Kapitel 1
Herkunftsfamilie väterlicherseits
Meine Großmutter hieß Johanna Steinsdorfer, unehelich geborene Rieger aus Regenstauf, Geburtsdatum 22. April 1869, gestorben 1932. Ich bin 1931 geboren und daher sind für mich keine eigenen Erinnerungen vorhanden, sondern nur Überlieferungen von Onkeln und Tanten. Ich bin in aber im Besitz eines Familienfotos, das eine Frau mittlerer Größe zeigt. Um das Gesicht treffend zu beschreiben, würde ich sagen, es zeigt ein slawisches Gesicht. Früher nannte man diese Physiognomie im Volksmund: „Die schaut ja aus wie eine Zigeunerin.“ Das schwarze Haar und die stark braune Hautfarbe taten das Übrige, dieser Beschreibung gerecht zu werden.
Mein Großvater hieß Josef Steinsdorfer, am 27. August 1867 unehelich als Josef Sauer geboren, legitimiert durch seine Eltern Anna und Matthias Steinsdorfer zu Schneeberg, bei Oberviechtach in der Oberpfalz, gestorben 1955 zu Offenstetten. Er ging als junger Mensch nach Neuburg vorm Wald in eine Tuchweberlehre. Später trat er ins Militär ein, in die ehemals königliche bayerische Armee in Augsburg, viertes Feldartillerieregiment.
Nach fünfjähriger Militärzeit trat er wieder ins Zivilleben ein. Zum Broterwerb fing er einen Hausierhandel an. Irgendwann lernte er seine zukünftige Frau Johanna Rieger kennen. Am 27. März 1893 wurde geheiratet. Fortan gingen sie gemeinsam auf die Wanderschaft. Laut Urkunde war zu dieser Zeit das erste Kind schon geboren: Justine, 1892. Das zweite Kind, ein Junge mit Namen Ludwig, war schon unterwegs, wie man so schön sagt. Der Verdienst im Hausiergeschäft verflüchtigte sich im Wandel der Zeit und brachte nicht mehr genug zum Leben, trotzdem nahm die Vergrößerung der Familie nun ihren Lauf. Es wurden noch viele Kinder gezeugt, bestimmt 16 an der Zahl. Davon erreichten jedoch nur zwölf das Erwachsenenalter.
In meiner Kindheit wurde uns glaubhaft gemacht, der Storch würde die Babies bringen. Der arme Langbeiner hätte mit meiner Herkunftsfamilie bei dieser Kinderzahl schon genug zu tun gehabt.
Die Familie hatte keine feste Wohnung, kein Haus. Ihre Behausung war ein Planwagen, der weder von einer Kuh, noch von einem Esel und am allerwenigsten von einem Pferd gezogen wurde, sondern im wahrsten Sinne des Wortes von meinem Großvater, bekannt als der „Stein Sepp“, der später in einer alt bayerischen Heimatpost („Bayerische Originale“ aus dem Jahre 1980) als der Mann mit dem größten Bizeps bezeichnet wurde.
Das hat folgende Vorgeschichte:
Ein Bauer war mit einer Pferdefuhre, voll beladen mit Kartoffeln, auf seinem Acker stecken geblieben. Mein Großvater, grad anwesend und immer hilfsbereit, bot dem Bauer seine Unterstützung an, indem er sich auf den Rücken legte und mit den Beinen dem Fuhrwerk so viel Anschubkraft gab, dass die Pferde das Gefährt rausziehen konnten.
Tagsüber, zum Körbe fertigen, hielt sich die Familie am jeweiligen Ort in einem Heustadel auf. Die Erstgeborenen, schon etwas größer, konnten zwecks Platzmangel nicht mehr im Planwagen schlafen, denn meine Großeltern brauchten für die kleineren Kinder eine Schlafstätte. Also war die Alternative der größeren Kinder der Heustadel und in der kälteren Zeit der Stall, wo sie wenigstens etwas Wärme hatten.
War das Kontingent an Heukörben im Umkreis ihres Standortes gedeckt, wurde in ein anderes Dorf weiter gezogen. So ergab es sich, dass fast jedes Kind einen anderen Geburtsort hatte. Manchmal kehrte die Familie auch nach einiger Zeit zum alten Ort zurück und so hatten auch mal zwei Kinder denselben Geburtsort.
Onkel Hans, ein Bruder meines Vaters, einer von den Erstgeborenen, schilderte das Gebären seiner nachkommenden Geschwister sehr plastisch.
Wenn eine neue Geburt anstand, sagte seine Mutter zu den übrigen Kindern, die gerade anwesend waren, was bei so vielen Kindern wahrscheinlich war: “Geht’s zum Spielen“.
Vom Spiel, oder anderen Tätigkeiten zurückgekommen, hielt sie wieder ein Neugeborenes auf dem Arm.
Ungefähr im zwölften Lebensjahr mussten die Kinder die Familie verlassen. Die Jungs kamen zum nächsten Bauern als Stalljungen, ein damaliger Begriff für Kinderarbeit. Der Vormittag war für die Schule bestimmt. Ab Mittag mussten sie dem Bauer für Hof, Stall und Feldarbeit zur Verfügung stehen. Der Lohn bestand aus Kost und Logis, manchmal ein paar Schuhen oder einem Kleidungsstück, je nach Großzügigkeit des Bauern.
Die Mädchen hatten es vermeintlich schon etwas besser, oder auch nicht. Das kommt auf den Betrachter an. Justine, die Erstgeborene, kam als Hausmädchen zum Herrn Hauptlehrer und seiner Gnädigen nach Inkofen an der Laaber.
Resi und Marie wurden nach Regensburg vermittelt, die eine zum fürstlichen Finanzrat, die andere zum fürstlichen Baurat. Der Tagesrhythmus war derselbe wie bei den Brüdern. Vormittags Schule, nachmittags dienen bei den hohen Herrschaften, für „'nen Appel und en Ei“.
Der Radius, in dem sich meine Großeltern in ihrem Arbeitsleben bewegten, reichte von
Barbing/Reg. (1892/ Justine),
Neueglofsheim (1893/ Ludwig),
Allersdorf/ Mallersdorf (1894/ Resi),
Ettenkofen/ Hofendorf (1896/ Hans),
Gieseltshausen/ Rottenburg an der Laaber. (1897/ Maria,1899/ Johanna),
Regensburg (1902/ Heinrich),
Pfaffenberg/Straubing (1904/ Albert),
Inkofen/Rottenburg an der Laaber, (1907/ Josef, 1909/ Karolina, 1912 Albrecht) und
Adelhausen/ Rohr (1910/ Siegfried).1
Die Kinder, viele inzwischen schon erwachsen, besonders die Töchter, baten die Eltern, das Herumwandern mit dem Planwagen aufzugeben und sich einen festen Wohnsitz an zu eignen.
Meine Großeltern folgten dieser Bitte und begaben sich auf Wohnungssuche.
Der feste Wohnsitz wurde besiegelt im Steinbruch, zugehörig zu Offenstetten. Die Familie Steinsdorfer zog ungefähr 1917 ins „Schrödelhaus“, das wir heute noch als „Kantine“ bezeichnen und welches sich mitten im Wald, ganz in der Nähe vom Steinbruch befindet. Es ist ein Überbleibsel einer Farbfabrik (Keim-Farben), die um die Jahrhundertwende (1900) abmontiert und nach Berlin verkauft wurde.
Familie Schrödel hat dieses Gebäude für ihren Eigenbedarf erworben und der Rest wurde vermietet, unter anderem an meine Großeltern.
Nachdem die Großmutter in diesem Haus verstorben war, beschlossen die drei älteren Töchter, Justine, Resi und Marie für meinen Großvater im Ortsteil See in Offenstetten eine Bleibe zu schaffen. Ein kleines Häuschen mit drei kleinen Durchgangsräumen und einem Vorhaus wurde gebaut. Drei Stufen führten hoch zum Eingang des Häuschens, welches aus Küche und zwei Schlafräumen bestand. Die Küche diente im Winter auch als Arbeitsraum, um Großvaters Heukörbe anzufertigen. Die gute alte Stube war im Winter schön warm, „damit man die Not nicht so spürte“, so ein überlieferter Ausspruch meiner Großmutter. Zwischen unseren Häusern befand sich die Hauptstraße nach Abensberg, die sogenannte Ochsenstraße – heute Kreittmeyer Straße. Wann auch immer ich konnte, ging ich meinen Großvater besuchen.
Ich durfte dann beim Körbe flechten mitarbeiten. Für mich jedes Mal ein großes Erlebnis. Nebenbei erzählte mein Großvater Geschichten aus seinem Leben. Da stand ein Küchenherd, der spendete viel Wärme, eine Schnitzbank und das dazu gehörende Schnitzmesser und das Werkzeug, um das Holz verarbeitungsfähig zu formen. Es roch immer nach frischem Holz. Mein Großvater liebte aber auch den Schnupftabak, was ich wiederum sehr eklig fand. Bei jedem Schnupfvorgang kniff ich die Augen zu und hielt die Ohren zu, um davon nichts zu sehen und nichts zu hören. Er sang dazu: „Der Kautabak, der Schnupftabak, das ist mein Leben, der Kautabak, der Schnupftabak das ist mei Freud!“
Im Sommer fand das Herstellen von Körben im Garten vorm Haus statt.
Die Tochter Hanne, ledig, zog mit ihm in dieses Häuschen, um ihren Vater beim Korbflechten zu unterstützen und nebenbei den Haushalt zu versorgen.
Sie war eine kleine Person, mit viel Humor ausgestattet, trotz ihres schweren Lebens. Zu Fuß brachte sie die schweren Heukörbe, immerhin bis zu drei Stück aufgetürmt, auf ihrem Rücken zu den Abnehmern in die umliegenden Dörfer. Der Weg führte oft bis Helchenbach, Adlhausen, Rohr, Kirchdorf – um nur einige Orte aufzuzählen.
Beim Beziehen dieses Eigenheims pflanzte mein Großvater am Eingang des Grundstücks einen Nadelbaum, eine Föhre, die sich im Wuchs rasch ausbreitete und sich zu einem fast exotischen Gebilde mit verschnörkeltem Geäst entwickelte. Im Stillen machte ich diesen Baum zu meinem Baum. Ich wuchs mit ihm und wurde alt mit meinem „Pseudoadoptivbaum“.
Der Baum aber, von den Jahren gezeichnet, für mich ein Synonym für Familie, fiel 2012 einer Säge zum Opfer, was mich damals sehr traurig stimmte.
1952 verstarb meine Tante Hanne und hinterließ einen unehelichen, volljährigen Sohn Franz....