Allgemeine Betrachtungen zu Krieg und Kriegsgefangenschaft
Die vom deutschen Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz angesprochene Dreifaltigkeit des Krieges antizipiert, dass der Krieg ein Akt der Gewalt ist, dass der Krieg stets in einen Zweikampf zwischen zwei oder mehreren Gegnern mündet mit dem klaren Ziel, Gegner wehrlos zu machen, und dass der Krieg seiner Natur nach immer auch ein politisches Werkzeug darstellt.{6}
Doch noch in anderer Weise nähert sich Clausewitz dem Kriegsphänomen, indem er eine Unterscheidung zwischen wirklichem und absolutem Krieg vollzieht.
Der absolute Krieg wird um seiner selbst Willen geführt und legt es dabei auf die Zermürbung der Soldaten an. Hier dominieren unbedingter Gehorsam, unerschütterlicher Mut und Selbstaufopferung sowie unbedingtes Ehrgefühl.
Allein daneben existiert der wirkliche Krieg, mit Mäßigung zwischen Zweck und Mittel, der zugleich die Kehrseite der hehren Kriegstugenden offenbart, wie Geschäftemacherei, Furcht, Flucht, Feigheit und Desertion.{7}
Auch im Ersten Weltkrieg mochten sich absoluter und wirklicher Krieg miteinander wie ehedem verschränken. Völlig unbestritten im Forschungsdiskurs ist jedoch die Erkenntnis, dass es sich hier um eine ganz neue Dimension in der Welt(kriegs)geschichte handelte. Dieser Krieg galt bereits unter den unmittelbar Mitlebenden als etwas Neuartiges, Ungeheuerliches und Ausgreifendes. {8}
Der Erste Weltkrieg war nach Herfried Münkler nicht nur eine Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, hier den US-Diplomaten G.F. Kennan zitierend, sondern konnte auch als Laboratorium gesehen werden, indem fast alles entwickelt wurde, was in den Konflikten der späteren Zeit eine gewichtige Rolle spielen sollte.{9}
Der Erste Weltkrieg wurde überdies mit einem nie dagewesenen Einsatz von personellen und materiellen Ressourcen ausgefochten. Der berühmte Soziologe Max Weber prägte dabei die Bezeichnung vom Maschinenkrieg.{10} Das führte einerseits bereits in kürzester Zeit zu einem enormen Blutzoll unter den Soldaten und zu einer massenhaften Zahl von Kriegsgefangenen, die die Logistik der kriegsführenden Staaten zu überfordern drohte. Der forcierte Einsatz neuartiger Technologien ermöglichte es einen Krieg auf Distanz zu führen. Ernst Piper vermeint darin ein Kennzeichen des modernen Kriegs zu finden, nämlich einen rapiden Entpersönlichkeitsprozess, der beispielsweise sowohl das Sterben im Feld, wie auch die Gefangenschaft im fremden Hinterland in ein sachlich-rationales Licht zu rücken vermag.{11}
Dass trotz des hohen Blutzolls die Soldaten aller kriegsführender Staaten in ihrer überwältigenden Mehrheit dennoch weiterkämpften, mag damit zu tun haben, dass sie gar keine andere Möglichkeit besaßen, außer der Option, die Waffen zu strecken. Sich zu ergeben und dadurch in Kriegsgefangenschaft zu geraten, war ein durchaus gefährliches Unterfangen.
Soldaten wurden auf beiden Seiten oftmals getötet, nicht nur, wenn sie zu kapitulieren versuchten, sondern auch, nachdem sie die Waffen niedergelegt hatten. Der britische Historiker Niall Ferguson spricht in diesem Zusammenhang von den versteckten Gräueltaten des Ersten Weltkriegs.{12}
Eine viel häufigere Variante war jedoch nicht die selbst gewählte Kapitulation, sondern jene, die durch Kriegshandlungen des Gegners unausweichlich wurde.
Für die Nehmerseite wurden Kriegsgefangene mit der zunehmenden Dauer des Krieges und der damit verbundenen Lebensmittelknappheit zu einer immer größeren Belastung, und dies galt besonders für die Mittelmächte, die schwer unter der alliierten Blockade litten.
Kriegsgefangene waren als Ersatz für die fehlenden Arbeitskräfte im Hinterland willkommen. Die Haager Landkriegsordnung hat dies ja bekanntlich durchaus unterstützt, denn neben der Verpflichtung, die Kriegsgefangenen mit Menschlichkeit zu behandeln, galt ein allfälliger Arbeitseinsatz als erlaubt, freilich mit der Einschränkung, dass sie im Hinterland keine Aufgaben erhalten durften, die zu militärischen Operationen genutzt werden konnten.{13} Diese Grundprämisse wurde jedoch von den meisten kriegsführenden Staaten wohlweislich umgangen bzw. negiert.
In der von der „Bundesvereinigung der ehemaligen österreichischen Kriegsgefangenen" 1931 herausgegebenen Publikation “In Feindeshand“ umriss Hans Weiland ein Defizit der österreichischen Weltkriegshistoriographie, das von Anfang an bestand: „Alle setzen sich mit dem Krieg auseinander, mit Front und Etappe, Graben und Lazarett, mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, auf denen unser Leben ruht. […] Nur eine Begleiterscheinung des Weltkrieges blieb schon im Krieg und auch nach dem Kriege zurückgedrängt, fast übersehen, die Kriegsgefangenschaft, das Schicksal der ausgeschalteten Krieger, der lebend Toten.”{14}
Wenn aber dieses höchst aufschlussreiche Segment eben nicht ausgespart bleibt, sondern nach alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Gesichtspunkten beleuchtet wird, eröffnen sich interessante Einblicke, die zwangsläufig zu neuen Fragestellungen führen müssen. Was erwartete den Kriegsgefangenen nach seiner Einbringung? Wie bewältigten die Betroffenen selbst diese neue Erfahrung?
Psychisch belastend war ihre Situation allemal: Wurden sie zuvor noch als patriotische Helden gefeiert, so wurden sie nach der Gefangennahme nicht selten ihren Gegenern als gedemütigte Kriegs- und Siegesbeute vorgeführt. Der Kriegsgefangene schied aus der kämpfenden Truppe aus und war jetzt zumindest in militärischer Hinsicht unbedeutend geworden. Diese Veränderung der Lebenssituation wog gewiss schwer, denn mit dem Eintritt in das Kriegsgefangenenlager schloss sich scheinbar das Tor zur Außenwelt. Die Gefahr, vergessen zu werden, war nun durchaus zu einer sehr realen Bedrohung geworden. Wie die Briefe italienischer Kriegsgefangener aus oberösterreichischen Lagern, vornehmlich Mauthausen, bezeugen, war es vor allem die Sehnsucht nach den nächsten Angehörigen, verbunden mit der Furcht sie nie mehr wiederzusehen. Dieses unbändige Gefühl verleitete nicht wenige Kriegsgefangene dazu, erfolglose Fluchtversuche zu unternehmen. Jene aber, denen dazu der Mut fehlte, verfielen in tiefe Resignation.
Ein Bericht des kriegsgefangenen Lehrers Adolf Braun aus Odessa, konfiniert im Lager Marchtrenk, macht noch ein weiteres Verhalten sichtbar. Die Kriegsgefangenen, die häufig mit den schrecklichsten Erlebnissen von der Front ins Hinterland transferiert wurden, zogen sich auf sich selbst zurück und mieden zunächst jeden Außenkontakt. Erst allmählich wuchs die Bereitschaft, sich zu öffnen und am Lagerleben teilzuhaben. Konstant blieb freilich die Sehnsucht nach der Heimat.
Dann gab es Fälle, bei denen die langandauernde Kriegsgefangenschaft nicht nur zu Trübsinn und Depression führten, sondern auch direkt in den Freitod mündete.{15} In diesem Zusammenhang tauchte bereits kurz nach Kriegsende der Begriff der “Stacheldrahtkrankheit“ auf. {16}
Für die Wachmannschaften führte die Belastung eines jahrelangen Dienstes vor Ort zu anscheinend ähnlichen Begleiterscheinungen.
Im September 1918 erregte ein Wachsoldat aus dem Lager Kleinmünchen erhebliches Aufsehen, als er am damaligen Linzer Kaiser Franz-Josefs-Platz, dem heutigen Hauptplatz, Passanten mit angeschlagenem Gewehr bedrohte. Bei seiner Vernehmung gab er an, dass er den aufreibenden Dienst im Lager nicht mehr ertragen könne, worauf er einer ärztlichen Kommission vorgeführt wurde.{17}
Für die Gemeinden und ihre Bevölkerung, die als Lagerstandorte ausgewählt wurden, wirkte die Nachricht zunächst wie ein Schock. In Freistadt beispielweise war anfänglich schon von einer panikartigen Stimmung unter der Bevölkerung die Rede, man befürchtete den Ausbruch der Gefangenen, Plünderungen, Mord, sowie lebensbedrohliche Seuchen und eine Lebensmittelnot. {18}
Überdies wurde die massenhafte Requirierung von Einrichtungsgegenständen für die anfänglich schlecht ausgestatteten und hastig errichteten Lagerkommanden samt Verwaltungsstäbe von der Bevölkerung als große Belastung empfunden.
Als die Stadtgemeinde Braunau im Sommer 1915 durch das K. u. K. Kriegsministerium vom geplanten Lagerbau erfuhr, lehnte man dies zunächst aus wirtschaftlichen Gründen einhellig ab. Man befürchtete eine Verknappung der Nahrungsmittelressourcen. Als wahrer Grund der Ablehnung kristallisierte sich jedoch rasch die Furcht vor einem Ausbruch von Seuchen heraus, und dies war in der Landeshauptstadt Linz nicht anders.
Das Gegenstück dazu bildete jedoch ein neugieriges und staunendes Publikum, das an Sonntagen in Richtung der Lager ausschwärmte, um wie es in einem damaligen Zeitungsbericht hieß, „[...] irgendwelche Geheimnisse dieser verbotenen Stadt […]"{19} zu erspähen. Dies erregte sofort das Misstrauen der Behörden, die sofort die polizeiliche Absperrung des Terrains verfügten.
Bald aber war vor allem für die umliegende Geschäftswelt klar, dass sich mit der Etablierung der Lager durchaus lukrative Perspektiven eröffneten und man war profitablen Geschäften nicht mehr länger abgeneigt. Viele Handwerksbetriebe betätigten sich als Zulieferer beim Lagerbau oder stellten direkt Arbeitskräfte zur Verfügung und diese wiederum kamen nicht selten aus weiter entfernten...