Die im vorherigen Kapitel erläuterten bevorstehenden konzeptionellen und technologischen Veränderungen der produzierenden Industrie haben zur Folge, dass sich die Instandhaltung zur Smart Maintenance weiterentwickeln muss. Zum einen ist dies erforderlich, um die Industrie 4.0 überhaupt zu realisieren, zum anderen, um selbst gegenüber neuen Herausforderungen in der Industrie 4.0 bestehen zu können. Nachstehend werden zur Konkretisierung des Adaptionsbedarfes der Instandhaltung zunächst die Implikationen der Industrie 4.0 für die Instandhaltung und damit die Aufgaben und Anforderungen der Smart Maintenance spezifiziert (Kap. 3.1). Daran anschließend erfolgt eine Reflektion der neuen Herausforderungen gegenüber der konventionellen Instandhaltung und die Identifikation notwendiger Handlungsfelder für die Smart Maintenance (Kap. 3.2).
Das Konzept der Industrie 4.0 verkörpert nicht ein spezifisches physisches Produkt oder ein digitales Programm, das in der produzierenden Industrie eingeführt werden soll – Industrie 4.0 ist ein ganzheitlicher Systemgedanke, der Technologien, Arbeitsabläufe und Produktionsprozesse integriert. Dabei zielt Industrie 4.0 sowohl auf die Veränderung einzelner Arbeitsplätze, Prozesse, Maschinen und Anlagen als auch auf die Revolution gesamter Unternehmens- und Arbeitswelten ab. Somit steht in der Industrie 4.0 anstelle einer einmaligen punktuellen Veränderung ein ganzheitlicher fortlaufender Wandel in kleinen Schritten, und unter Berücksichtigung des kontinuierlich anhaltenden technologischen Fortschritts in fortwährenden Iterationsschleifen über mehrere Jahre bevor. Um der Langfristigkeit der Umsetzung der vierten industriellen Revolution angemessen zu begegnen, muss insbesondere möglichen Akzeptanzproblemen und Vorbehalten der Mitarbeiter vorgebeugt und Offenheit sowie eine Vertrauensbasis gegenüber den Veränderungen geschaffen werden (vgl. [Hirsch-Kreinsen 2014a, S.32]).
Diesbezüglich ist die Instandhaltung im Betriebsalltag zuständig für die Gewährleistung der Funktionalität der cyber-physischen Systeme der Industrie 4.0. Dadurch liegt es im Verantwortungsbereich der Instandhaltung sicherzustellen, dass die Potenziale der neuen Konzepte und Technologien für die Mitarbeiter und in der Folge für die industriellen Unternehmen realisiert werden. Nur so können die Mitarbeiter die Vorteile der Industrie 4.0 erleben und es entstehen die o. g. Offenheit und die notwendige Vertrauensbasis gegenüber den Veränderungen. Es gilt: Je effektiver und zuverlässiger die neuen Elemente in den Unternehmen funktionieren, desto weniger Widerstand und Zurückhaltung gegenüber Industrie 4.0 wird es geben.
In diesem Zusammenhang resultieren aus der Industrie 4.0 für die Instandhaltung vier zentrale Anforderungen:
Die Ausrüstung bestehender Einheiten mit eingebetteten Systemen zu CPS, um die Industrie 4.0-Fähigkeit der Produktionsanlagen zu realisieren.
Die Steigerung von Verfügbarkeit, Flexibilität und Wandlungsfähigkeit im operativen Produktionsbereich von Unternehmen, um den zukünftigen Marktanforderungen entsprechen zu können.
Die Bewältigung der kontinuierlich zunehmenden Komplexität industrieller Anlagen und der zugehörigen Produktions- und Instandhaltungsprozesse, um die Handlungsfähigkeit industrieller Unternehmen zu optimieren.
Die Etablierung eines interdisziplinären Wissens- und Informationsmanagements in der Instandhaltung, um die Potenziale der Industrie 4.0 für die Instandhaltung als Smart Maintenance zu erschließen und zugleich übergreifend andere Bereiche von dem Wissen und den Informationen der Smart Maintenance profitieren zu lassen.
Nachfolgend werden die unterschiedlichen Anforderungen im Detail vorgestellt.
Die Ausrüstung bestehender Anlagen zielt auf die Steigerung der Leistungsfähigkeit der Anlagen durch deren technologische Integration als CPS in das Konzept der Industrie 4.0 ab und liegt als klassische Verbesserungsmaßnahme im Zuständigkeitsbereich der Instandhaltung. Die zentralen Anforderungen dieser Verbesserungsmaßnahme liegen über der Ausrüstung aus technischer Perspektive und deren Konsequenzen (Kap. 3.1.1.1) hinaus in der Erfüllung der konventionellen Zielsetzungen der Instandhaltung, nämlich in der Umsetzung eines wirtschaftlich ganzheitlichen Optimums (Kap. 3.1.1.2) sowie in der Gewährleistung der Arbeitssicherheit (Kap. 3.1.1.3).
3.1.1.1 Technologische Migration bestehender Anlagen zu CPS
Die vorgenommene Charakterisierung der technologischen Migration bestehender Anlagen zu CPS als Verbesserungsmaßnahme zeigt bereits auf: „Industrie 4.0 ist kein Greenfield Approach“ [Köhler et al. 2015, S.37]. Vielmehr ist es erforderlich, eine Integration der „neuen Technologien“ in die „alten Produktionssysteme“ umzusetzen, um die Industrie 4.0 flächendeckend, gleichmäßig und bei laufendem Geschäftsbetrieb in die Unternehmen des produzierenden Gewerbes einzuführen. Schöning wählt dazu die Bezeichnung der „Industrie 4.0-Adaptoren“ [Schöning 2015, S.101], wodurch deutlich wird, dass die bestehenden Anlagen nicht ersetzt, sondern um die „neuen Technologien“ ergänzt werden. Elementar ist an dieser Stelle, dass sowohl Anlagen, die bisher über keinerlei IKT verfügen als auch Anlagen, die eine initiale IKT-Grundausstattung besitzen, solcher Industrie 4.0-Adaptoren bedürfen, da letztere in Bezug auf die erforderlichen Rechnerleistungen der Industrie 4.0 oftmals zu limitiert sind. In diesem Kontext sind rund 70 Prozent aller Produktionsanlagen weltweit über 15 Jahre alt und repräsentieren mit Blick auf den zwischenzeitlichen technologischen Fortschritt den minimalen Anteil an für die Industrie 4.0 aufzurüstenden Anlagen [Cisco 2015, S.1]. Der Aufrüstungsbedarf bestehender Einheiten wird nachstehend am Beispiel der Gegenüberstellung einer 40 Jahre alten und einer modernen Drehmaschine deutlich.
Für die Instandhaltung resultiert aus dem technologischen Adaptionsbedarf auf der einen Seite ein einmaliger Ausrüstungsaufwand der bestehenden Anlagen, auf der anderen Seite bedingt die Migration der bestehenden Anlagen zu CPS, dass durch die zusätzlich zu den konventionellen Anlagen zu betreuenden Industrie 4.0-Adaptoren die Anzahl an instandzuhaltenden Einheiten erheblich ansteigen wird (vgl. [acatech 2015, S.12]). Hierbei liefert die fortschreitende Automatisierung einen weiteren Indikator für eine Zunahme instandzuhaltender Einheiten. So liegt der Anteil hochautomatisierter Unternehmen in den USA bei 46 Prozent und in Europa bei 40 Prozent [L.E.K. Consulting 2015, S.2]. Ebenso hervorzuheben ist, dass mit 54 Prozent nur die Hälfte aller produzierenden Unternehmen weltweit ihre Kernprozesse automatisiert haben [Bechthold & Lauenstein 2014, S.10]. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die produzierende Industrie seit jeher die Rationalisierung von Produktionsprozessen forciert, zeigen diese Quoten weitere Potenziale zur Automatisierung auf, wodurch die Anzahl eingesetzter und in der Folge instandzuhaltender industrieller Anlagen steigen wird. Aus globaler Perspektive bestärkt wird diese Annahme dadurch, dass in China auf 10.000 Industriearbeiter lediglich 32 Industrieroboter entfallen, während in Deutschland auf eine identische Anzahl an Mitarbeitern 292 Industrieroboter kommen [International Federation of Robotics 2015, S.1]. Die Substitution menschlicher Arbeit in der produzierenden Industrie hat folglich ihr maximales Potenzial noch nicht erreicht, sodass erneut von einem Zuwachs industrieller Anlagen und von einem analog steigenden Instandhaltungsaufwand auszugehen ist.
Eine weitere Herausforderung entsteht für die Instandhaltung im Rahmen der Migration bestehender Anlagen zu CPS aus der wachsenden Heterogenität der instandzuhaltenden Einheiten. In diesem Punkt ist die Hardware eingebetteter Systeme grundsätzlich wenig standardisiert (vgl. [Marwedell 2007, S.95]). In der Industrie 4.0 wird sich dies weiter zuspitzen. Abgeleitet von einer rechnerisch möglichen Variantenvielfalt, wie bspw. die auf der Zusammenstellung von 16 Ausstattungsdetails basierenden 654 Billionen verschiedenen Ford F-150 Kombinationen [Russwurm 2013, S.23] oder die aus vier Hauptproduktgruppen hervorgehenden mehreren 100.000 Varianten eines Endproduktes [Post 2012, S.3], steigen in der Industrie 4.0, im gleichen Zuge wie die Variantenvielfalt der zu fertigenden Güter, die Anforderungen an die Funktionalität der zugehörigen Produktionsanlagen. Dabei lässt sich konstatieren, dass die Produktionsanlagen im identischen Maß an Individualität gewinnen werden, wie das zu fertigende Endprodukt. In Bezug auf die CPS der Industrie 4.0 bedeutet dies, dass „im Fertigungsumfeld […] zukünftig zehntausende verschiedener CPS zusammenspielen, die von tausenden von Herstellern konzipiert wurden“...