Unsere Klavierwelt seit 1945
Für die Bundesrepublik bedeutete das Jahr 1945 – auch musikalisch – den Augenblick einer Öffnung zunächst nach dem Westen, allmählich auch nach dem Osten. Vorher, zumal während des zweiten Weltkrieges, hatte man sich nolens volens sehr auf die deutschen Interpreten konzentriert. Oder auf Gäste aus jenen Ländern, die sich mit Deutschland nicht im Kriegszustand befänden. Alfred Cortot kam 1942 zu den »Berliner Kunstwochen« aus Paris nach Berlin und spielte am 31. Mai und am 1. Juni 1942, zusammen mit Wilhelm Furtwängler und den Berliner Philharmonikern, Schumanns a-Moll-Konzert. Ich hörte es und werde es nie vergessen. Vergessen hat das seinem einstigen Kammermusikpartner Cortot übrigens auch der gestrenge Cellist Pablo Casals nicht: Der stolze Spanier machte dem Franzosen nach Kriegsende darum die heftigsten Kollaborationsvorwürfe und duldete keine Ausflüchte.
Es kam damals auch der junge Arturo Benedetti Michelangeli nach Berlin und verblüffte mit der Wiedergabe der Paganini-Variationen von Brahms. Auch Géza Anda kam, als Wunderjüngling. Claudio Arrau, als Berliner Wahlbürger, konzertierte dort ohnehin – und Fischer, Gieseking, Kempff, Erdmann, Backhaus hatte man sowieso…
Das heißt: in den dreißiger Jahren besaß das Musikleben von Berlin immer noch ein beträchtliches Niveau. Zudem fühlte man damals gewiß »eurozentrischer«. Natürlich war es ein Aderlaß, ein beträchtlicher Blut- und Kunstverlust, daß die jüdischen Pianisten ausblieben. Wie oft hatte Furtwängler – dessen späterer »Star« Edwin Fischer wurde – noch in den zwanziger Jahren mit Ossip Gabrilovich, mit Mischa Levitzki und natürlich mit Artur Schnabel musiziert. Im Oktober 1926 sogar mit dem 21 jährigen Wladimir Horowitz (Programm: Bruckner, neunte Symphonie, Liszt, Klavierkonzert A-Dur, Tschaikowski, »Romeo und Julia« – daß es kein Band, keine Platte gibt, wie gern wäre man dabeigewesen!). Übrigens hatte Horowitz offenbar einen solchen Erfolg, daß er im Oktober 1929 immerhin das B-Dur-Konzert von Brahms mit Furtwängler spielen durfte! Sicherlich vermißte, doch das ist eine kaum beweisbare Vermutung, die Berliner Kunstöffentlichkeit während der dreißiger und vierziger Jahre die großen emigrierten jüdischen oder nichtjüdischen Geiger noch schmerzlicher als die Pianisten. Bronislaw Huberman, Fritz Kreisler, Adolf Busch, Nathan Milstein, Mischa Elman: für deren Kunst gab und gibt es keinerlei »Ersatz«, keinerlei Äquivalent.
Das war beim Klavier, wie gesagt, nicht so augenfällig. Eurozentrismus, das traditionsreiche »deutsche« Beethoven-Spiel der Elly Ney, des Wilhelm Kempff, des Edwin Fischer, des Wilhelm Backhaus, auch des Frederic Lamond, die Romantiker und Impressionisten des überwältigend musikalischen Alfred Cortot, des manuell so unheimlich sicheren Walter Gieseking, des Claudio Arrau: das war Anlaß für ein keineswegs unberechtigt traditionsstolzes Kulturselbstbewußtsein.
Nach 1945 fiel die Grenze, die nazistischer Rassismus und Krieg gezogen hatten. Abgesehen von denen, die überhaupt nicht mehr kommen wollten (Rubinstein) oder die zögerten (Schnabel, Horowitz), hörte man nun die neue Weltelite allmählich wieder in Deutschland. Und wer in den fünfziger Jahren, in Paris oder Luzern, Rubinsteins betörend schöner Kunst begegnete – der erschrak vor so viel Herrlichkeit…
Demgegenüber wirkte nun die »deutsche« Schule plötzlich etwas pedantisch, unfrei, provinziell. Pianisten wie Conrad Hansen, wie Detlef Kraus oder Rosl Schmid konnten sich international gegen die Weltelite schwerlich durchsetzen. Vielleicht machten sie auch, von vornherein entmutigt, gar nicht den Versuch dazu. So hat ja damals ein Meisterpianist wie Hans-Erich Riebensahm, dessen philosophisches und schönes Spiel mit der Kunst von Alfred Brendel durchaus zu vergleichen wäre, resigniert auf die Weiterführung seiner Karriere verzichtet. Er hatte, berichten seine Freunde, das Gefühl, die Leute wollten ihn nicht mehr hören – so wurde er Klavierprofessor. Schwer zu entscheiden, ob nach 1945 die subjektiven Grenzen deutscher Klaviertalente oder die gegebene objektive Situation dazu führten, daß die Klavierwelt nicht mehr auf den (alt gewordenen) Typus Edwin Fischer hören wollte, sondern lieber auf Rubinsteins Fülle.
Ein wenig später, Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre, sagte mir ein Freund und Kammermusikpartner von Elly Ney, die greise Pianistin habe lächelnd Beschwerde geführt, »der Herr Kaiser interessiert sich so sehr für die jungen Russen«. Diese »jungen Russen«, das waren 1960 der 45 jährige Swjatoslaw Richter und der 44 jährige Emil Gilels. Für eine 78 jährige Klavierdame mögen das »junge Russen« sein – einem 32 jährigen Musikkritiker fällt die grelle Jugendlichkeit dieser bereits im fünften Jahrzehnt ihres Lebens stehenden Pianisten nicht so sehr ins Auge. Statt dessen eher die Pranke, das Temperament, die orchestrale »Fülle« dieser Spieler aus der russischen Schule – die ja bis heute in der Sowjetunion noch keine gleichermaßen musikalisch-pianistisch beeindruckenden Nachfolger fanden.
Gewiß fühlten sich damals manche deutschen Künstler (zumal die des »guten Durchschnitts«) von der umerzogenen öffentlichen Meinung »den Russen gegenüber« modisch zurückgesetzt. Darauf ließe sich freilich antworten, daß »unsere« unanfechtbar großen Meister – wie Wilhelm Kempff, wie der späte Wilhelm Backhaus, wie der »deutscheste« von allen, nämlich der Chilene Claudio Arrau, wie der Wiener Friedrich Gulda, wie später Alfred Brendel – von solcher Zurücksetzung weder innerhalb noch gar außerhalb der Grenzen unserer Bundesrepublik etwas gespürt haben dürften. Gewiß, hin und wieder, aus Verdruß oder Übermut, flickte man diesen »Großen« in deutschen Feuilletons, Schallplattenzeitschriften oder bei Rundfunk-Interpretationsvergleichen ein wenig am Zeuge. Kempff ärgerte sich über schlechte Kritiken, die er tatsächlich in Tübingen oder Frankfurt eher bekam als in Paris oder Tokio. Backhaus’ männlich gemessenes Brahms-Spiel galt gegenüber dem flammenden Rubinstein-Pathos als etwas zu kühl. Doch das waren modische Kleinigkeiten. Gerade die Autorität der heimischen »Großen« pflegt vor allem junge Musikkritiker zu dergleichen zu provozieren…
Ähnliches mußten also eine Zeitlang Kempff, Fischer, sogar Backhaus aushalten – und es hat die Betroffenen gewiß mehr geärgert als irritiert. Doch mittlerweile begreift die Welt wieder das Gewicht, den geistigen Rang der einstigen deutschen Klavierschule. Auch Artur Schnabel, über dessen Beethoven-Spiel sich nicht ein junger Musikkritiker, sondern vielmehr der alte Rubinstein in seiner Autobiographie mokant-abfällig äußerte (»hat mich mit seiner intellektuellen, ja fast pedantischen Konzeption nie überzeugt«), steht – zumal seine in den dreißiger Jahren eingespielte (erste) Gesamtaufnahme der Beethoven-Sonaten leicht zugänglich ist – als feuriger, die Grenze des Möglichen riskierender Analytiker Beethovenscher Formprozesse an hoher Stelle. Edwin Fischers ekstatische Reinheit, die Magie seiner Übergänge, seiner langsamen Crescendi, wird mittlerweile wieder so geschätzt und gewürdigt wie zu Fischers größter Zeit, die sicherlich nicht erst 1931 begann, als Fischer – 1886 in Basel geboren, später in Berlin Schüler jenes Martin Krause, der auch Rubinstein, Arrau und Kempff unterrichtet hat, also eigentlich der erfolgreichste Lehrer unseres Jahrhunderts war – 45 jährig die nach wie vor herzbewegendste, kühnste und schönste Schallplatteninterpretation der »Chromatischen Fantasie und Fuge« von Bach gelang, die je eingespielt wurde.
Das Jahr 1945 rückte also manches in den Vordergrund, was vorher wenig beachtet oder ausgeschlossen war, und ließ langsam manches zurücktreten, was man bis dahin selbstzufrieden patriotisch gefeiert hatte.
Die zweite Zäsur in der Geschichte der musikalischen Interpretation, etwa zehn Jahre nach 1945, war mindestens ebenso einschneidend. Da setzte sich die Langspielplatte durch. Was vorher seltenes und riesiges Wagnis gewesen: die Einspielung großer Werkzyklen auf Schellackplatten mit 78 Umdrehungen pro Minute, das wurde nun schiere Selbstverständlichkeit. Mittlerweile ist der Markt idiotisch verstopft, hat sich die Industrie tollkühn selbst gefährdet: aber daß eine zwölf Langspielplatten enthaltende Kassette wie beispielsweise Daniel Barenboims Einspielung sämtlicher Mozart-Klavierkonzerte (neben mehreren anderen Gesamteinspielungen dieser Werke) überhaupt angeboten wurde, und zwar zeitweise für unter 50 Mark!, signalisiert eine folgenreiche Veränderung. Es existieren mittlerweile für Interpreten und Musikfreunde Möglichkeiten der Information und der Selbstdarstellung, von denen früher niemand zu träumen wagte, mögen diese Chancen auch infolge unbesonnener Massenproduktion sich zum Alptraum derjenigen verdichtet haben, die verzweifelt fragen, warum die Produzenten Hunderter von Bruckner-, Wagner-, Mahler-, Bach-, Beethoven-Kassetten nicht auch die Lebenszeit produzieren und feilbieten, die nötig wäre, sich durch diese Tonberge hindurchzuarbeiten.
Die Chance der Langspielplatte existiert erst seit Mitte der fünfziger Jahre. Daß, beispielsweise, der Ruhm von Furtwängler und Solomon sich so relativ langsam herstellen, wiederherstellen ließ, hängt mit diesem Datum und dem Datum zusammen, an welchem diese beiden Genies aufhören mußten zu produzieren. Furtwängler starb 1954: Die Möglichkeiten der Langspielplatte kamen für ihn – alles in allem – zu spät. Solomon mußte krankheitshalber 1956 aufhören: Die meisten mittlerweile so geschätzten Solomon-Aufnahmen sind Umschnitte von...