Prolog
Daheim
Baja California, Mexiko Februar
[Tim]
Für Nomaden wie uns ist »daheim« ein relativer Begriff, und unser Zuhause liegt weit ab vom Schuss an einem Strandstück zwischen zerklüfteten vulkanischen Felsen und den azurblauen Wassern der Sea of Cortez in Baja California in Mexiko. An diesem einzigartigen Fleck unseres Planeten koppeln wir jeden Winter unseren sechs Meter langen Airstream-Wohnwagen ab und kommen für eine Weile zur Ruhe.
An einem besonders schönen Morgen gegen Ende Februar waren wir schon früh auf dem Wasser. Ringo, unser fast fünfunddreißig Kilo schwerer Standardpudel, hockte vorn auf dem Paddle Board meiner Frau Ramie. Um uns herum tummelten sich ein paar Delfine, die Ringo offenbar dazu bringen wollten, ins Wasser zu springen. Die Fontänen, die aus ihren Blaslöchern spritzten, schimmerten im Gegenlicht der aufgehenden Sonne und boten ein atemberaubendes Schauspiel. Ich schmeckte das Salzwasser ihres Sprühnebels auf den Lippen. Fischadler und Blaufußtölpel tauchten nach ihrem Frühstück, und unter unseren Boards filterte ein Walhai Plankton. Schließlich erhob sich die Sonne über den Bergen und tauchte die Bay of Conception in leuchtendes Gold.
Als wir später zusammen mit einigen Strandgenossen im Wasser dümpelten und eine Pause vom Stand Up Paddling machten, entspannten sich unsere Muskeln, und unsere Lebensgeister erwachten. Wir kamen auf Grundsätzliches zu sprechen. Es ging ums Älterwerden, speziell das Älterwerden unserer Eltern. Wir malten uns aus, was wir tun und wie wir uns verhalten würden, machten Pläne, stellten uns eine Zukunft vor, die in weiter, weiter Ferne lag.
Was würden Ramie und ich tun, wenn ihre Mutter Jan, die im Westen Pennsylvanias wohnte, oder meine Eltern Leo und Norma aus Michigan nicht mehr für sich selbst sorgen konnten? Wann wäre die Zeit gekommen, im Interesse unserer Eltern tätig zu werden? Und wie würde das aussehen? Welche Art von Pflegeeinrichtung wäre angemessen? Gab es Patientenverfügungen? Welche Hoffnungen, welche Ängste hatten unsere Eltern? Ramies Mutter, die sehr gesellig war und eine passionierte Bridgespielerin, wäre wahrscheinlich in einer betreuten Wohngemeinschaft gut aufgehoben. Aber meine Eltern – die praktisch unter freiem Himmel in ihrem Garten lebten und die sehr stark mit ihrem Heim verbunden waren – würden sich in einer solchen für sie neuen Umgebung womöglich quälen.
Ein Nomadendasein zu führen und Eltern zu haben, die langsam ins Alter kommen, verträgt sich nicht miteinander, und deswegen war ich immer davon ausgegangen, dass sich meine jüngere Schwester Stacy, wenn es soweit wäre, um Mom und Dad kümmern würde. Aber Stacy war vor acht Jahren an Krebs gestorben. »Wir müssen das noch nicht bis in alle Einzelheiten planen, zumindest nicht heute. Wir haben Zeit. Noch sind alle gesund. Genießen wir den Augenblick.« Ich schob meine Ängste und Fragen beiseite, um mich dem Genuss des Augenblicks hinzugeben, und vertraute darauf, dass ich tatsächlich die Zeit hatte. Hoffte, dass ich die Zeit hatte.
***
Wir waren nicht immer Nomaden gewesen, aber ich glaube, diese einfache und ungebundene Lebensweise hatte uns schon lange gereizt. Als Ramie und ich uns kennenlernten, stellten wir fest, dass wir zusammen genommen in vierzehn verschiedenen Staaten gewohnt hatten. Dass wir zur selben Zeit denselben Ort aufsuchten, dass wir einander begegneten, betrachteten wir als Fügung.
Ich hatte mir selbst das Bauhandwerk beigebracht und fuhr in meinem alten Ford Pickup durch die Lande, renovierte Häuser oder gestaltete sie um; Ramie war Beraterin im Non-Profit-Bereich und hatte zuvor auf Kreuzfahrtschiffen und in Ferienresorts gearbeitet, um ihrer Reiselust zu frönen. Wir hatten beide in jungen Jahren enge Verwandte verloren. Wir hatten unseren Anteil an Kummer und Schmerz gehabt und versuchten ganz bewusst, ein Leben zu führen, in dem es mehr um die Suche nach einem Sinn als um ein hohes Gehalt ging. Wir sehnten uns nach einem Leben jenseits der ausgetretenen Pfade, frei von materiellen Dingen, finanziellen Lasten und, ja, auch familiären Verpflichtungen.
An dem Tag, an dem Ramies Schwester Sandy aus Maryland anrief, um uns einen alten Airstream-Wohnwagen anzubieten, veränderte sich unser Leben für alle Zeiten. Wir befanden uns 3200 Kilometer entfernt in Colorado und besaßen kein Zugfahrzeug, waren aber sehr interessiert. Mit einem geliehenen Chevy Pick-up fuhren wir Richtung Osten, um das Angebot in Augenschein zu nehmen. Ich war 45 Jahre alt, und Ramie und ich hatten es beide allmählich satt, mit einem Zelt zu campen und auf dem Boden zu schlafen. Die Aussicht, unsere Häupter komfortabel in einem Raum auf Rädern betten zu können, erschien uns traumhaft.
Der Wohnwagen war alt, aber frisch gepolstert, hatte eine kleine Küche und eine funktionsfähige Toilette. Ich strich mit der Hand über seine wettergegerbte Aluminiumhülle, die von der Juli-Sonne aufgeheizt war und deren kultige Rundungen mich mit Vorfreude erfüllten. »Das wird toll«, sagte ich zu Ramie. Den Rückweg nach Colorado nutzten wir als Testfahrt. Die wichtigste Entscheidung des Tages betraf jeweils den Ort, an dem wir parken und übernachten wollten. Wir hatten das Gefühl, nach einer neuen Freiheit zu greifen und uns darin einrichten zu können.
Nach unserer Rückkehr tauschte Ramie ihr geliebtes Kabrio gegen einen rot glänzenden Pick-up mit Anhängerkupplung, und wir machten uns daran, eine neue Lebensart zu erkunden. Wir nutzten den Wohnwagen, wann immer wir konnten.
Wir brauchten nur einen schlimmen Winter, um zu der Überzeugung zu kommen, dass wir während der dunklen Monate mit ihren kurzen Tagen und extralangen Nächten lieber Zuflucht in wärmeren Klimazonen suchen sollten. Im Norden Michigans in der Nähe meines Elternhauses hatten wir eine alte Fischerhütte renoviert, die eigentlich nur für eine Nutzung im Sommer gedacht war. So sehr wir den rostigen alten Ofen auch mit Brennholz fütterten, Stunden später war alle Wärme aus der Hütte entwichen – weder Wände noch Decke waren gedämmt. Nachts zitterten wir zusammen mit unserem damaligen Vierbeiner, einem deutschen Schäferhund namens Jack, in unserem Gemeinschaftsbett. Ich träumte immer öfter von dem wundervollen sonnigen Strand, an dem ich ab Mitte der neunziger Jahre ein paarmal gezeltet hatte. Wir einigten uns auf die Baja California als Winterdomizil, die Halbinsel im Westen Mexikos.
Während unseres ersten Aufenthalts in Baja machten wir uns mit der Lebensart in einem Campingwagen (einem recreational vehicle, kurz RV) und außerhalb des üblichen Versorgungsnetzes vertraut. Unsere Batterien luden wir mithilfe eines kleinen Solarkollektors auf, und gleichzeitig bemühten wir uns, sparsam mit Energie umzugehen. Ampere und Watt sowie andere Fachbegriffe der Elektrik spielten plötzlich eine Rolle in unserem Leben, und diese Lektion lernten wir auf die harte Tour, als eines Abends unser Licht zu flackern begann und wir feststellen mussten, dass wir fast keinen Saft mehr hatten.
Auch der sparsame Umgang mit Wasser wurde wichtiger als je zuvor, denn Frischwasser musste aus einem kleinen Fischerdorf nördlich des Campingplatzes geholt werden, das eine halbe Stunde entfernt lag. Weil es keine Entsorgungsstation für unser Abwasser gab, mussten wir auf selbst ausgehobene und am Strand verteilte Latrinen ausweichen. Wir benutzten eine Solardusche und eine improvisierte Freiluftkabine, die wir mithilfe eines Hula-Hoop-Reifens und eines Duschvorhangs an der offenen Tür des Pick-ups gebaut hatten.
Trotz des Mangels an zivilisatorischen Annehmlichkeiten erwies sich Baja als Magnet für eine Vielzahl von Menschen aus aller Welt – Leute wie Jelle und Deb, Seeleute und Folksänger aus Kanada. Im Sommer wohnen sie auf einem Segelboot, das in der Maple Bay vor Vancouver Island ankert, die Winter verbringen sie an den Stränden von Baja California in einem knapp vier Meter langen Oldtimer-Wohnwagen ohne Toilette. Chris und Bessy, Computerprogrammierer im Ruhestand, die in Südafrika gelebt hatten, hielten sich jetzt abwechselnd in Upstate New York, San Francisco und Baja auf. Und es gab auch noch »Santa Wayne«, den beliebtesten Santa-Claus-Imitator in ganz British Columbia. Wie man unschwer erraten kann, tauchte er erst nach Weihnachten am Strand auf. Und nicht zu vergessen Pedro und Janet, der schillernde Zeremonienmeister internationaler Reit- und Springturniere, und seine in Holland geborene Ehefrau, ihres Zeichens Pferdetrainerin. Auch am Strand verzichtete Pedro nicht auf extravagante Auftritte. Diese Menschen, die Jahr für Jahr wiederkehrten, waren hauptsächlich Nordamerikaner, aber auch viele ausländische Touristen kamen auf dem Weg zum mexikanischen Festland hier vorbei, wenn sie die Fähre in La Paz weiter im Süden nahmen.
Jeden unserer Tage begannen wir mit einer frühmorgendlichen Kajaktour um die nächstgelegene Insel, die ungefähr eine Meile vor der Küste lag. Wir ließen uns treiben und warteten darauf, dass die Sonne über der bergigen Halbinsel aufging, die die Bucht bildete. Beseligt genossen wir die morgendliche Stille, bevor wir zur Küste zurückkehrten. Wir gönnten uns einheimische Erdbeeren auf Joghurt zum Frühstück, bevor wir uns einer Gruppe anschlossen, um eine knapp fünf Kilometer lange Wanderung bergauf zu machen. Zurück ging es über einen Wüstenpfad, der sich zur Bay schlängelte. Nachdem wir auf dem Weg zu unserem Wohnwagen den neuesten Strandklatsch gehört hatten, beratschlagten wir, wie wir den weiteren Tag verbringen wollten – mit Stehpaddeln, Schwimmen, einer längeren Wanderung oder vielleicht einem Besuch bei neuen und...