Hermann Hesses Maulbronner Zeit 1891/92
»Im Nordwesten des Landes liegt zwischen waldigen Hügeln und stillen kleinen Seen das große Zisterzienserkloster Maulbronn. Weitläufig, fest und wohl erhalten stehen die schönen alten Bauten und wären ein verlockender Wohnsitz, denn sie sind prächtig, von innen und außen, und sind in den Jahrhunderten mit ihrer ruhig schönen, grünen Umgebung edel und innig zusammengewachsen. Wer das Kloster besuchen will, tritt durch ein malerisches, die hohe Mauer öffnendes Tor auf einen weiten und sehr stillen Platz. Ein Brunnen läuft dort, und es stehen alte ernste Bäume da und zu beiden Seiten alte steinerne und feste Häuser und im Hintergrunde die Stirnseite der Hauptkirche mit einer spätromanischen Vorhalle, Paradies genannt, von einer graziösen, entzückenden Schönheit ohnegleichen. Auf dem mächtigen Dach der Kirche reitet ein nadelspitzes, humoristisches Türmchen, von dem man nicht begreift, wie es eine Glocke tragen soll. Der unversehrte Kreuzgang, selber ein schönes Werk, enthält als Kleinod eine köstliche Brunnenkapelle; das Herrenrefektorium mit kräftig edlem Kreuzgewölbe, weiter Oratorium, Parlatorium, Laienrefektorium, Abteiwohnung und zwei Kirchen schließen sich massig aneinander. Malerische Mauern, Erker, Tore, Gärtchen, eine Mühle, Wohnhäuser umkränzen behaglich und heiter die wuchtigen alten Bauwerke. Der weite Vorplatz liegt still und leer und spielt im Schlaf mit dem Schatten seiner Bäume; nur in der Stunde nach Mittag kommt ein flüchtiges Scheinleben über ihn. Dann tritt eine Schar junger Leute aus dem Kloster, verliert sich über die weite Fläche, bringt ein wenig Bewegung, Rufen, Gespräch und Gelächter mit, spielt etwa auch ein Ballspiel und verschwindet nach Ablauf der Stunde rasch und spurlos hinter den Mauern. Auf diesem Platz hat schon mancher sich gedacht, hier wäre der Ort für ein tüchtiges Stück Leben und Freude, hier müsste etwas Lebendiges, Beglückendes wachsen können, hier müssten reife und gute Menschen ihre freudigen Gedanken denken und schöne, heitere Werke schaffen.
Seit langer Zeit hat man dieses herrliche, weltfern gelegene, hinter Hügeln und Wäldern verborgene Kloster den Schülern des protestantisch-theologischen Seminars eingeräumt, damit Schönheit und Ruhe die empfänglichen jungen Gemüter umgebe. Zugleich sind dort die jungen Leute den zerstreuenden Einflüssen der Städte und des Familienlebens entzogen und bleiben vor dem schädigenden Anblick des tätigen Lebens bewahrt. Es wird dadurch ermöglicht, den Jünglingen jahrelang das Studium der hebräischen und griechischen Sprache samt Nebenfächern allen Ernstes als Lebensziel erscheinen zu lassen, den ganzen Durst der jungen Seele reinen und idealen Studien und Genüssen zuzuwenden. Dazu kommt als wichtiger Faktor das Internatsleben, die Nötigung zur Selbsterziehung, das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die Stiftung, auf deren Kosten die Seminaristen leben und studieren dürfen, hat hierdurch dafür gesorgt, dass ihre Zöglinge eines besonderen Geistes Kinder werden, an welchen sie später jederzeit erkannt werden können – eine feine und sichere Art der Brandmarkung. Mit Ausnahme der Wildlinge, die sich je und je einmal losreißen, kann man denn auch jeden Seminaristen sein Leben lang als solchen erkennen.«
Hermann Hesse: Unterm Rad, Roman (1905), SW 2, S. 178ff.
Auch Hermann Hesse ist von seinem Aufenthalt in Maulbronn tief geprägt worden, und es ist nicht zu viel gesagt, dass das Klosterseminar und der mit ihm verbundene Geist zu einem der wichtigen Bezugspunkte in seinem Leben geworden sind. Dies belegt nicht nur der oben zitierte Roman Unterm Rad, der auf den Maulbronner Erlebnissen und Erfahrungen basiert, sondern auch die Erzählung Erwin, die 1914 entstandene Erinnerung Der Brunnen im Maulbronner Kreuzgang und die 1954 verfasste Skizze Ein Maulbronner Seminarist. Darüber hinaus dient das Kloster Maulbronn Hesse in seiner großen Erzählung Narziß und Goldmund als Schauplatz, und auch in seinem Alterswerk Das Glasperlenspiel spielt die Klosterwelt auf vielfältige Art und Weise eine Rolle.
Luftaufnahme von der Klosterstadt Maulbronn
Hermann Hesses Schulaufenthalt im Seminar des Klosters Maulbronn dauert kaum mehr als ein halbes Jahr. Dann kommt es zu jenem rätselhaften Zwischenfall, der seine Seminarzeit beendet: Am 7. März 1892 verlässt er das Kloster, wandert ziellos in der Gegend umher, übernachtet in der kalten Nacht in einem Strohhaufen bei der knapp 10 km entfernten Ortschaft Kürnbach, wird tags darauf, schon halb wieder auf dem Rückweg, von einem Gendarmen in der Nähe von Knittlingen angetroffen und von diesem nach Maulbronn zurückbegleitet. Im Tagebuch der Mutter findet sich unter dem Datum 8. März 1892 die folgende Schilderung des Vorfalls:
»Nun Gottlob! Das Kind ist selbst wieder gekommen, unterwegs von einem Landjäger gefragt, wo er hinwolle? hatte er gesagt: nach Maulbronn. ›Dann gehn wir zusammen.‹ Der gens d'armes telegraphierte im nächsten Ort gleich nach Maulbronn, dass der Gesuchte gefunden sei und mit ihm komme. Die Repetenten gingen ihm entgegen. Als Hermann in des Professors Zimmer sein Taschentuch herauszog, fielen Strohhalme heraus; er hatte die bitterkalte Nacht auf freiem Felde zugebracht und sich frierend in einen Strohhaufen zu stecken gesucht. Er kam in jenen 23 Stunden in Württemberg, Baden und Hessen herum. Er hatte weder Mantel noch Handschuhe an, kein Geld im Sack, dagegen die Bücher noch bei sich, die er zur Präparation für die nächste Lektion auf den Spaziergang in der Freistunde mitgenommen. Zur Lektion war er nicht gekommen. Halb mit halb ohne Willen hatte er sich weit fortverlaufen, im Dippel und Rappel, Friedrich [Hermann Hesses Onkel Friedrich Gundert, der im Auftrag der Eltern von Calw nach Maulbronn reiste] fand ihn verwirrt, zitternd vor Kälte, angegriffen, vertattert. Die Professoren nehmen's sehr ernst, sie fürchten partielle Geistesverwirrung, etwas Krankhaftes. Das ist's ja auch und wir sind sehr in Sorge. Da er bisher so gerne in Maulbronn war, ist's uns unerklärlich, dass er fortlief.«
Hermann Hesse: Kindheit und Jugend vor 1900,
Band 1, S. 182f.
Die Schilderung macht deutlich, dass es sich bei dem Fortlaufen um keine vorbereitete, geplante Tat handelte. – Was war dann aber der Beweggrund? Marie Hesse äußert, dass die Lehrer eine krankhafte Geistesverwirrung bei dem Knaben befürchteten. Andere glaubten an eine entwicklungsbedingte Überspanntheit, eventuell ausgelöst durch eine übermäßige Buchlektüre und eine zu lebhafte Phantasie. Pietistische Verwandte und Bekannte wähnten die Hand des Bösen im Spiel. Es kam auch ein ganzer Strauß von haltlosen Gerüchten in Umlauf, der bunte Blüten der Spekulation trieb; so wurde z. B. im Kloster getuschelt, Hermann Hesse sei als Mitwisser in die Brandstiftung verstrickt gewesen, der das Pfründhaus des Klosters sechs Wochen zuvor zum Opfer gefallen war, und nun treibe ihn sein schlechtes Gewissen um.
Letztlich bleiben die Beweggründe im Dunkeln. Die Schulleitung verzichtet auf den sonst bei solchen Vorgängen üblichen Verweis von der Schule, da sie sieht, dass eher Verwirrung als Aufsässigkeit hinter dem Vorfall steht. Da jedoch die nervliche und körperliche Verfassung Hesses so ist, dass er dem normalen Fortgang der Seminarausbildung nicht mehr folgen kann, wird er zunächst für einen Monat beurlaubt. Er kehrt danach noch einmal für sechs Wochen ans Seminar zurück, wird dann aber auf Empfehlung der Seminarleitung, die unter dem Druck besorgter Eltern von Mitschülern steht, welche einen schlechten Einfluss Hermann Hesses auf ihre Söhne befürchten, von den Eltern endgültig aus dem Seminar genommen. Die anschließende schwere Zeit, in der er u. a. in der Nervenheilanstalt Stetten behandelt wird, ist im Kapitel »Hesses Calwer Zeit« dargestellt (siehe S. 31ff.).
Hermann Hesses Zeit im Kloster Maulbronn dauert, unterbrochen von einigen Aufenthalten im Calwer Elternhaus, genau vom 15. September 1891 bis zum 7. Mai 1892. Vorausgegangen sind eine 16-monatige Vorbereitungszeit an der Göppinger Lateinschule und die erfolgreiche Absolvierung des württembergischen Landexamens, wodurch er die Berechtigung zum Besuch des Evangelischen Seminars in Maulbronn erwirbt. – Die Evangelischen Seminare haben ihren Ursprung in den Klosterschulen, die der württembergische Herzog nach seinem Übertritt zum Protestantismus gegen Ende des 16. Jahrhunderts in den 14 in Württemberg gelegenen und damals aufgelösten Männerklöstern einrichten ließ. Ihre Aufgabe war es, für die Kirche und den Staat des Landes, die in der Zeit des Herzog- und Königtums noch nicht getrennt waren, den Nachwuchs heranzubilden. Zu diesem Zweck wurden Jahr für Jahr in einer Ausleseprüfung in Stuttgart, dem sogenannten Landexamen, die gescheitesten Söhne des Landes ausgewählt, die sodann einen kostenfreien Internatsplatz an einem der Seminare erhielten und zugleich auch das Recht erwarben, nach erfolgreich absolvierter Seminarzeit kostenlos am Evangelischen Stift in Tübingen studieren zu können. Hermann Hesse hat diese Einrichtung in Unterm Rad beschrieben:
»[I]n schwäbischen Landen gibt es für begabte Knaben,...