2 Die Geschichte der Hospizbewegung
Schon immer waren Menschen vom Mitleid gerührt und bemühten sich, ihre Kranken und Sterbenden gut zu versorgen. In den Jahrtausenden ist dies unterschiedlich gelungen, je nach persönlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, der Kultur und den religiösen Einstellungen und Vorstellungen.
Im Altertum
In dem Heiligtum des Äskulap in Epidaurus in Griechenland fanden Kranke Heilung durch die Orakel des Gottes und durch ärztliche Hilfe. Ohne diagnostische Techniken und chemische Mittel setzte die Therapie auf menschliche Zuwendungen, auf Gaben der Natur, Stärkung der körperlichen und seelischen Kräfte und auf die Botschaften der Götter. Die Räume waren für die Augen gestaltet, in den Vorhallen, in denen die Kranken lagen, blühten Pflanzen, sangen Vögel und waren nachts die Sterne zu sehen. Schlamm- und Wasserbäder, körperliche Übungen, Milch, Honig und Fruchtsäfte, das ärztliche Gespräch und die Deutung von Träumen gehörten zum therapeutischen Konzept. Allerdings wurden Sterbende nicht aufgenommen. So ist Epidaurus zwar ein gutes Beispiel für Heilstätten und Lebenshilfe, aber nicht für eine Hospizarbeit im heutigen Sinne, wobei die therapeutischen Konzepte von dort durchaus Gestalt annehmen können (vgl. Stoddard, 1987, 20 f.).
Im Morgenland
In den arabischen Staaten gehörte das Krankenhaus zu einer selbstverständlichen Einrichtung und war für die damalige Zeit mit großem Luxus versehen. Sie standen unter der ständigen Aufsicht des Sultans. Aus dem Brief eines Kranken: „Wenn du mich besuchst und Musik aus einem Raum vernimmst, bin ich vielleicht schon im Tagesraum für Genesende, wo es Musik und Bücher zur Unterhaltung gibt. Wenn ich entlassen werde, bekomme ich vom Krankenhaus einen neuen Anzug und fünf Goldstücke, damit ich nicht sofort wieder arbeiten muss. Zum Beweis der Gesundheit darf ich einen Laib Brot und ein ganzes Huhn verzehren.” Das war Lebenshilfe im Morgenland.
Im Abendland
Vor 1.000 Jahren boten im Abendland die Siechenhäuser vor den Mauern der Städte religiöse Betreuung und Hilfe beim Sterben. Große Seuchen bedrohten die Menschen mit dem Tod. Oft wurde vor der Behandlung des Arztes verlangt, zu beichten, da an einen Zusammenhang von körperlichen Gebrechen und Schuld geglaubt wurde, ja oft sogar Krankheit als Gottesstrafe für die Sünden angesehen wurde.
Auf den Höhen der Alpen standen Herbergen, in denen Wanderer und Reisende Schutz, aber auch Pflege bis zum Tod erhielten. In vielen Hospizen des Mittelalters pflegten Orden Kranke und Sterbende. Beispiele aus der Bibel und aus dem christlichen Glauben wie der barmherzige Samariter oder Sankt Christophorus waren Vorbilder. Gerade Notleidende und Ausgestoßene wurden bewusst begleitet und in ihnen begegnete den christlichen Männern und Frauen Christus selbst.
Die Neuzeit
Nach der Säkularisation nahmen Diakonissen und Pastor Theodor Fliedner 1836 in Friedensheim oder die „Irish Sisters of Charity” in London 1905 die Betreuung von Schwerstkranken und Sterbenden wieder auf. Neue Pflegeorden wurden wieder gegründet.
Die Sozialarbeiterin, Krankenschwester und Ärztin Cisely Saunders litt unter den Bedingungen inhumanen Sterbens in dem großen Krankensaal der Großstadt von London. Nicht nur die räumliche Enge, sondern auch die Orientierung an der technischen Medizin als Reparaturwerkstatt, in der das Sterben als Scheitern der ärztlichen Bemühungen empfunden wurde, und das Verschwinden der Sterbenden oft im Badezimmer war für sie kein humanes Konzept. Sie träumte von einem Haus, in dem in Geborgenheit gestorben werden konnte. Mit ihrer Konzeptbeschreibung des „total pain” machte sie deutlich, dass gerade der Schmerz nicht nur körperliche, sondern ebenso emotionale, psychosoziale und spirituelle Ursachen hat. Damit wurde sie Vorreiterin der ganzheitlichen Palliativ Care. Mit ihrem „St. Christopherus Hospiz” schuf sie 1967 ein Modell für eine weltweite Hospizbewegung.
Die Psychotherapeutin Elisabeth Kübler-Ross zeigte in ihrem bekannt gewordenen Buch „Interviews mit Sterbenden” die psychische Seite der Krisen und Sterbeprozesse auf und damit einen heute schon zum Allgemeinwissen gehörenden Weg, durch emotionale Begleitung Sterbenden diesen Weg zu erleichtern.
Im Jahre 1971, also genau vor 30 Jahren, wurde durch den Fernsehbericht des Jesuiten Reinhold Iblacker: „Nur noch 16 Tage”, ein Schwarz-Weiß-Film über das „St. Christopherus Hospiz” in London, eine große Betroffenheit über heutiges Sterben ausgelöst. Die Hospizidee war damit angestoßen und nicht mehr aufzuhalten. 1986 wurden Dachverbände gegründet und die Organisation der Bürgerbewegung Hospiz nahm ihren Anfang.
Der dreistufige Entwicklungsweg
Aus heutiger Sicht sind drei Phasen zu beschreiben:
Stufe 1: Als der Schwarz-Weiß-Film: „Nur noch 16 Tage” die Republik erschütterte und die Idee des Hospizes von London aus, vom St. Christopherus Hospiz den Kontinent erreichte, dauerte es nach meiner Einteilung ungefähr noch 20 Jahre, bis der Hospizbegriff und der Hospizgedanke sich bei uns durchsetzte und auch erste falsche Vorstellungen von einem Sterbe-Haus und einer Sterbe-Klinik korrigiert werden konnten. Bis heute sind, wie ich bei einer Anhörung vor Bundestagsabgeordneten erleben musste, immer noch Vorstellungen in den Köpfen, Hospiz sei ein Haus mit der Gefahr, dass dorthin Sterbende abgeschoben werden. In den ersten zehn Jahren wurde aus dem Hospiz-Haus eine Hospiz-Idee, eine Bürger- und Selbsthilfebewegung, entstanden aus der Erkenntnis und Not, dass auch in Deutschland noch zu häufig unmenschlich gestorben wird. Auch war der wieder aufkommenden Notlösung der aktiven Sterbehilfe (Euthanasie) durch den Hospizgedanken zu begegnen. Aus den Brüchen und Widerständen der Verhältnisse waren die „im Dunkel des gelebten Augenblicks” (Ernst Bloch) verborgenen Entwicklungschancen aufgespürt und weiterentwickelt worden zur Bürgerbewegung, zu einer Wertegemeinschaft und hospizlichen Netzwerken.
Stufe 2: In einer zweiten Phase, die ca. zehn Jahre dauerte, setzte ein wahrer Gründungsboom von Hospizgruppen ein, in einem ungeahnten und auch sehr fruchtbaren Ausmaß. Manche sprechen sogar von Wildwuchs und krebsartigem Wachstum in Bezug auf so viele Gruppengründungen. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass es heute über 1.000 ambulante Hospizdienste und hunderte stationäre Hospize und Palliativstationen gibt? Wer hätte damals gedacht, dass die Bewegung in 16 Landesarbeitsgemeinschaften, neun Dachorganisationen im “Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verband (DHPV)” zusammengefasst und organisiert sind. Die stationären Hospize sind finanziell gesichert und die Gesundheitsminister haben auf den Weg gebracht, auch die ambulante Hospizarbeit finanziell und bundesweit abzusichern, was 2001 durch Gesetz standfest geworden ist (§ 39 a, Abs.2 SGB V). Mit solchen finanziellen und personellen Absicherungen einher geht aber auch die Frage: Was trägt eine solche Tätigkeit für die Menschen und das Gemeinwohl tatsächlich aus?
Stufe 3: In den kommenden, vielleicht wieder zehn Jahren, wird nach dem Gründungsboom und der Schaffung organisatorischer Strukturen eine Konsolidierung, die Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung eine wichtige Aufgabe sein. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz hat dazu einen Ausschuss eingesetzt. TQM: „Top Quality Management”, das seinen Ursprung in der Industrie hat und schon länger in den Nonprofit-Organisationen und in die soziale Arbeit Einzug gehalten hat, erreicht nun auch die Hospizbewegung mit den Fragen: Was ist eine qualitativ wirksame Sterbebegleitung? Was erwarten Sterbende und Angehörige von ihr? Wann können sich die haupt- und ehrenamtlich Beteiligten nach ihrem Beitrag und ihrer Arbeit zufrieden zurücklehnen? Die Liste von Qualitätskriterien der Rahmenvereinbarung hat unmittel-bare Auswirkungen auf Strukturen, auf politische Notwendigkeiten und Forderungen, hat aber insbesondere Konsequenzen für die Ausbildung und auch für die Befähigung der Ehrenamtlichen und der helfenden Berufe.
In der wissenschaftlichen Qualifizierung und fachlichpflegerischen Fortbildung sind Lehrstühle für Palliativmedizin und -pflege, Studienprojekte in Palliativ Care und Spezialisierungen für Ärzte und Pflegefachkräfte für die Palliativ-Versorgung entstanden.
In der Organisation sind die Hospizverbände und die Palliativmedizin verbunden und Netzwerke in gemeinnützingen GmbH’s organisiert.
Am Sterbebett und auch schon rechtzeitig früher kümmern sich seit 2007 Palliative-Teams, abgesichert und verordnet als Allgemeine (AAPV) und spezialiserte ambulante Palliativ-Versorgung (SAPV).
Problematisch wird beobachtet, ob die Idee der Hospizbewegung mit ihrer Begleitung statt Versorgung und ihrer überwiegenden Ehrenamtlichkeit nicht durch die Medizin verdrängt wird und ein Alleinstellungsmerkmal für Sterbende...