Johannes B. Kerner war an allem Schuld. Daran, dass ich im Jahr 2002 mit meinem alten, hölzernen schwarz-gelben Pferdeanhänger – gezogen von einem noch älteren Auto – in Richtung Filsum, dieser Stadt oder besser diesem Dorf im Norden, unterwegs war, wo ich vieles fand, womit ich nicht gerechnet hatte – am allerwenigsten, dass mein Leben sich grundlegend ändern würde.
Vor dem Beginn dieser Reise stand eine zweijährige Odyssee. Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, meinem geliebten niederländischen Wallach Grand Cru etwas Gutes angedeihen zu lassen. Wir hatten in den letzten Jahren unermüdlich gearbeitet. Waren von Turnier zu Turnier gefahren, hatten Erfolge, aber auch Misserfolge. Ich entwickelte meine eigene Reitmethode weiter und mein Gefährte hatte mich bei all diesen Vorhaben treu begleitet. Vieles wusste ich damals schon von den Bedürfnissen, der Physiognomie und dem Verhalten dieser wunderbaren Geschöpfe, ich wusste aber auch, dass ich noch vieles lernen musste. So war es für mich selbstverständlich, mich nicht auszuruhen – etwas, das sowieso nicht meinem Naturell entspricht –, sondern mich mit anderen Pferdeliebhabern auseinanderzusetzen, nach links und rechts zu schauen und meine eigenen Grenzen auszuloten und zu respektieren. Durch die Beschäftigung mit dem Körperbau, den Bewegungsabläufen und der Motorik der Pferde konnte ich einige Störungen schon erkennen, war aber dennoch erst am Anfang meiner Studien, die bis heute andauern.
Grand Cru
Zu dieser Zeit war eine Pferde-Osteopathin bei uns tätig. Bei uns bedeutet in diesem Fall Moers, wo ich wohnte, meine Ausbildung als Speditionskauffrau gemacht hatte, und wo ich damals für eine Brauerei im Marketing arbeitete. Wo ich in der Reiteranlage meine Freizeit verbrachte, in der meine Pferde lebten. Sie sollte sich Grand Cru einfach einmal anschauen. Vielleicht hatte ich während der letzten Monate etwas übersehen, vielleicht waren Blockaden entstanden, die ich gar nicht wahrgenommen hatte. Ein Termin war schnell gemacht und sie erschien zum vereinbarten Zeitpunkt an der Reitanlage. Mit scheinbar geübten Griffen tastete sie Grand Cru ab, ließ ihn auf und ab gehen und traben und beobachtete seinen Gang. Mir schien alles normal und ich war insgeheim beruhigt. Aber noch stand eine Diagnose aus.
„Ihr Pferd hat einen Beckenschiefstand.“ „Oh, ach wirklich?“ „Ja, ganz deutlich. Aber keine Angst, ich bekomme das schnell wieder hin und er wird ganz der Alte.“ Nun gut, ich hatte dies wirklich noch nicht bemerkt, für mich verhielt sich mein Schatz ganz normal, keine Blockaden sicht- und fühlbar, keine Schwierigkeiten beim Reiten. Aber sie war die Fachfrau, sie würde wissen, was zu tun sei. Das tat sie auch. Langsam tastet sie das Becken ab, drückte, zerrte und strich an meinem Freund entlang.
„Jetzt sollte alles wieder gut sein. Geben Sie ihm noch einige Zeit Ruhe und belasten Sie ihn erst langsam wieder, dann sollte alles wie früher sein.“
Nichts war mehr wie früher!
Grand Cru bekam bei Belastung ganz offensichtlich Schwierigkeiten. Er fing an zu stöhnen und bewegte sich steif. Während er früher gleichmäßig und ruckfrei arbeitete und alle Gänge fehlerfrei vollziehen konnte, bemerkte ich nun immer mehr Stockungen und Unsauberkeiten in seinem Bewegungsablauf. Anfangs dachte ich noch, nun gut, durch den Beckenschiefstand hat es viele Blockaden in der Muskulatur gegeben, die sich jetzt langsam lösen und wieder in ihre ursprüngliche Funktion zurückfinden und dies braucht seine Zeit, aber mit der Zeit wurde es eher schlimmer als besser. Also suchte ich Rat bei anderen Fachleuten, Pferde-Chiropraktikern und Heilkundlern. Akkupunktur schien für ein paar Wochen und manchmal sogar Monate zu helfen, aber letztendlich kamen die Beschwerden zurück. Ich informierte mich bei anderen Pferdebesitzern, suchte nach Rat im Internet und probierte den einen oder anderen Arzt, Heilkundigen oder mehr oder weniger Sachverständigen aus. Es war nicht so, dass Grand Cru ernsthaft gefährdet schien oder unter unerträglichen Beschwerden litt, aber meinem Pferd ging es nicht gut und das sollte nicht sein, durfte nicht sein!
„Fahr doch mal zu diesem Knochenbrecherdings.“ – „Zu wem oder was?“ Manchmal wurde ich aus meiner Mutter nicht schlau. Wir waren immer sehr verbunden und so etwas wie beste Freundinnen. Dies bedeutete aber nicht, dass ich all ihre Gedankengänge nachvollziehen konnte. Ich erzählte ihr natürlich viel von meiner Arbeit mit Pferden und sie nahm immer regen Anteil an meinen Fortschritten mit den Tieren, aber diesmal stand ich völlig auf dem Schlauch, was sie denn nur damit meinte.
„Na, du dokterst doch schon seit wer weiß wie lange mit deinem Grand Cru rum. Bis jetzt hat ja wohl nix geholfen, oder? Und da hab ich doch gestern beim Kerner diesen Knochenbrecher gesehen. Großer Kerl aus Ostfriesland. Erzählt, dass er Pferde heilen kann, durch Einrenken oder sowas.“
Johannes B. Kerner hatte damals seine eigene Show beim ZDF. Meine Mutter war schon immer an politischen und tagesaktuellen Themen interessiert und mochte Herrn Kerner irgendwie besonders.
„Ja, also, der hat da einen Bauernhof irgendwo in Ostfriesland und dann gibt es da immer so Kummertage und dann kommen viele Pferde- und Hundebesitzer und er guckt sich die Tiere an und tastet sie ab. Und dann renkt er sie ein oder so und den Tieren geht es dann wieder gut. Sie laufen wieder ganz normal, die Beschwerden sind ganz weg oder er gibt Tipps, was der Halter besser machen muss. Die Gabe hat er irgendwie von seinem Großvater geerbt. Die nennen sowas in Ostfriesland ‚Knochenbrecher‘ und das muss es wohl schon seit Jahrhunderten da oben geben.“
Ein ausgezeichnetes Team
„Ich geb‘ doch meinen Grand Cru nicht in die Hände eines Knochenbrechers!“
„Wer weiß, was der mit ihm anstellt. Das war ja wohl einer der üblichen Ostfriesenwitze“, dachte ich.
Aber irgendwie war meine Neugierde doch geweckt. Schließlich kam der Tipp von meiner Mutter und dann durfte der Mann ja auch bei Johannes B. Kerner auftreten und der wird schon wissen, wen er sich da zu seiner Sendung einlädt. So ganz unseriös kann das nicht sein. Dennoch nutzte ich erst einmal das Internet, um mich genauer über diesen „Knochenbrecher“ zu informieren und hatte nun endlich auch einen Namen: Tamme Hanken. Da sah ich einen wirklich riesengroßen Kerl, der, wenn man den Berichten Glauben schenken durfte, wundersame Dinge an den Tieren vollbrachte. Von Filsum hatte ich auch noch nichts gehört, aber so weit weg war das Dorf in der Nähe von Leer dann doch nicht, das waren höchstens drei bis dreieinhalb Stunden Fahrt mit einem Pferdeanhänger. Also durchaus machbar. Da war ich anderes gewohnt auf meinen Fahrten zu Turnieren oder Kunden. Ich war Neuem gegenüber immer aufgeschlossen und es machte mich wirklich neugierig, was dieser Mann mit den großen Händen denn nun wirklich mit den Tieren anstellen konnte.
Einen Versuch war es wert und auch meine Reitkolleginnen bestärkten mich in meinem Vorhaben. Schließlich ging es um das Wohlbefinden meines geliebten Grand Cru und da wollte ich nichts unversucht lassen. Ich entschloss mich also, es zu versuchen. Eine Telefonnummer war schnell gefunden und so rief ich dann beim Knochenbrecher an. Eine dunkle, tiefe, norddeutsch gefärbte Stimme meldete sich und fragte ganz seriös nach meinem Anliegen. Ich schilderte meinen Fall und bekam auch schon recht zeitnah einen Termin zu einem der Kummertage. Ich sollte mich am 7. April 2002 auf dem Hankenhof in Filsum mit Grand Cru vorstellen. Da dies ein Samstag war und ich nicht gerne gestresst morgens erscheinen wollte, fragte ich noch, ob es machbar wäre, einen Tag früher anzureisen und ob es Übernachtungsmöglichkeiten gäbe. Kein Problem, Grand Cru könnte in der Anlage untergebracht werden und für mich würde es auch eine Übernachtungsmöglichkeit im nahegelegenen Gasthof geben. Es schien alles zu klappen. Ich plante also meine Reise.
Mit Grand Cru auf dem Weg zum Hankenhof
An einem sonnigen Freitagmorgen machte ich mich auf zu dem Reiterhof, bei welchem Grand Cru untergebracht war. Bei meinen vielen Überstunden in der Brauerei war es kein Problem, einen Tag freizubekommen. Den alten, schwarz-gelben, hölzernen Pferdanhänger, der schon so oft im Einsatz war, hatte ich tags zuvor schon fertig gemacht, sodass nicht mehr viel zu tun war: Hänger hinter das Auto spannen, Grand Cru verladen und Richtung Norden brausen. Ja, das Verladen war wirklich kein Problem. Ich hatte schon so viele Pferde gesehen, die beim Verladen scheuten, die aufbockten oder nur mit der Hilfe vieler Hände in einen Anhänger geführt werden konnten, aber das Vertrauen zwischen meinem Pferd und mir war so groß, dass Grand Cru sich bereitwillig einchecken lies. Oft beobachtete ich, wie es ihm scheinbar eine Freude machte, unterwegs zu sein, mit mir zusammen Neues zu entdecken und neue Aufgaben zu bewältigen. Letzte flapsige Bemerkungen meiner Stallkameradinnen verabschiedeten uns, à la:
„Pass nur auf, dass der Knochenbrecher nicht auch Herzen bricht.“
Als gebürtige Niederrheinerin liebe ich das flache Land, das den Blick unendlich schweifen lässt und die Sehnsucht nach Weite, nach dem „Immer-Weiter“ befriedigt: Grüne Wiesen mit schwarz-weiß- oder braungescheckten Kühen. Pferde tummeln sich in Herden und galoppieren über das weite Land. Alleen von Bäumen, rote Backsteinhäuser und Mühlen, Kanäle und Flüsse und immer...