KAPITEL 2
Der perfekte Plan und was dann kam
Geplant war es ganz anders. Es war der berühmte »perfekte Plan«, den wir gemeinsam entwickelt hatten. Mein Partner sprach von Heirat und von Kindern und einem schönen Reihenhaus mit Garten im Münchner Hinterland.
Ich bin in Ismaning, einem Vorort von München, groß geworden und habe die ersten 25 Jahre meines Lebens dort verbracht. Es war großartig, dort aufzuwachsen. Ländlich, familiär und behütet. In dem damals kleinen Ort kannte man sich. In der Reihenhaussiedlung, in der ich aufwuchs, waren wir Kinder eine feste Clique. Wir heckten regelmäßig Pläne aus und erlebten so einige Abenteuer. Unser »Revier« war riesig, die Freiheit schien grenzenlos. Wir waren viel draußen, bauten Buden und »backten« Sandkuchen, die wir selbstverständlich ausgiebig probierten. Während der Zeit in der Grundschule waren wir noch eng zusammen, danach gingen wir auf unterschiedliche Schulen und die Interessen verschoben sich. Aus den Augen verloren haben wir uns bis heute nicht, aber wir gingen sehr unterschiedliche Wege.
Der meine führte mich zur Lufthansa, bei der ich eine kaufmännische Ausbildung absolvierte und auch im Anschluss übernommen wurde. Ich wechselte von der Konzernmutter zur Lufthansa Technik, direkt am Münchner Flughafen. Dort lernte ich auch meinen Partner kennen. Er war der Computerfachmann und musste bei uns in der Abteilung Probleme beheben. Er sah an meinem Kleiderständer eine Motorradkombi hängen und wollte wissen, ob das meine sei. Ja, es war meine, denn ich fuhr täglich mit dem Motorrad zur Arbeit, und so kamen wir ins Gespräch und sehr schnell auch zur ersten gemeinsamen Ausfahrt, denn er war selbst Motorradfahrer. Das war unsere größte gemeinsame Leidenschaft, ebenso wie das Bergwandern. Die Liebe zur Natur war auf beiden Seiten gegeben.
Ich war Anfang zwanzig, als mein Partner von Heirat und Kindern sprach. Ismaning war inzwischen nicht mehr das Dorf, in dem ich groß geworden war. Es war gewachsen, wurde modern und ein beliebter Wohnort für Menschen, die den Vorteil der stetig wachsenden Infrastruktur rund um München früh erkannten. Der dörfliche Charakter ging verloren, was mich traurig machte, auch wenn ich den wirtschaftlichen Aufschwung erkennen und verstehen konnte, der diesen kleinen Ort langsam zu einem exklusiven Vorort von München werden ließ. Das Bild, das sich Ende der Neunzigerjahre entwickelt hatte, hatte nicht mehr viel mit meinen Kindertagen gemein. Der Nachwuchs ging nicht mehr bei Wind und Wetter in Gruppen von mindestens drei, vier Kindern zur Schule, sondern wurde einzeln mit dem Auto bis vor das Schultor gefahren. Das waren keine Kadetts, Käfer oder R4s mehr, sondern riesige Familienkutschen. Natürlich wurden die Kinder auch wieder abgeholt, denn die Nachmittage waren mit Zusatzkursen, Vereinsbesuchen oder Theaterproben stramm durchgetaktet. Klar, wir waren damals auch im Sportverein oder hatten Musikunterricht, aber die Zeit, die wir gemeinsam draußen verbracht haben, überwog deutlich.
All das war präsent, als mich mein Partner mit seinem Kinderwunsch konfrontierte. Diesem Wunsch gegenüber standen meine Erinnerungen, die ja gerade erst ein paar Jahre alt waren. Das verunsicherte mich. Nicht weil ich Angst vor Entwicklung oder Fortschritt habe, beides ist wichtig und ist gerade für die nachfolgende Generation existenziell. Aber die Abenteuerlust und das Freiheitsgefühl, die wir als Kinder im Münchner Vorland ausleben konnten, waren schon damals in den Städten kaum mehr möglich. Für mich war klar, wenn ich Kinder haben würde, dann sollten sie Abenteuer in der freien Natur erleben können, ohne dass ich ständig Sorgen um sie haben müsste. Ich wollte keine Kinder im Münchner Umland großziehen und so sagte ich unmissverständlich: »Wenn Kinder, dann nur auf Hooge!«
Auf der Hallig können Kinder noch Natur zum Anfassen erleben und ein großes Maß an Freiheit genießen. Zwar ist die Infrastruktur dort ausbaufähig und die Chance auf gute Verdienstmöglichkeiten begrenzt, aber es kann sich noch vieles entwickeln und ausgebaut werden. Das Gefühl von Abenteuerlust, das wir in Kindertagen erleben durften, ist ein Gut, welches sich nicht produzieren und entwickeln lässt. Außerdem ist es unbezahlbar! Wenn ich es damals nicht erfahren hätte, wüsste ich heute nicht, was das ist. Man kann das nicht nachholen, man muss es leben! Genau das wollte ich meinen Kindern bieten und mein Partner konnte das nachvollziehen.
Er hatte sich gerade erst in der IT-Branche selbstständig gemacht und brachte daher ideale Voraussetzungen mit, um der Computer- und Internetfachmann im hohen Norden zu werden. Ich hätte in den kleinen Vermietungsbetrieb meiner Eltern einsteigen können, um ihn langfristig zu übernehmen. In dieses Konstrukt hätten Kinder sehr gut gepasst. Eine wunderbare Umgebung, Weite bis zum nicht enden wollenden Horizont, Kühe, Kälber, Pferde, Schafe, Vögel, eigene Hunde und die Familie drum herum. Alles »Böse«, all die Hektik und der Trubel, die das Leben in großen Gemeinden oder Städten mit sich bringen können, würden auf dem Festland bleiben. Aber natürlich auch das Gewohnte, die Hobbys, die Freunde und in diesem Fall auch die Familie meines Partners. Die Zelte in München abzureißen und den Lebensmittelpunkt auf eine kleine Hallig mitten in der Nordsee zu verlegen, wäre ein großer Schritt. Für ihn war er letztlich größer als für mich, Sorgen und Zweifel breiteten sich bei ihm aus. Wir diskutierten, fingen an zu streiten, der gemeinsame Traum verlor seine Leichtigkeit.
Im Oktober 2000 bin ich schließlich allein nach Hallig Hooge gezogen, denn plötzlich war alles anders und ging ganz schnell: Den Job, den ich immer geliebt habe, gekündigt, mein Motorrad mit Tränen in den Augen verkauft, meine Habseligkeiten in einem kleinen Transporter verstaut. Der Partner, mit dem ich eine Familie haben wollte, nicht mehr an meiner Seite.
In Begleitung von Anne und Lutz, meinen zwei besten Freunden, die mir bei meinem Aufbruch mit Rat und Tat zur Seite standen, machte ich mich nachts auf den Weg Richtung Norden. Es war eine windige, regnerische Nacht, aber bei uns im Wagen spürten wir drei Vertrautheit und Geborgenheit. Anne und ich gaben unsere Kindheitserlebnisse zum Besten, denn wir kennen uns seit unserem dritten Lebensjahr. Lutz und ich schwelgten in Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit bei der Lufthansa. Zwischendurch vergaßen wir den Grund unserer Reise und lachten und waren regelrecht ausgelassen. Mit diesen beiden an meiner Seite konnte ich die Ungewissheit, die tief in meinem Inneren rumorte, vergessen. Selbst der Regen, der unablässig auf die Frontscheibe prasselte, konnte uns die Stimmung nicht vermiesen.
Um zehn Uhr legte von Schlüttsiel die Fähre ab, die uns auf das kleine Eiland brachte. Noch fühlte es sich wie immer an, wenn ich zu Besuch auf die Hallig kam, auf der gerade mal um die hundert Menschen wohnen. Ankommen, ausladen, essen. Meine Mutter verwöhnte uns und wir bekamen das beste Essen, das man nach einer durchgemachten Nacht bekommen kann: eine heiße, selbst gemachte Gemüsesuppe. Das weckt die geschundenen Lebensgeister. Lutz war das erste Mal auf Hooge und lernte jetzt erst meine Eltern kennen. Und wer zum ersten Mal auf einer Nordseehallig oder -insel ist, muss natürlich auch eine von den vielen Spezialitäten aufgetischt bekommen. So kam er auch noch in den Genuss eines frisch zubereiteten Krabbenbrotes. Das Höchste für Krabbenliebhaber! Und frischer als hier, mitten in der Nordsee, bekommt man sie nirgends.
Inzwischen hatte sich die Sonne durchgesetzt und die Wolkendecke war verschwunden. Um unsere Knochen wieder geradezurücken, machten wir einen Spaziergang zum Deich. Mit dabei mein Hund Chico, der seit drei Monaten ein festes Familienmitglied war. Ich hatte ihn das letzte Mal im August gesehen, als meine Mutter und ich ihn während meines letzten Urlaubs gemeinsam nach Hooge geholt hatten. Die Freude des Wiedersehens war auf beiden Seiten riesig. Lutz und Chico spielten ununterbrochen mit einem dicken Tau, Anne und ich genossen den Blick auf das Meer und die unendliche Weite, die bei mir langsam Ruhe einkehren ließ. Eine tiefe Ruhe, die sich an der frischen Luft und nach dem guten Essen zu einer wohligen Müdigkeit entwickelte. Die vergangene Nacht steckte uns immer noch in den Knochen und so gingen wir nach dem ausgiebigen Spaziergang direkt in meine neue Wohnung.
Ich hatte für meinen Neustart auf der Hallig eine Zweizimmerwohnung in der direkten Nachbarschaft angemietet. Die im ersten Stock liegende Wohnung bot einen herrlichen Ausblick über das Halligland. Da ich diese aber erst noch renovieren musste, stand noch nichts an seinem Platz. Wir richteten uns also nur ein notdürftiges Matratzenlager im zukünftigen Schlafzimmer ein. Kissen und Decken waren ausreichend vorhanden und mehr brauchten wir nicht. Es dauerte auch gar nicht lange, bis wir alle drei fest schliefen.
Ein Fenster blieb über Nacht offen stehen. Als ich wach wurde und Richtung Bad ging, sah ich, dass wir Besuch von einem kleinen »König« hatten. Ein Zaunkönig flog durch mein Wohnzimmer. Er wirkte überhaupt nicht aufgeregt und ließ sich leicht nach draußen leiten. Ein »König« zu Gast in meiner Wohnung – das nahm ich als Zeichen dafür, dass ich alles richtig gemacht hatte. Er machte mir Mut und gab mir Zuversicht.
Am nächsten Morgen um acht Uhr verließen wir drei die Hallig mit der Fähre und fuhren erneut die rund eintausend Kilometer nach Ismaning. Die letzten Kleinigkeiten mussten noch erledigt und Verabschiedungen vollzogen werden. Manche sogar für immer. Zwei Tage später fuhr ich die Strecke wieder. Diesmal allein. Während der Fahrt hörte ich von Nenas...