Vorwort
Klaus Farin
Für uns Großstädter_innen reimt sich auf Land sehr schnell Flucht. Land – Provinz – Kleinstadt ist das, wo man weg will, dahin, wo das wilde Leben pulsiert, in die Großstadt. Wo Punk, Techno, HipHop, Hardcore, Ultras, Skinheads, Cosplay und andere lebendige Szenen, Kulturen und Subkulturen blühen – je nach Geschmack, Style, politischer, sportlicher und musikalischer Orientierung für jeden etwas. Land bedeutet Saufen, Trachtenkapellen, Schützen- und Karnevalsvereine. Und Fußball, den gibt’s überall. Aber richtige Szenen? Aus zwei Punks im Dorf wird bestenfalls eine Skatrunde, wenn sie noch einen dritten Verrückten finden, aber niemals eine wirkliche Szene.
Land in homöopathischer Dosierung genossen ist natürlich okay – frische Luft ziehen auch Großstädter_innen gerne mal durch die Nase, und so ab und an vermisst man ja doch ein wenig Natur, vor allem, wenn man, wie ein Großteil der heutigen jungen Großstädter_innen, selbst vom Land kommt. Aber wirklich dort leben? Land ist das, wo man unverschuldet herkam, bevor das eigentliche Leben begann. Land bedeutet: Ich will hier raus!
Die Landflucht der Jungen hat oft ganz prosaische Gründe: Universitäten findet man in ländlichen Regionen eher selten. Überhaupt die beruflichen Perspektiven, geschweige denn, einen Beruf zu finden, den man wirklich Jahrzehnte ausüben möchte, sind auf dem Land eher dünn gesät. Und sich vielleicht mal eine Weile selbstständig zu machen, von Projekt zu Projekt durchzuhangeln, um herauszufinden, wo man eigentlich hin will, oder gar zu versuchen, aus seiner Leidenschaft – etwa Musik oder Mode – einen Lebensunterhalt zu machen wie die zu den Techno-Hochzeiten der 1990er Jahre rund 20.000 Menschen, die allein in Berlin mehr oder weniger von Techno lebten – das klappt auf dem Land nun einmal nicht.
Die große Mehrheit – 87 Prozent – der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Rhein-Neckar-Region lebt gerne dort. Doch drei Viertel der Befragten stellen auch fest, dass in ihrer Gemeinde „nichts los“ sei, fast jede_r Zweite ist mit den Freizeitangeboten unzufrieden. Vor allem die Jüngeren klagen über fehlende Räume für sie, in denen sie sich frei und unkontrolliert aufhalten dürfen, mit ihren Freund_innen treffen können. Besonders in den kalten Jahreszeiten wissen sie oft nicht wohin. Und nicht wenige Jugendliche fühlen sich „unerwünscht“ in ihrer Gemeinde, haben das Gefühl, ständig irgendwo vertrieben und misstrauisch beobachtet zu werden, als gehörten sie allesamt gewalttätigen Gangs an – dabei ist die große Mehrheit der Jungen so brav, integrationswillig und leistungsorientiert wie schon lange keine Generation zuvor. „Die befragten Jugendlichen sind bildungsorientiert, zukunftsoptimistisch, zufrieden, eingebunden in lokale Strukturen und verwurzelt mit ihrer Region“, fasst Nicolle Pfaff das Ergebnis ihrer Studie zusammen.
Trotzdem wandern nicht alle Jungen ab – obwohl fast jede_r Zweite sich das durchaus vorstellen kann, vor allem junge Frauen und Höherqualifizierte. Viele bleiben dann doch, weil sie es sich schlicht nicht anders leisten können, weil sie nicht zu der von Hause aus gut bestückten Bildungs- und Kulturelite ihrer Region gehören, andere, weil sie gar nicht weg wollen. Es ist ja auch nicht so, dass alle darunter leiden, dass jede_r im Dorf sie kennt und jeden ihrer Schritte begleitet. Dass Rollenveränderungen eigentlich nicht vorgesehen sind. Für viele übersetzt sich die engmaschige soziale Kontrolle in Landgemeinden mit sozialer Wärme, füreinander da sein, familiale Intimität statt gesichtsloser Anonymität. Und, durchaus nicht unwichtig: Natur. Anders als etwa noch in den Jugendszenen der 1980er Jahre wird ein Leben in der Natur von den Jungen wieder als positives Qualitätsmerkmal geschätzt. Dafür nimmt man eben manches in Kauf. „Ruhe“, die immer wieder genannte Assoziation zum Dorfleben, ist Chance und Dilemma zugleich.
Wir erleben generell in Europa gerade eine Renaissance des Regionalpatriotismus, auch unter Jugendlichen. „Heimatliebe“ zu zeigen und auszuleben ist auch für viele Junge außerhalb von Bayern heute nicht mehr peinlich, nicht mehr per sé „rechts“ und „nationalistisch“, sondern Teil ihrer Alltagskultur und Identitätssuche. Nicht Nationalismus, sondern Regionalismus steht auf ihren Agenden – und der Wunsch nach einer Entschleunigung und Wiederüberschaubarkeit ihrer Lebensumwelt: das Dorf als Hort der Sicherheit, als Ruhepol inmitten einer sich global immer schneller und unbeeinflussbarer verändernden Welt. „Hier ist die Welt noch in Ordnung.“
Im Dorf ist die Welt noch in Ordnung?
Ist sie das wirklich? Gelingt es Dörfern und Landgemeinden wirklich noch, die Welt draußen zu halten? Wollen sie das überhaupt, vor allem die Jungen, auch die, die gerne in ihrem Dorf und in ihrer Landgemeinde leben?
Aktuelle Beobachtungen zeigen eher, dass Veränderungen, die „die Jugend“ in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, zwar in den Städten sichtbarer zutage treten, aber auch auf dem Land stattfanden und weiter stattfinden. Freiwillige Feuerwehren, kirchliche und andere Jugendgruppen und -verbände, sogar Karnevals- und Schützenvereine klagen vielerorts über Nachwuchsmangel. Traditionen erodieren. Auch Jugendliche, die gerne in Landgemeinden leben, schließen sich nicht mehr automatisch den Jugendgruppen und Vereinen ihrer Eltern und Großeltern an. Sondern sie prüfen kritisch: Was bringt MIR das, wenn ich mich dort engagiere? Sinn und Spaß, nicht Pflichtbewusstsein motivieren Jugendliche zu Engagement. Auf dem Land nicht anders als in der Stadt. Werde ich dort, wo ich mich einbringe, akzeptiert, so wie ich bin? Werde ich auch in meiner Andersartigkeit als Jugendliche_r, was Sprache, Mode, Musik und andere Elemente meines Stils angeht, ernst genommen und respektvoll behandelt, nicht von oben herab? Kann ich von Anfang an nicht nur mitarbeiten, sondern auch mitbestimmen? Ist das Ziel unverrückbar festgeschrieben oder habe ich noch Einfluss darauf? Ist das Ziel überhaupt erreichbar, in einem absehbaren Zeitraum, nicht erst nach der Revolution oder für die nächste Generation? Ist der Weg zum Ziel spannend, aufregend, eine Herausforderung für mich? Wird dort nur geredet, geredet, geredet oder auch gehandelt? Sind die Menschen, mit denen ich mich engagiere, nett, cool, interessant? Kann ich mir vorstellen, mit ihnen nicht nur im Verein etc. zusammenzukommen, sondern auch ganz privat eine Party zu feiern und mehr? Finde ich bei meinem Engagement vielleicht sogar nicht nur neue Freund_innen, sondern auch eine feste Beziehung?
Spaß und Sinn müssen eine Einheit bilden, will man Jugendliche motivieren, sich zu engagieren, sich an eine Gruppe zu binden, sei es auch nur auf Zeit. Das bedeutet: wirkliche Partizipation, Eigenverantwortlichkeit, die Möglichkeit eines Engagements auf Zeit, Ganzheitlichkeit (Kopf und Körper werden beansprucht), möglichst flache Hierarchien, kreative Herausforderungen, Respekt. Mit anderen Worten: Im Vergleich zwischen traditionellen Vereinen, Jugendverbänden und anderen Großorganisationen wie Kirchen oder Parteien – mit ihren oft patriarchalen, jugendfeindlichen Strukturen, nicht zu hinterfragenden Autoritäten und sinnentleerten Alte-Männer-Ritualen – und den informellen jugendkulturellen Szenen ergibt das einen eindeutigen Punktsieg für Letztere. In den Jugendkulturen fanden sich schon immer überwiegend jene zusammen, die mit den engmaschig normierten Strukturen und nicht hinterfragbaren Regeln der formellen Engagementangebote nicht klarkamen, die selbst jederzeit die Entscheidungsfreiheit behalten wollten, ob, wann, wie und mit welchen Menschen sie sich in ihrer Freizeit amüsieren und engagieren wollten. Sicher hat auch die Punk-, Gothic- oder Ultra-Szene „Gesetze“, doch die sind nirgendwo schriftlich fixiert, jede einzelne Punk-, Gothic- oder Ultra-Clique und jede_r einzelne ihrer Angehörigen entscheidet selbst, welche Regeln er oder sie befolgen möchte und welche eben nicht. Sicher gibt es auch dort wie überall im Leben Menschen, deren Meinung mehr Gewicht hat als die anderer, aber die haben es sich durch langjährige Zugehörigkeit, Witz, verbale und nonverbale Schlagfertigkeit und vor allem durch eigenes kreatives Engagement verdient und nicht, weil sie formal gewählt oder von oben ernannt wurden (was nicht bedeutet, dass unter den Gewählten oder von oben ernannten Repräsentant_innen formaler Organisationen nicht auch Engagierte und Kreative sein können).
Selbstverständlich prägen die (großstädtischen) Jugendkulturen auch Jugendliche auf dem Land. Wie sollte es auch anders sein, ist doch das world wide web längst die wichtigste Quelle und das größte Transportmittel zur Verbreitung von Jugendkulturen. Was für (eher) großstädtische Jugendkulturen schon immer galt, überträgt sich nun auf die Vereine und Organisationen auch in den Landgemeinden. Die Jugendlichen dort fordern dies explizit eher selten – sie stimmen mit den Füßen ab und bleiben den Angeboten, die sich ihnen nicht zumindest ein wenig anpassen, einfach fern. Landgemeinden und dort beheimatete Organisationen werden sich gegenüber den Bedürfnissen der jugendkulturell geprägten Jugendlichen öffnen müssen, wollen sie nicht zur jugendfreien Zone werden.
Das bedeutet neue Herausforderungen auch für die Jugendarbeit auf dem Lande – nicht zuletzt, damit aus dem „Ich bin dann mal weg“ vieler Jugendlicher vielleicht ein „Ich bleib erst mal hier“ wird.
Und das bedeutet zunächst, die Bedürfnisse der Jungen auch zu kennen. Das Archiv der Jugendkulturen entwickelte deshalb in Zusammenarbeit mit dem Postillion e. V. ein...