Es ist wie immer nach einem solchen Gespräch: Ich fühle mich ausgelaugt und deprimiert. Es hat sich herumgesprochen, dass wir eine klinische Studie zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Gehirntumoren durchführen. Ein neues Konzept der Krebsimmuntherapie: eine Tumorimpfung. Zunächst wurden Krebskranke ausschließlich von den an der Studie beteiligten Ärztinnen und Ärzten eingeschlossen, doch dann meldeten sich Patienten auch direkt bei uns, zuerst aus Österreich, mittlerweile aus der ganzen Welt.
Die Geschichte der Patientinnen und Patienten ist immer wieder ähnlich. Diagnose: Gehirntumor; aber auch bei anderen Krebserkrankungen werden große Hoffnungen auf die Immuntherapie gesetzt. Der Patient M, der gerade mein Büro verlässt, hat vor kurzem von seinem Gehirntumor erfahren. Es hatte mit Sprachstörungen begonnen. Er hatte sich zuerst nicht viel dabei gedacht: Überarbeitung, Stress – vielleicht Burnout? Aber nachdem es innerhalb einiger Wochen immer schlechter wurde, vereinbarte er einen Termin bei einem Neurologen. Eine Zuweisung zur Magnetresonanztomographie, 20 Minuten in der Röhre. Den Befund holte M einige Tage später ab. Verstehen konnte er nicht wirklich, was da geschrieben stand, aber irgendwie klang es nicht gut. Der Neurologe wollte sich nicht festlegen, sprach von einer Raumforderung, die unbedingt abgeklärt werden müsse, und stellte eine Überweisung an die Ambulanz einer Neurochirurgischen Abteilung aus.
Das war kurz bevor wir begannen, die ersten an einem Gehirntumor Erkrankten in unsere klinische Studie einzuschließen. Die Operation wurde wenige Tage später durchgeführt. In der Ambulanz hatte man M gesagt, erst wenn der Pathologe ein Stück des Gewebes genau untersucht haben würde, könne eine endgültige Diagnose gestellt werden. Das Wort Gehirntumor war vermieden worden, die Angst davor ließ sich trotzdem nicht wegschieben, Panik und Verzweiflung folgten. Banges Warten nach der Operation. Der Befund des Pathologen traf drei Tage später ein: Glioblastoma multiforme, Grad IV. Dieses Todesurteil lag während der Besprechung der weiteren Vorgangsweise auf dem Tisch des Ärzteteams. Sechs Wochen Bestrahlung und Chemotherapie, sechs Monate Erhaltungstherapie. Durchschnittliche Überlebenszeit: etwas über ein Jahr.
Die Behandlung ist ein Albtraum. Der Lohn: Das erste MRT nach Ende der Strahlen- und Chemotherapie zeigt keinen Tumor. Die Haare beginnen nachzuwachsen, Rehabilitation, gesunde Ernährung. Wann kann ich zu arbeiten beginnen? Einige Wochen später werden die Sprachstörungen wieder stärker. M hat fast darauf vergessen gehabt, oder besser gesagt: Er hat seine Krankheit erfolgreich verdrängt; sich eingeredet, er wäre einer der ganz wenigen, die ein Glioblastom überleben. Dann der Tiefschlag: Im MRT ist der Tumor wieder sichtbar. Die Sprachstörungen werden intensiver. Eine neuerliche Operation wird vorgeschlagen und durchgeführt. Danach wieder Chemotherapie, ein anderes Arzneimittel, wenigstens die Nebenwirkungen sind diesmal harmloser. Zu Beginn kommt es tatsächlich zu einer rasanten Besserung der neurologischen Symptome. Doch die Hoffnung wird schnell enttäuscht: Im Kontroll-MRT ist der Tumor unverändert zu sehen.
Jetzt beginnt M erstmals ernsthaft über Alternativen nachzudenken: Yoga, Misteln, Homöopathie, Handauflegen, Eigenblutinjektionen, Trennkost – oder doch die Methoden der biomedizinischen Forschung? M kann sich nicht über einen Mangel an Ratschlägen beklagen. Doch alles ist Hörensagen. Der Bruder des Freundes hat Ayurveda probiert und eine ganz tolle Praktikerin gefunden. Die Schwiegermutter hat eine Freundin, die beim Friseur in der Zeitung einen Artikel über die Traditionelle Chinesische Medizin gelesen hat. Die alten Chinesen haben noch das Ganze gesucht – und gefunden! Was glaubst du, warum die so alt werden?
Der Freund von Ms Tochter studiert Medizin. Während der Vorbereitung seiner Diplomarbeit hat er gehört, dass in den USA alle klinischen Studien auf einer öffentlich zugänglichen Website verzeichnet sind. Die Tochter findet auf www.clinicaltrials.gov eine klinische Studie, die versucht, das Immunsystem von Patientinnen und Patienten mit Gehirntumoren in deren Behandlung einzubinden. Die Überraschung: Es ist eine österreichische Studie. Auch Ms Spital ist mit dabei. Er erkennt die Namen seiner Ärztinnen und Ärzte. Warum wurde er auf diese Studie nicht aufmerksam gemacht? Er hätte keinen Augenblick gezögert, sich dafür zu melden. Doch dann sieht er am Datum, dass die Studie zum Zeitpunkt seiner Diagnose noch nicht begonnen hatte. Er beschließt, mehr über diese Behandlungsmethode in Erfahrung zu bringen.
M ist von den Nebenwirkungen der Chemo- und Strahlentherapie gezeichnet, ansonsten aber ein kerngesunder Mann Anfang fünfzig. Zwei adoleszente Töchter; guter Job in einer Bank. Es war ihm angeboten worden, die Position eines Direktors in der Marketingabteilung zu übernehmen. Die Pläne für einen Wintergarten für das Reihenhaus liegen auf dem Esstisch im Wohnzimmer von Ms Familie. Viele der Patienten mit dieser Form eines Gehirntumors sind in den besten Jahren, aber auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene erkranken am Glioblastom.
Unser Tumorimpfstoff ist ein experimentelles Behandlungskonzept. Mein Team aus Ärztinnen und Ärzten, Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, Biotechnologinnen und Biotechnologen und natürlich ich selber: Wir sind sehr zuversichtlich, dass mit unserem Konzept ein Durchbruch bei den Tumorimpfstoffen in greifbare Nähe gerückt ist. Die bisherige Datenlage rechtfertigt unsere Zuversicht. Trotzdem wissen wir alle, dass eine endgültige Prüfung der Wirksamkeit eines neuartigen Behandlungskonzepts nur in einer nach formal-wissenschaftlichen Kriterien durchgeführten klinischen Studie möglich ist.
M will von mir wissen, ob für ihn eine Tumorimpfung infrage kommt. Eigentlich sollte – dürfte – ich gar nicht mit ihm sprechen. Ich bin zwar Arzt, repräsentiere aber den Entwickler eines Arzneimittels. Aus ethischer Sicht habe ich einen Interessenkonflikt. Von mir kommende Informationen werden nicht als objektiv betrachtet. Das Gespräch sollte mit den behandelnden Ärzten und Ärztinnen erfolgen. Aber kann ich einen Mann in meinem Alter mit einem Gehirntumor, der plötzlich in meiner Türe steht, einfach wegschicken? Ich kann’s nicht!
Nein, es ist nicht mehr möglich, dass er an unserer Studie teilnimmt. Unser Studienprotokoll sieht vor, dass die Patienten unmittelbar nach der Diagnosestellung die Tumorimpfung parallel zu ihrer Chemotherapie erhalten. Wenn der Tumor bereits behandelt wurde und dann wieder zu wachsen beginnt, ist keine Studienteilnahme mehr möglich. Um eine wissenschaftliche Aussage treffen zu können, müssen die Patienten in der Studie möglichst gleichförmige Krankheitsbilder haben. Das betrifft auch Stadium und Behandlung, die bei allen Patienten gleich sein muss.
Enttäuschung, Verzweiflung – erstmals ein Anflug von Todesangst – ist in Ms Gesicht zu erkennen.
Warum nicht? Was ist das Problem? Ich erkläre M die Prinzipien der klinischen Entwicklung. Und außerhalb der klinischen Studie? Es ist ein experimentelles Konzept. Wir haben noch keinen endgültigen Nachweis der Wirksamkeit. Wir wissen auch noch nichts über die Langzeitfolgen der Behandlung; Nebenwirkungen, die vielleicht erst in einigen Jahren auftreten. M hat noch wenige Monate. Er wünscht sich nichts lieber, als die Langzeitnebenwirkungen einer Tumorimpfung zu erleben.
In verzweifelten Fällen erlaubt das Gesetz experimentelle Behandlungen als Heilversuch. Ein Hoffnungsschimmer für M? Ich muss die Hoffnung sofort wieder zerstören. Im Rahmen einer klinischen Studie bekommen die Patienten die Studienmedikation gratis. Als Heilversuch kostet die Behandlung sehr viel Geld. Da noch keine Zulassung durch die Arzneimittelbehörden erfolgt ist, zahlen auch die Versicherungen und Krankenkassen nichts.
M sinkt in sich zusammen. Man sieht förmlich, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehen. Könnte er das Geld auftreiben? Wer würde ihn unterstützen? Ein Kredit? Welche Bank vergibt einen Kredit an einen Sterbenden? Wahrscheinlich nicht einmal die Bank, für die er arbeitet. Er hat doch auch diese Zusatzkrankenversicherung, die ihn bisher nur Geld gekostet hat. M war nie ernsthaft krank gewesen; es wäre höchste Zeit, dass die einmal für ihn etwas springen lassen. Für sein letztes Auto, einen BMW der Mittelklasse, hat er weit über fünfzigtausend Euro ausgegeben; der Kredit läuft noch. Natürlich hätte es ein billigeres Auto auch sein können; aber er ist einer, dem das Fahrvergnügen wichtig ist. Jetzt geht’s nicht ums Vergnügen, jetzt geht’s um Leben und Tod; da wird er doch das Geld auch irgendwo auftreiben.
Ich muss M aus seinen Gedanken zurück in die traurige Realität holen. Ich mahne zur Vorsicht. Wir wissen nicht einmal, ob die Behandlung hilft. Alles, was wir haben, sind ermutigende Ergebnisse aus kleineren Pilotstudien und erste konkrete Hinweise auf eine Wirksamkeit.
Eine fast trotzige Antwort von M: Ich habe nichts zu verlieren! Natürlich nicht. Immer wenn ich mit den Patientinnen und Patienten bei diesem Punkt des Gesprächs ankomme – und früher oder später komme ich immer an diesem Punkt an – denke ich dasselbe: Hätte ich eine Krebserkrankung, würde ich selbstverständlich eine Tumorimpfung durchführen wollen. Wenn man vom Tod angezählt wird, ist keine Zeit, auf einen Wirksamkeitsnachweis zu warten.
Ich wünschte, wir wären schon ein paar Jahre weiter – die Krebsimmuntherapie als akzeptierte...