KAPITEL 1
DIE VERLORENHEIT DES MENSCHEN
In der Weihnachtsgeschichte lesen wir alle Jahre wieder: Fürchtet euch nicht … denn euch ist heute ein Retter geboren, es ist der Christus! (Lukas 2,10-11). Nun, einen Retter braucht man nur, wenn es Verlorene gibt. Ich bin seit vielen Jahren aktives Mitglied im Österreichischen Bergrettungsdienst in unserer Ortsstelle Ramsau am Dachstein. Manchen Verunglückten konnten wir leider nur tot bergen, anderen hingegen konnten wir das Leben retten. Der Grund für eine Bergrettung in unserem Ort liegt darin, dass sich Menschen in unseren Bergen immer wieder verirren oder verunglücken. Gäbe es keine Verlorenen in den Bergen, bräuchten wir keinen Bergrettungsdienst. In Bezug auf Jesus Christus stellt sich die Frage: Wenn er der Retter ist, wer ist dann verloren? Und aus welcher Situation sollte jemand gerettet werden?
Ein trauriger Tatbestand
Der moderne Mensch glaubte, dass die Menschheit sich entwickeln würde, dass Vernunft regieren und Menschen in Frieden miteinander leben würden. Wir glaubten an den Fortschritt der Wissenschaft, der Technik, der Vernunft und des Intellekts. Die Fakten des aufgeklärten 20. Jahrhunderts sind allerdings ernüchternd: Es war das blutigste Jahrhundert der ganzen Weltgeschichte mit Stalin in Russland, Mao Tse-Tung in China, Hitler in Europa, Hiroschima, Vietnam und vielem mehr. Vor dem Zweiten Weltkrieg hätte kaum jemand geglaubt, dass Deutsche und Österreicher ein Gräuel wie den Holocaust verüben könnten. Waren wir doch bekannt als Volk der Denker, Musiker und Poeten. Und doch ist es geschehen. Zu glauben, dass das 21. Jahrhundert besser wird, ist eine Illusion. Im Moment gibt es etwa 40 Kriege auf unserem Planeten. Das Blut von Menschen wird täglich vergossen.
Der Mensch ist ein zwiespältiges Wesen. Einerseits sind wir so kreativ und andererseits doch so entstellt. Wir erfinden Heißluftballone und erfreuen uns an der Schönheit der Schöpfung. Gleichzeitig erfinden wir Landminen, mit denen wir die Füße von Kindern wegreißen.
Wir geben unseren Kindern die bestmögliche Ausbildung und verkaufen junge Mädchen an Zuhälter. Wir bauen die Europabrücke und gleichzeitig machen wir Städte dem Erdboden gleich.
Extreme Auswüchse
Auch wenn die meisten von uns durch Medien und Filme schon ziemlich abgebrüht sind, schockiert uns doch immer wieder, wie weit die Bosheit des menschlichen Herzens reichen kann. Selbst in unserem kleinen Österreich geschehen Dinge, die man sich kaum vorstellen mag: Im Frühjahr 2008 wurde in Amstetten der 73-jährige Josef Fritzl festgenommen. Er hatte seine Tochter Elisabeth ab ihrem 12. Lebensjahr vergewaltigt. Nach zwei Fluchtversuchen hatte der Vater die 18-jährige Tochter in ein Kellerverlies gesperrt. Er baute das Verlies so aus, dass man durch fünf verriegelte Türen gehen musste, um zu diesem Mädchen zu gelangen. Elisabeth verbrachte die nächsten 24 Jahre in diesem Keller, sah kein Tageslicht und wurde sechsmal von ihrem eigenen Vater schwanger. Drei der Kinder setzte Fritzl vor seine eigene Haustüre und behauptete, seine Tochter sei einer Sekte beigetreten und hätte die Kinder ausgesetzt. Diese drei Kinder wurden von Fritzls Frau großgezogen. Die anderen drei Kinder blieben im Verlies. Josef Fritzl verbrachte während dieser Zeit mehrere Urlaube im Ausland. Wäre ihm etwas zugestoßen, wären seine Tochter und die drei Enkelkinder jämmerlich im Keller verreckt. Als die ganze Geschichte nach 24 Jahren ans Tageslicht kam, zeigte Fritzl keine Reue. Er war sogar stolz darauf, dass er geschickt genug gewesen war, seine Untaten über all die Jahre perfekt zu verbergen.
Der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer kommentierte: »Es ist sicher nichts abgründig Österreichisches an diesem Fall. Das Monströse, zu dem der Mensch fähig ist, offenbart sich überall.« Damit hat er leider recht, denn die Geschichte von Amstetten ist kein Einzelfall.
Gier und Gewalt
Die momentane Finanzkrise hat die Auswüchse von Gier ans Licht gebracht. Jeder Mensch ist anfällig dafür, auch wenn wir das nicht gern zugeben. Allerdings ist es in manchen Kreisen viel sichtbarer geworden als in anderen. Bei manchen Debatten ist mir aufgefallen: Eine Witwe in unserem Sozialstaat muss mit 500 Euro im Monat auskommen, während sich gewisse Manager dagegen wehren, dass ihr Jahresgehalt auf 500 000 Euro gekürzt werden soll. Das ist beinahe menschenverachtend, vor allem, wenn wir uns Sozialstaat nennen.
Ich bin auch immer wieder schockiert über die Brutalität mancher Schulkinder. Sie schlagen einen ihrer Klassenkameraden zusammen, bis er blutend am Boden liegen bleibt. Das »Reizvolle« an der ganzen Sache ist jedoch in erster Linie, dass ein anderes Kind diese Szene mit dem Handy filmt. Zu Hause vor dem Computer ergötzen sich dann zehnjährigen Kinder an diesem Clip.
Es ist schon interessant zu beobachten, dass wir unseren Kindern gewisse Dinge nicht anerziehen müssen – sie tun diese irgendwie automatisch. Lügen müssen wir sie ebensowenig lehren wie zornig sein, auch gemein sein geht ganz von allein. Sie können es einfach und wir konnten es auch. Es hat uns niemand gesagt, dass wir jetzt alt genug wären, um zu lernen wie man lügt, zornig oder gemein ist.
Seid ihr mit dieser Welt zufrieden?
Wenn ich zu Teenagern spreche, stelle ich ihnen oft die Frage: »Seid ihr eigentlich zufrieden mit dieser Welt, in die ihr hineingeboren wurdet?« Die große Mehrzahl verneint meine Frage. Dann bitte ich sie, mir zu sagen, was sie in dieser Welt nicht gut fänden. Ihre Antwort lautet: Neid, Gier, Brutalität, Egoismus, Bosheit, Hass etc. Ich mache ihnen einen Vorschlag:
1. Da die Welt da draußen schlecht ist, könnten wir (theoretisch) eine Mauer um unser Dorf bauen, um uns von der bösen Welt abzuriegeln. Dann wäre die schlechte Welt draußen und wir könnten glücklich miteinander leben. Auf meine nächste Frage, ob sie auch innerhalb dieser Mauern Dinge wie Neid, Gier etc. vorfinden würden, antworten sie mit einem klaren »Ja«.
2. Nachdem wir nun festgestellt haben, dass nicht nur die Welt, sondern auch unser Dorf ein Problem hat, biete ich ihnen an, eine Mauer um ihre Schule zu bauen. Dann wären nämlich sowohl die böse Welt als auch das böse Dorf »draußen« und wir könnten glücklich miteinander leben. Aber wie Sie sich denken können, finden die Teenager auch innerhalb der Schule böse Menschen, wie z. B. die Lehrer und einige schwierige Mitschüler.
3. Nun gebe ich ihnen die dritte Option: Ich fordere sie auf, nach Hause zu gehen und die Mauer um ihr eigenes Heim zu bauen. Aber selbst hier müssen sie zugeben, dass das Böse auch innerhalb dieser Mauer zu finden ist.
4. Nun gibt es nur noch eine letzte Möglichkeit: Sie sollen ganz alleine auf einen Berg oder Hügel gehen und eine große Mauer um sich bauen. Denn damit sind sowohl die böse Welt, als auch die böse Stadt, die böse Schule und sogar die böse Familie »draußen«. Dann frage ich sie, ob es möglich wäre, dass sie sogar in sich selbst Emotionen wie Neid, Gier, Egoismus oder Bosheit entdecken. Und an diesem Punkt erkennen sie, dass all diese Dinge IN uns selbst sind.
Das fundamentale Problem der Menschheit ist der Mensch selbst! Das Problem ist nicht irgendwo da draußen in der Welt, sondern in uns.
Ich laufe falsch
Eine Londoner Zeitung forderte ihre Leser auf, einen Artikel zum Thema »Was läuft schief in unserer Welt?« (What’s wrong in the world?) einzusenden.
Der englische Staatsmann G. K. Chesterton antwortete extrem kurz und für den Journalisten wahrscheinlich im ersten Moment nicht sehr verständlich und einleuchtend. Er schrieb nämlich: »Auf Ihre Frage, was in unserer Welt schiefläuft: ICH. Ihr G. K. Chesterton.«
Der Mensch ist verdreht
Der englische Theologe John Stott schreibt: »Manchmal frage ich mich, ob gute und nachdenkliche Leute über die menschliche Misere jemals deprimierter waren als heute. Natürlich hat jedes Zeitalter eine verschwommene Sicht der eigenen Probleme, weil man zu nahe dran ist, um sie mit der angemessenen Schärfe zu betrachten.
Und jede Generation bringt neue Schicksalspropheten hervor. Dennoch machen es uns die Medien möglich, das weltweite Ausmaß des gegenwärtigen Übels zu erfassen, und das ist es, was die neuzeitliche Weltbühne so düster erscheinen lässt. Teilweise liegt es am eskalierenden wirtschaftlichen Problem (Bevölkerungswachstum, Ausbeutung der Bodenschätze, Inflation, Arbeitslosigkeit, Hungersnot), teilweise an der Ausbreitung von sozialen Konflikten (Rassismus, Stammesfehden, Klassenkampf, auflösendes Familienleben) und teilweise an der Abwesenheit von akzeptierten moralischen Richtlinien, die zu Gewalt, Unehrlichkeit und sexueller Promiskuität führt. Der Mensch scheint unfähig, seine eigenen Angelegenheiten zu bewältigen oder eine gerechte,...