des sogenannten Arbeiter- und Bauern-Staates trugen sich mit dem Gedanken, diesen Staat zu verlassen und sich im anderen Teil Deutschlands eine neue Existenz aufzubauen. Berlin war in diesen Tagen so etwas wie eine Drehscheibe.
Um eine ordnungsgemäße Reise in den sogenannten Westen antreten zu können und dabei auch sein weiteres Studium nicht zu gefährden, war es ratsam und nötig, sich diese Reise genehmigen zu lassen, was der Erstellung einer diesbezüglichen Unbedenklichkeitserklärung entsprach. Anlaufpunkte dafür waren der Lektor des genannten Seminars Marxismus-Leninismus und die lokale FDJ-Leitung der besuchten Universität. Dabei war es selbstverständlich zu erklären, in die DDR zurückzukehren. Und das stand für mich zu diesem Zeitpunkt tatsächlich auch außerhalb jeglicher Diskussion. Hier hatte ich meine Eltern, meine Geschwister, meine Freunde. Obgleich häufig in konträrer Stellung, war ich im Inneren meines Wesens auch etwas stolz auf das, was in meiner täglichen Umgebung geschaffen und aufgebaut wurde. Dazu gehörte auch das durch eigene Arbeit in den Ferien von mir ersparte Fahrrad, da gab es den Chemie-Sportpark im Gemeindetal, wo ich in der Schülerund Jugendmannschaft dem Fußball nachrannte und da war das neue Kulturhaus, wo ich zusammen mit meiner Mutter das Betriebsanrecht der Zellwolle, dem späteren Thüringischen Kunstfaserwerk, für dortige Theater- und Konzertveranstaltungen nutzte. All das war für mich ganz einfach wichtig, es war mein Umfeld, es war meine Heimat. Hier verbrachte ich mit Freunden nach sonntäglichem Fußball viele schöne Abende mit viel Unterhaltung und Tanz, und nicht selten - wie es so schön heißt - auch mit „Schmetterlingen im Bauch“ und mit vielen einzigartigen Erlebnissen. Demgegenüber fehlte mir jegliche innere Beziehung zum westlichen Teil Deutschlands, und es kam hinzu, dass über diesen Teil Deutschlands im östlichen Teil, der DDR, weder durch das Fernsehen oder das Radio noch durch die Zeitung Informationen vermittelt wurden. Stattdessen wurde aber da bereits schon an ideologischen Mauern gearbeitet, die diesen Informationsfluss auf Dauer verhindern sollten.
Mit der erhaltenen Genehmigung in der Tasche konnte ich nun diese Reise gelassen antreten, eine Reise in eine andere - für viele von uns - verklärte Welt, die von den offiziellen DDR-Medien, etwa dem sogenannten „Schwarzen Kanal“ im DDR-Fernsehen als Klassenfeind-Gesellschaft verteufelt und vom kleinen Mann auf der Straße oder in der Kneipe aber eher traumhaft empfunden und bewertet wurde.
Früh mit dem Zug losgefahren, kam ich dann nach Umsteigen in Coburg von Bahn auf Bus am Nachmittag in Dörfles an. Die Tante wohnte hier in einer kleinen Zwei-Zimmerwohnung eines umfunktionierten Kasernenbaus, bescheiden, aber glücklich. Ihr Bruder, Onkel W. und seine Familie, wohnten nicht weit entfernt davon. Endlich war ich angekommen. Herzlich war der Empfang. Tante L. machte mir sogleich etwas zu essen, Haferflockensuppe und eine Scheibe Brot mit Margarine. Butter gab es nicht, und die Haferflockensuppe war nach ihrem Verständnis ebenso wie die Margarine gesund und füllte dazu für längere Zeit den Magen. Am Abend des gleichen Tags besuchte ich dann auch noch den Onkel und konnte feststellen, dass es zwischen Bruder und Schwester doch einige Differenzen gab, die für mich unerklärlich waren. Für mich war es selbstverständlich, da etwas ausgleichend zu wirken, um diese Differenzen vielleicht auszuräumen. Und später sagte man mir, Onkel B., dem ich so sehr ähnlich sein sollte, hätte das genauso getan. Am nächsten Sonntag ministrierte ich noch, meinem Wunsche entsprechend, zusammen mit meinem Cousin J. In der kleinen Pfarrkirche des Ortes, und ich hoffte, damit und danach vielleicht etwas Positives bewegen zu können. Außerdem war es auch ein bisschen reizvoll für mich, in einer mir bislang unbekannten Welt etwas von dem zeigen zu können, womit ich aufgewachsen war und was auch ein Teil meiner Erziehung war, mag es auch noch so gering gewesen sein. Dazu gehörte eben auch ein perfektes Ministrieren, eine perfekte Wiedergabe des Stufengebets, der Messe-Gebete und der Kirchenlieder. Und ich hoffte, dass das auch vielleicht ein guter Ansatz für die folgenden Gespräche in der Familie des Onkels sein könnte. Ich war gespannt zu hören, was hier in den letzten Jahren vor sich gegangen war, und was vielleicht auch etwas anders war als das, was mir durch die DDR-Medien vermittelt wurde. Und natürlich hoffte ich dann auch, etwas beizutragen zu können, die genannten Differenzen zwischen Onkel und Tante ein wenig auszubügeln.
Ich war so gewissermaßen auch in einer abgewandelten Rolle eines Samurais - nur anders gelagert, d.h. nicht in der Rolle eines Kriegers, sondern vielmehr in der Rolle eines Vermittlers, aber, meinem Verständnis nach, mit einem dem Bushido ähnlichen Werte- und Ehrencodex ausgestattet, wie Mut, Aufrichtigkeit, Höflichkeit, Loyalität und Menschlichkeit. Diese Tugenden waren in mir, wie ich glaubte, auch weitgehend verinnerlicht, und ich glaubte deshalb auch an meine Fähigkeit, etwas vermitteln und erreichen zu können.
Aber nichts von dem, nichts Nennenswertes jedenfalls konnte ich in den nächsten Tagen erreichen. Ich hatte den Eindruck, dass diese meine Verwandten in einer erstaunlichen Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit lebten, die mir fremd war. In meinem Zuhause, in dessen...