I. Kapitel:
Die Päpste meiner Lebensgeschichte
1. Das Werden meiner religiösen Überzeugungen
Mit meinem Glauben an Jesus Christus und dem Leben in der Kirche war die Beziehung zum Papst von Rom schon positiv konnotiert, bevor ich fachwissenschaftlich die biblische Begründung, die Zeugnisse der Tradition, die lehramtlichen Definitionen, die Kontroversen um das Papsttum mit den orthodoxen Kirchen und dem reformatorischen Protestantismus sowie die Herausforderungen in der Moderne und Postmoderne studieren konnte. Nicht Abstraktionen und Theorien, sondern lebendige Personen und Zeugen des Glaubens haben meine Beziehung zur katholischen Kirche und damit auch zum Papsttum grundgelegt und meine Vorstellungen davon geprägt.
Credere heißt »glauben« – nicht im dem Sinne, eine Meinung zu dieser oder jener bedeutenden Frage zu haben, sondern glauben im theologischen Sinn bezeichnet das Verhältnis zu Gott, der mich im Wort seiner Offenbarung persönlich an-spricht. Credere kommt von cor dare. Glauben an Gott bedeutet, dem, der mir sein Herz geöffnet hat, mein eigenes Herz geben. Glauben heißt für mich, dass ich im Leben und Sterben auf den Gott und Vater Jesu Christi alle meine Hoffnung setze. Es ergreift mich, wenn ich bete: »Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang und im Hause des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit« (Ps 23,1.6).
Den Glauben an Gott gibt es nicht ohne die Liebe zu ihm über alles Geschaffene hinaus und die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst. Denn mich und alle meine lieben Freunde und alle verehrten Mitmenschen hat er nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen (Gen 1,28). Der Glaube ist nicht bloß eine intellektuelle Einsicht in Fragen von Religion und Kirche. Heilsbedeutsam ist er nur, wenn er in der Liebe wirksam wird (Gal 5,6) und wenn alle Traurigkeit der Zeit in der Freude der Ewigkeit versinkt (Gal 5,6).
Gott befreit und heiligt den Menschen. Er versetzt ihn in den Stand der heiligmachenden Gnade. Er gibt ihm Anteil an seinem Sein und Leben und erfüllt ihn mit seiner Güte und Wahrheit. Gott macht uns zu seinen Söhnen und Töchtern. Diese Gotteskindschaft wird uns geschenkt durch die Gnade und den rechtfertigenden Glauben in Hoffnung und Liebe (fides caritate formata).
Der Glaube gehört einer anderen Kategorie an als das Wissen um die Dinge der Welt. Er überbietet die Teilnahme an sozialen und medialen Netzwerken und ist damit keineswegs als eine defiziente Form von Wissen und Information abzuwerten. Gott ist nach einer Formulierung Dietrich Bonhoeffers (1906–1945) keineswegs Arbeitshypothese und Lückenbüßer für noch ungeklärte Fragen der Naturwissenschaften.1 Doch der Glaube, der von der Vernunft und der Zustimmung des freien Willens in der Kraft des Geistes Gottes vollzogen wird, stellt die höchste Form der Erkenntnis unter den Bedingungen unseres irdischen Daseins dar, die nur in der »Anschauung Gottes von Angesicht zu Angesicht« (1 Kor 13,12) in der Ewigkeit überboten wird. Im Glauben gelingt und glückt das Verhältnis der geschaffenen Person und der Gemeinschaft der Menschen zum dreifaltigen Gott. Darin ereignet sich Heil, weil es nicht um eine Einsicht in einen Sachverhalt geht, sondern um eine Teilhabe am inneren Wissen Gottes im Wort und seinem Verhältnis zu sich selbst als Liebe in der Koinonia von Vater und Sohn und Heiligem Geist. Die Inhalte des Glaubens bedeuten folglich Erkenntnis und Annahme seines Heilswillens vermittels seines geschichtlichen Heilshandelns. Im Glauben an Gott vertraut der Jünger Christi formaliter auf die Wahrhaftigkeit Gottes (veracitas Dei). Er wurde dazu in die Lage versetzt aufgrund des Zeugnisses Gottes, der zu uns spricht durch Jesus Christus, das verbum incarnatum, das ewige WORT des Vaters, das aus der Jungfrau Maria unser Fleisch angenommen hat. Der Sohn Gottes ist darum nicht allein unser Herr, sondern auch unser Bruder, weil er uns Menschen gleich geworden ist (Hebr 2,14). Das Zeugnis Christi vom Vater wird uns in seinen einzelnen Inhalten im Bekenntnis der Kirche in den Artikeln des Glaubensbekenntnisses vermittelt.2
Das ICH meines persönlichen Glaubens an Gott wird von der Kirche gleichsam mütterlich empfangen, getragen, geboren und ernährt. Das »Ich glaube an Gott« wird von dem »Wir glauben an Gott« aufgenommen und umfangen. Aus der Einzelhaft meines Egos werde ich befreit zur Herrlichkeit der Kinder Gottes in der Kirche, der familiären Gemeinschaft der Glaubenden. Die Kirche steht mir nicht als Institution gegenüber. Ich gehöre ihr vielmehr an, so wie die Glieder des Leibes mit ihrem Haupt eine Einheit und Gemeinschaft des Lebens bilden. Die Kirche ist Gott gegenüber Jungfrau-virgo, die das Wort im Glauben empfängt, und uns gegenüber Mutter-mater, die uns im Glauben das göttliche Leben schenkt.
Die Kirche bedeutete für mich nie eine anonyme Institution, so unerreichbar wie die Gerechtigkeit in Kafkas »Schloss«. Das Papsttum hatte in den einzelnen Päpsten von meiner Kindheit an bis zu meinem gegenwärtigen Dienst als Präfekt der römischen Glaubenskongregation immer ein menschliches Gesicht, das diese Stiftung Christi repräsentiert.
Das Papsttum ist keine sachhafte und unpersönliche Institution, sondern eine Folge von Personen, die ihre Mission verwirklichen, die der erhöhte Herr ihnen individuell aufträgt. Jeder Papst als Nachfolger Petri hat einen Namen, in dem er in seiner eigentümlichen Individualität vor uns hintritt. Die Person kommt vor der Institution und macht den bleibenden Auftrag des Petrus und seine Sendung anschaulich und lebensnah. Das Christentum ist keine Summe von dogmatischen Lehrsätzen und ethischen Prinzipien, die ich wie in einem schweren Rucksack mühevoll durchs Leben schleppen müsste. Im personalen Glauben und der Weggemeinschaft der Kirche wird sein Inhalt leicht, tragbar und erträglich. Und ich weiß, dass das, was ich trage und was mich trägt, Christus selber ist. Er ist das Wasser des Lebens (Joh 4,14), das mich erfrischt, und er ist das Brot, das mich stärkt und am Leben hält (Joh 6,48).
Christsein vollzieht sich in der Nachfolge Christi, dessen Joch sanft und dessen Last leicht ist (Mt 11,30), weil alles in der Liebe zu ihm getragen wird. Somit vermittelt die Gemeinschaft derer, die mit ihm gehen, Hilfe und Ansporn. Die Kirche existiert in Personen in ihrer Beziehung zu Christus, sowohl in den Mitchristen als auch spezifisch in den Boten Jesu und den Zeugen des Evangeliums, den Aposteln, Bischöfen und Priestern »bis an die Grenzen der Erde« (Apg 1,8; Mt 28,20).
Deshalb beginne ich mit einem Blick auf die sieben Päpste während der Zeitspanne meines bisherigen Lebens. Auf diese Weise möchte ich meine religiösen Überzeugungen und meine Verwurzelung im katholischen Glauben ausgehend von Gott und Christus und Kirche verdeutlichen.
2. Meine katholische Kindheit und Jugend
Pius XII. (1939–1958)
Als ich am Tag des hl. Papstes Sylvester I. (314–335) im Jahr 1947 das Licht der Welt erblickte, hatte Pius XII. (1939–1958) schon zwei Weltkriege, den italienischen Faschismus und die Nazizeit hinter sich. Er musste sich aktuell mit der atheistischen Bedrohung der Christenheit im Osten und dem stärker werdenden Säkularismus im Westen auseinandersetzen. Zu meiner beginnenden Schulzeit und während des Erstkommunionunterrichtes hörten wir davon, wer der Papst ist und vor allem, dass wir, die katholischen Christen, ihn verehren als Nachfolger des Apostelfürsten Petrus und damit als Stellvertreter Christi auf Erden. Der Papst verkörpert in seiner Person die Einheit der pilgernden Kirche auf Erden.
Eines Tages, es war am 9. Oktober des Jahres 1958, stürmte höchst aufgeregt meine Schwester Antonia (1940–2010) – als Abiturientin für mich, den 10-jährigen Gymnasiasten, die höchste Autorität des Wissens – in mein Zimmer und rief »Weißt du es schon? Der Papst ist gestorben.«
Ich war im Moment eher bewegt von der Vorstellung, dass der Papst jetzt im Himmel bei Christus ist. Der Begriff »Papst« war verbunden mit Gott, Christus und Kirche. Das Wort »sterben« hatte in meiner Vorstellung etwas mit dem Himmel zu tun. Nach dem Tod kommt unsere Seele zu Gott und dann hoffen wir auf die Auferstehung des Fleisches zum ewigen Leben und aller Toten zum jüngsten Gericht. Für die kindliche Vorstellungskraft ist das Amt nahezu identisch mit der Person, die es bekleidet. Pius XII. war für uns einfach »der« Papst, der Nachfolger des hl. Petrus, die höchste Autorität in allen Glaubensfragen, so wie für mich damals Albert Stohr (1890–1961) der Bischof von Mainz war und wir uns einen anderen als unseren Pfarrer Philipp Heinrich Lambert (1896– 1960) gar nicht vorzustellen vermochten. Mein erster Heimatpfarrer galt als die Verkörperung eines seeleneifrigen Priesters, dessen ganzes Herz den Armen und Kranken galt und besonders nach 1945 auch den deutschen Kriegsgefangenen in den Lagern rund um Mainz. In seiner tiefreligiösen Haltung und seiner sozialen Einstellung war er für mich der erste und prägendste Eindruck eines »Seelenhirten«.
Pius XII. ist der Papst meiner Kindheit und galt einfach als Inbegriff und Maßstab des Katholischen.
Als Kind gläubiger katholischer Eltern war mir die Gnade geschenkt, in ein Leben aus dem Glauben an Gott, den Ursprung und das Ziel des Lebens, hineinzuwachsen und ihn mir innerlich immer mehr zu eigen zu machen. Der Glaube entstammt nicht einem inneren subjektiven Erleben, das sich sekundär dann ausdrücken möchte, wie es die rationalistische Religionsphilosophie glauben...