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Willkommen bei den Friedlaenders!

Meine Familie, ein Flüchtling und kein Plan

AutorAdrienne Friedlaender
VerlagBlanvalet
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641214043
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Vier Söhne, ein Flüchtling, kein Plan - aber jede Menge Herz!
Die Berichte in den Nachrichten, die vielen Bilder. So viele Flüchtlinge, und keiner weiß, wohin mit ihnen. Bei vier Söhnen, einer 90-jährigen Großmutter, Kater und Hund kommt es auf einen Jungen mehr auch nicht an, denkt die alleinerziehende Mutter und Journalistin Adrienne Friedlaender - und wenig später zieht der 22-jährige Moaaz aus Syrien bei ihr und ihren Söhnen ein. In amüsanten Episoden erzählt sie vom Multikulti-Mix unterm Reihenhausdach, von fröhlichen, irritierenden und bewegenden Begegnungen. So einfach kann Integration sein?

Adrienne Friedlaender, Jahrgang 1962, ist freie Journalistin. Seit mehr als zehn Jahren schreibt sie Porträts, Kurzgeschichten, Interviews und Reisereportagen aus aller Welt für Tageszeitungen, Magazine und Online-Medien. 2017 erschien ihr erstes Buch »Willkommen bei den Friedlaenders!«, mit dem sie die SPIEGEL-Bestsellerliste eroberte. Seitdem widmet sie sich in ihren fröhlichen und lebensklugen Büchern den Themen, die sie ganz persönlich bewegen. Adrienne Friedlaender lebt mit zwei ihrer vier Söhne in Hamburg.

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Leseprobe

1

Wir holen »unseren Flüchtling« ab

Die Kinder wecken mein Gewissen. Wir fahren in die Erstaufnahme für Flüchtlinge, um einen Eindruck zu bekommen, uns umzuschauen, und merken sofort: Das hier ist kein Tierheim. Moaaz muss da sofort raus.

Und nun stand ich hier also im Matsch vor den Containern, die ich sonst nur von der A7 aus im Vorbeifahren gesehen hatte. Meine beiden jüngsten Söhne waren mitgekommen: der achtjährige Johann und der zwölfjährige Juri. Sie wollten sehen, wie die Flüchtlinge lebten, von denen alle Welt sprach, und vor allem natürlich dabei sein, wenn wir den jungen Mann kennenlernten, der ihr Ziehbruder auf Zeit werden könnte. Die beiden standen an der Schranke und sahen sich neugierig um. Es hatte seit Tagen geregnet, der Boden war vom Novemberregen aufgeweicht. Das dunkle Herbstwetter passte zur trostlosen Stimmung in der Flüchtlingsunterkunft. Dutzende junger Männer in Jogginghosen und mit Badelatschen standen überall herum, daddelten an ihren Handys, telefonierten, versuchten, Kontakt aufzunehmen zur Familie, zu Freunden, zu wem auch immer. Eine Handvoll Sicherheit. Die einzige Verbindung zur Heimat.

Wir waren in der Hamburger Erstaufnahmeeinrichtung Schnackenburgallee gelandet, weil meine Freundin Marion hier als Kunsttherapeutin mit Kindern arbeitete. Über die Wochen und Monate hatte sie einige Kontakte geknüpft, Freundschaften geschlossen und mir nun auch den Namen des jungen Mannes genannt, den wir hier gleich treffen wollten. Ich pfriemelte einen Papierschnipsel aus der Hosentasche und nannte dem Pförtner den fremd klingenden Namen. Ohne Einladung kam keiner hinein in die Containerstadt. Der Pförtner tauschte meinen Ausweis gegen einen Besucherschein, und wir durften die fremde Welt betreten.

Wie waren wir überhaupt hierhergekommen? Die Berichte in den Nachrichten, die vielen Bilder der Flüchtlinge in überfüllten Booten, vor hohen Zäunen campierend … So viele Menschen, und keiner wusste, wohin mit ihnen. Und dann fragte Juri eines Tages: »Warum nehmen wir eigentlich niemanden auf? Alle reden immer von Mitleid und wie schrecklich all das für die armen Flüchtlinge ist, aber keiner will sie ins Haus lassen. Finde ich eigentlich echt komisch.«

Auch ich hatte schon zigmal darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, einen Flüchtling in unserer Familie aufzunehmen. Wie es wohl wäre, mit einem fremden Menschen aus einer ganz anderen Kultur mit einer anderen Geschichte unter einem Dach zu leben. Frauenbild, Glaube, Essen, Kleidung – alles so fremd. Was wusste ich schon vom Nahen Osten, von arabischer Lebensweise? Ich sprach mit Freundinnen über die Idee.

»Hast du gar keine Bedenken, mit einem Muslim unter einem Dach zu leben? Wer weiß, ob du ihn jemals wieder loswirst? Was ist, wenn er unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leidet? Man hat doch schon so oft davon gehört, dass das zu unkontrollierten Wutausbrüchen und wer weiß was führen kann … Und was ist dann? Oder wenn irgendwelche anderen Probleme auftauchen? Hast du als Alleinerziehende mit deinen Söhnen nicht schon genug um die Ohren?«, fragten sie. Aber all die Skrupel und Vorbehalte gefielen mir nicht. Nicht in meinem Umfeld und noch weniger bei mir selbst. Jahrelang hatte ich mit meinen vier Jungs allein zusammengelebt und jede Menge Dinge erlebt, die mir als Frau ebenfalls mehr als fremd waren. Trotzphase, Fäkalsprache, Du-bist-so-peinlich-Phase, Pubertät – einer spann irgendwie immer bei uns im Haus … Und egal aus welchem Land, schließlich war auch ein junger Flüchtling nur ein Heranwachsender. Oder?

Ich fühlte mich ertappt von meinem Sohn mit all meinem Zögern, den Skrupeln und Vorbehalten. Ein paar Tage später erzählte mir meine Freundin Marion, dass sie Hussein, einen vierundzwanzigjährigen Juristen, bei sich aufgenommen habe. Sie hatte ihn angesprochen, als er im »Kunstzelt« der Erstaufnahmeeinrichtung gesessen und Klavier gespielt hatte. Ein paar Tage später hatte Marion dann mit und bei einer deutschen Freundin einen syrischen Abend organisiert. Hussein war dabei gewesen. »Wir haben zusammen syrisch gekocht und einen schönen, fröhlichen und sehr persönlichen Abend verbracht. Und es hat mich wahnsinnig traurig gemacht, Hussein und meine anderen syrischen Freunde danach wieder in die Schnackenburgallee zurückzubringen«, schilderte Marion mir ihre Gefühle. »Die halbe Nacht habe ich wach gelegen und gegrübelt. Dann habe ich meine Familie am nächsten Morgen gefragt, was sie davon halten, Hussein bei uns aufzunehmen. Alle waren sofort einverstanden.«

Ein Gästezimmer gab es in Marions Haus nicht. Aber ein Arbeitszimmer für ihre verschiedenen Kunstarbeiten und Projekte. Das räumte sie zwei Tage lang leer, holte Schrank und Bett aus dem Keller, richtete alles gemütlich her und holte Hussein ab.

Und plötzlich passte auch für mich alles zusammen. Meine Kinder waren aus dem Gröbsten raus, Justus, mein Ältester, bereits ausgezogen. Alles im Leben hat seine Zeit. Und ich hatte das Gefühl, dass jetzt für mich die Zeit gekommen war, einmal ein wenig zurückzugeben von unserem Glück. Denn Glück hatten wir tatsächlich. Glück, in einem Teil der Welt geboren worden zu sein und zu leben, in dem nicht jeden Tag das eigene Leben bedroht ist, in dem Sicherheit und Frieden selbstverständlich sind.

Ich hatte mir oft vorgestellt, wie es andersrum wäre. Wie es mir gehen würde, wenn mein Sohn fliehen müsste. Mit unbestimmtem Ziel und der Angst, ob er überhaupt irgendwo lebend ankäme. Wie dankbar wäre ich einer anderen Mutter am anderen Ende der Welt, die ihn aufnehmen würde.

Justus war einundzwanzig Jahre alt und nach Berlin gegangen, um Schauspiel zu studieren. Juri, der sich vorher mit Johann ein Zimmer teilen musste, hatte sein Zimmer übernommen. Aber das konnten wir vorübergehend natürlich auch wieder rückgängig machen. Vorausgesetzt, alle Kinder wären einverstanden, einen Flüchtling aufzunehmen. Denn für mich war klar: Nur gemeinsam, als ganze Familie, war so ein Projekt möglich.

Familienrat war angesagt. Im Gegensatz zu mir zerbrachen sich die Jungs nicht lange den Kopf, sondern waren sofort begeistert von der Idee zu helfen. Juri und Johann waren direkt bereit, sich wieder ein Zimmer zu teilen. »Und ich schlafe dann einfach auf dem Sofa, wenn ich am Wochenende nach Hause komme«, verkündete Justus. Meinem achtzehnjährigen Jonah lag vor allem am Herzen, dass wir auf gar keinen Fall eine junge Frau aufnähmen, sondern einen Jungen, damit er gut in unseren »Männerhaushalt« passte. Ich hatte insgeheim sehr mit einem Mädchen geliebäugelt. Was für eine schöne Idee, einmal ein weibliches Wesen um mich herum zu haben. Aber mir war klar, dass ein Junge einfacher zu integrieren sein würde. Und dann waren wir uns alle sehr schnell einig: Auch wenn unser Haus nicht riesig war, so war es doch groß genug, um einen Menschen mehr unterzubringen. Alles andere würden wir dann schon hinkriegen. Auf einen Jungen mehr im Haus kam es jetzt irgendwie auch nicht an.

In der Erstaufnahmeeinrichtung sahen Juri und Johann sich mit großen Augen um. Bislang hatten sie nichts Ähnliches gesehen in ihrer kleinen heilen Welt.

»Besser als im Krieg, aber nicht gerade ein schöner Ort zum Leben, oder, Mami?«, meinte Juri und blickte mich unglücklich an. Besser konnte man es nicht sagen. Sicherheitspersonal patrouillierte durch die Gänge zwischen den Containern. Kinder liefen mit Greifzangen umher und sammelten offensichtlich in Eigeninitiative Müll auf. Die jungen Männer, die bei winterlichen Temperaturen mit Flip-Flops im Nieselregen vor dem Container standen, waren zwar dem Krieg entkommen und mussten nicht mehr täglich um ihr Leben bangen, aber die Angst um die Zurückgebliebenen und die Traurigkeit über den Verlust der Familie standen in ihren Gesichtern geschrieben.

Ich nahm meine Söhne links und rechts an die Hand, und wir fragten uns durch zur Kantine, wo wir meine Freundin und den einundzwanzigjährigen Moaaz treffen sollten. Neugierige Blicke verfolgten uns. Hier in der kleinen Flüchtlingsstadt waren wir diejenigen, die anders aussahen. Mit unseren hellen Haaren und blassen Gesichtern waren wir die Fremden. Ein sonderbares Gefühl.

Dann entdeckten wir im Versorgungszelt, inmitten des Gewusels von Menschen, die bei der Essensausgabe anstanden, an langen Tischen Tee tranken und Kinder fütterten, Marion. Neben ihr wartete ein junger Mann, viel zu schmal und mit viel zu traurigen Augen. Er musterte uns schüchtern, während Marion ihn uns vorstellte.

Wir setzten uns auf die einfachen Holzbänke. Moaaz brachte mir einen Kaffee. Wie zuvorkommend! – Er selbst trank nichts. Seine Hände zitterten, als er mir den Pappbecher überreichte. Vor Aufregung, vermutete ich. Dann saßen wir uns erst einmal wortlos gegenüber. Juri und Johann musterten den jungen Mann, der seine Cap verkehrt herum auf dem Kopf trug und abgesehen vom Bart und dem etwas dunkleren Teint eigentlich genauso aussah wie andere große Jungs auch.

Ich hatte mir vorgestellt, wir würden miteinander plaudern, uns kennenlernen und dann in weiteren Treffen ein Gefühl dafür entwickeln, ob wir zueinander passten. Ob die Jungs und ich uns vorstellen könnten, den jungen Flüchtling über den Winter in unser Haus aufzunehmen, und umgekehrt: ob Moaaz sich vorstellen konnte, zu einer fremden Familie zu ziehen. Was für ein naiver Quatsch! Dies war kein Besuch im Tierheim nach dem Motto: Wenn dieser uns heute nicht gefällt, kommen wir nächste Woche wieder und sehen uns vielleicht noch einen anderen an … In Moaaz’ Blick lagen so viel Traurigkeit und Hoffnung – aus dieser Nummer käme ich emotional nie mehr raus. Mir wurde schlagartig...

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