Saint Joe River
Dies ist das Ende. Die letzten, lächerlichen Minuten. Mein Leben, da rauscht es an mir vorbei, mit hundert Sachen, eiskalt, schmerzhaft. Oder eigentlich: rausche ich vorbei an ihm. Fliege dahin, über weites Weiß. Durch die Dämmerung, durch das Nichts. Ich bin ein Niemand, bin schon weit weg von allem. Und allen. Am weitesten von mir selbst. Noch bin ich nicht tot, was unfassbar ist, aber es gibt kein Leben mehr, nicht mehr wirklich, nicht für mich. Für mich herrscht Stillstand. Bei fünfundsechzig Meilen, hundert Kilometern in der Stunde, mindestens. Was es in diesen Minuten noch gibt: Motorenlärm. Benzingestank. Fahrtwind, der in meinen Augen brennt und in meine Wangen schneidet. Schwarze Fichtenwaldmasse. Felsen. Eine Uferböschung, nah, viel zu nah, keine dreißig Zentimeter. Und jenseits von ihr, in der Tiefe, der Fluss. Saint Joe River.
Vor mir ein Körper, um den ich die Arme schlinge. Tarnfarbene Kleider, in die ich nutzlos meine Finger kralle. Das Visier eines Helmes, meines, das gegen den Helm vor mir schlägt und meinen Kopf in die Schräglage zwingt. Und da ist der Lauf eines Gewehrs. Es ragt über das Schultermassiv vor mir. Verrutscht, wird zurechtgerückt. Einhändig. Alle paar Meter. So wie ich mich einhändig auf dem Sitz des springenden, fliegenden Schneemobils alle paar Meter zurechtrücken muss, um nicht in den Kurven vom glatten Leder zu rutschen. Um nicht gegen die Felswand oder über die Böschung katapultiert zu werden, wenn wir über den nächsten Schneehügel krachen. Ich denke: Ich kann nicht mehr. Wir rasen hier so seit Stunden, immer haarscharf an der Kante. Rasiermesserwind auf den Wangen und in den Augen. Oberschenkel, die von der Anstrengung, an Bord zu bleiben, zittern. Vor Kälte und vom Klammern schmerzende, lahme Finger. Ist das alles noch meins, gehört das noch mir, bin das noch ich?
Ich denke: Egal.
Ich denke: Lass dich fallen.
Ich denke: Das war’s.
Ich denke: Sicher, einer hätte hier heute sterben sollen. Aber doch bitte nicht ich!
Ich muss an Debbie denken, der ich das hier zu verdanken habe, und daran, wie sie mich ein paar Tage zuvor am Telefon hoffnungsfroh gefragt hat: «Wie sind die da oben denn so? Ganz okay oder eher so ein bisschen furchterregend? Wie in Deliverance?» Sie meinte den Filmklassiker aus den frühen Siebzigern von Regisseur John Boorman. Der geht so: Vier Geschäftsleute brechen aus Atlanta zu einem Kanutrip auf dem Cahulawassee River auf, um noch einmal seine Schönheit und die Abgeschiedenheit der Natur ringsum zu genießen, bevor der Fluss per Dammbau geflutet wird. Nur zwei der Jungs haben Wildniserfahrung. Und die von der Wildnis geprägten, isolierten, inzestgeschädigten Einheimischen erweisen sich als so gefährlich wie die Natur selbst. Nur drei der Stadtburschen überleben. Der vierte wird erschossen. Oder ertrinkt im Fluss. Oder beides, in Kombination. Das lässt sich später für seine Begleiter nicht genau rekonstruieren.
Natürlich ist es hier oben in Nordidaho nicht wie in den Südstaaten, geschweige denn wie in Boormans Film. «Alle sind wahnsinnig nett, und kein Einziger ist debil oder sonst wie gefährlich», habe ich zu der enttäuschten Debbie gesagt. Und das war wahr. Der Grund, dass ich jetzt dennoch an Debbies Frage und den verfluchten Film denken muss, ist die Tatsache, dass darin einer ersäuft. Und dass der Film auf Deutsch Beim Sterben ist jeder der Erste heißt. Wie blöde passend das ist, darüber würde ich sehr gerne lachen. Aber erstens kann ich nicht mehr. Und zweitens ist es hundsgemein traurig, dass, weil ich jetzt und hier beim Sterben tatsächlich die Erste sein werde, ich keinem mehr von diesem lustigen Rendezvous von Hollywoodtitel und Wirklichkeit werde erzählen können. «Weißt du, das Leben ist eine blöde Sau», hat mein alter Freund Bernhard immer gesagt. Und das ist es doch oft genug wirklich. Ich meine: Es gönnt einem nicht mal diese platte, kleine Pointe. «Ich bin froh, wenn es endlich vorbei ist», sagte Bernhard auch. Und ich denke: Ich wäre froh, wenn ich darüber froh sein könnte. Denn dann könnte ich jetzt loslassen. Vom Schneemobil rutschen. Mich von seinem Sitz in die weiße Wildnis katapultieren lassen. Aus und vorbei. Stattdessen klammere ich mich an die Falten von Roberts Tarnanzug, als hätte ich tatsächlich Grund zur Hoffnung. «Wie eine Ertrinkende an eine Ziege!», hat meine Omma immer gesagt.
Wie lange noch? Wie weit bis zurück zum Parkplatz, zum Truck? Wie weit sind wir schon gefahren, über wie viele Kilometer, für wie viele Stunden? Ich weiß es nicht. Jeder Teil der Strecke sieht aus wie der vorherige. Eine endlose Aneinanderreihung von Kurven und Windungen um die Felswand zur Rechten. Immer mit dem Fluss tief unten zur Linken. Schnee, Wald, Dämmerung. Zeit und Raum. Alles ist nichts. Die einzige Stelle, die sich für mich von allen anderen Stellen in diesem Winter-Wildnis-Einerlei unterscheidet, die ich mir zutraue zu erkennen, ist mein Unglücksort. Die Stelle, an der Robert vor Stunden seinen Spaten in den Schnee an der Überböschung gesteckt hat, um sie für die Bergung des nun im Fluss schwimmenden Schneemobils am kommenden Tag zu markieren. Der Ort, an dem ich dachte, ich hätte das für den Tag Schlimmstmögliche erlebt und überstanden. Und von dem wir dann, jetzt zu zweit auf einem Schneemobil, weiterrasten. Tiefer in die Wildnis, in meine Verzweiflung hinein. Haben wir diese Stelle jetzt, auf dem Rückweg, schon passiert?
Ich habe immer gedacht, dass die Natur mir die Angst vor dem Tod nehmen könne. Meine fürchterliche, lähmende, rasende Angst. Ich glaubte allen Ernstes, draußen, in der Natur, könne mir der Tod nicht wirklich etwas anhaben. Ich meine: psychisch. Ich stellte mir vor, dass, wenn es einst so weit wäre, mir das Sterben unter freiem Himmel weniger ausmachen würde. Dass ich es dort als Teil meiner Selbst und des großen Ganzen würde annehmen können. Weil ich ein Teil dieses großen Ganzen sei und es, wenn auch in anderer Form, im Tod bliebe. Und wirklich: Wenn ich mit den Hunden im Wald spazieren ging, bei meinen Pferden war oder am Meer herumsaß, erschien mir mein Sterbenmüssen wunderbar nichtig. Statt der alten verzehrenden Angst und Hoffnungslosigkeit spürte ich einen großen Frieden. Na ja, denke ich jetzt, war ein Selbstbeschiss, alt wie die Zeit. Jetzt, wo das Sterben jede Sekunde Wirklichkeit werden wird und mir der Arsch auf Grundeis geht. Natur ringsherum hin oder her.
Das Schneemobil kippt nach rechts. Die linke Kufe löst sich von der Schneedecke. Für einen Augenblick sehe ich über Roberts Schulter hinweg ihre Spitze grotesk in das Himmelsgrau ragen. Dann wirft sich Robert vor das Bild, nach links. Ich werfe mich mit. Unsere Körper schießen waagerecht über den Schnee hinweg, unsere Köpfe kurz vor der Kliffkante. Jenseits von ihr, in der Tiefe, der Fluß. Ich gebe einen Laut von mir, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn in mir hatte. Ein tiefes, aus der Lunge gepresstes Klagen. Der Motor des Schneemobils röhrt. Es rast, unseren Bemühungen zum Trotz, noch immer auf einer Kufe dahin, und für einen Wimpernschlag denke ich, ich will weinen. Weil das Leben eine blöde Sau und das alles hier so verflucht dämlich und lächerlich ist. Weil wir jetzt jeden Augenblick über die Kante rauschen und ich doch noch in den schwarzen Februarfluten des Saint Joe Rivers ersaufe. Obwohl ich ihm heute schon einmal allerknappstens entkommen bin. «Dem Tod noch mal gerade so von der Schippe gesprungen!», hat meine Omma immer gesagt.
Meine Omma war die weltbeste Dem-Tod-von-der-Schippe-Springerin. Ohne sich auf ein Schneemobil oder auch nur einen Fuß in die Wildnis zu setzen. Das hatte Omma nicht nötig. Sie war einfach nur dick, so richtig. Und herzkrank. Das ist lebensgefährlich genug. Ich kann nicht zählen, wie oft meine Eltern in meinen Kindertagen des Abends mit ernsten Mienen bei mir auf der Bettkannte saßen und sagten: «Mach dich gefasst, deine Omma wird diese Nacht nicht überleben.» Ich machte mich gefasst. So gut das als Neun- und dann Zehn- und dann Elf- und dann Jedes-Jahr-wieder-Jährige geht. Jedes Mal kam der Morgen, und Omma war noch da. Sie frohlockte: «Da bin ich dem Tod wieder von der Schippe gesprungen!» Das eine Mal dann, das sie nicht sprang, war kein Mensch mehr darauf gefasst. Sie schlief am Abend ein, ganz normal, und ratzte dann einfach so weg, für immer. Am Morgen wachte nur noch der Oppa auf, in den Kissen gleich neben ihr. Er schüttelte sie, rief immer wieder ihren Namen und wollte es partout nicht glauben. Die scheußliche Moral von Ommas und überhaupt jedermanns Geschichte ist: Egal, wie oft du dem Tod von der Schippe springst, kein Sieg über ihn ist endgültig. Irgendwann kriegt er dich und uns alle. Das weiß jeder, das weiß sogar ich. Und doch kann ich’s jetzt, wo es so weit ist, nicht fassen.
Warum ich? Warum hier? Warum jetzt? Ich bin nicht herzkrank, nicht dass ich’s wüsste. Und nur ein ganz kleines bisschen übergewichtig. Fürs Erste habe ich nur Asthma. Das hat in meiner Familie sonst keiner. Es ist auch nicht wirklich schlimm, keine pfeifende, rasselnde Rund-um-die-Uhr-Atemlosigkeit. Ich pfeife und rassele und schnaufe nur, wenn ich mich körperlich anstrenge. Oder im Kopf unter Stress gerate. Meine Asthmatabletten, «Davon nehmen Sie morgens und abends je eine», habe ich darum so gut wie abgesetzt. Na ja, nicht nur darum. Nicht in erster Linie. In erster Linie war es so: Die Vorstellung, von nun an auf immer und ewig täglich zwei Pillen schlucken zu müssen, ging mir mehr auf den Keks als meine Schnauferei. Sie behelligte mich mit dem Gefühl, ich sei alt. So gut wie am Ende. Ich fühlte mich, als mutiere ich...