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E-Book

Die Moltkes

Biographie einer Familie

AutorOlaf Jessen
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl477 Seiten
ISBN9783406616730
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Olaf Jessen erzählt in seinem glänzend geschriebenen Buch aus dem Leben der Familie von Moltke, die wie keine andere in Militär und Politik die deutsche Geschichte geprägt hat. Zur Sprache kommen dabei auch die Frauen, von der Hofdame Königin Luises bis zu der kürzlich verstorbenen Widerstandskämpferin Freya von Moltke. Die Moltkes haben über sieben Generationen, vom Zeitalter Napoleons bis in unsere Gegenwart, eine führende Rolle gespielt: als Schlachtensieger und gescheiterte Weltkriegsstrategen, demokratische Regierungschefs und Innenminister des Kaisers, homosexuelle Komponisten und patriarchalische Gutsbesitzer, Botschafter des NS-Regimes und Widerstandskämpfer gegen Hitler, Investmentbanker in New York und Visionäre eines geeinten Europa. Helmuth von Moltke, der Sieger von Königgrätz und Sedan, wurde zur Ikone des Kaiserreichs, der Widerstandskämpfer Helmuth James von Moltke zur Identifikationsfigur einer demokratischen und weltoffenen Bundesrepublik. Olaf Jessens meisterhaftes Porträt des Adelsgeschlechts ist daher mehr als eine spannende Familiengeschichte: In den Moltkes spiegelt sich die preußische und deutsche Geschichte und das sich wandelnde Selbstverständnis einer Nation.

<p>Olaf Jessen, Dr. phil., geb. 1968, Historiker und Publizist, lebt in Schleswig- Holstein. Von ihm erschienen sind zahlreiche Ver&ouml;ffentlichungen zur preu&szlig;ischen und deutschen Geschichte.</p>

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Leseprobe

ERSTES KAPITEL

Am Anfang war Napoleon


Die Erfindung der Nation


Inmitten hinterpommerscher Weite rollt ein Zweispänner auf den Hof des Rittergutes Haseleu. Ein Herbststurm ist aufgezogen. Am Fuße der großen Freitreppe zügelt der Kutscher die Pferde. Unruhig tänzeln die Tiere. Zwei Offiziere springen aus dem Wagen. Während der eine, in seinen Mantel gehüllt, sich durch Auf- und Abgehen zu wärmen versucht, fliegt der andere die Stufen hinauf. Endlich kann er die Verlobte, siebzehn Jahre jung, umarmen. Sein Bild ziert landauf, landab Teller, Tassen, Tabakspfeifen und sogar Torten. Über seine Husarenstreiche redet man in Bauernstuben, Wachlokalen und Schenken. Hundertfach wandern Anekdotensammlungen von Hand zu Hand. Schuljungen ahmen seinen Haarschnitt nach. Mädchen sind stolz darauf, mit ihm zu tanzen. Wo er auftritt, läuft das Volk zusammen. Vor zwei Tagen ist er an der Spitze seines Husarenregiments in Treptow aufgebrochen. Nach dem Willen des dankbaren Herrschers soll er mit den Husaren die Hauptstadt als Erster wieder besetzen. Weil König Friedrich Wilhelm, der Besiegte, Wohlverhalten zeigt, hat Napoleon, der Sieger, ein Jahr nach dem Diktat von Tilsit seine Truppen aus Berlin abgezogen. Der Husarenmarsch wird zum Triumphzug. Kommen die Reiter in Dörfer oder Städte, läuten allerorts die Kirchenglocken. Der Besucher in Haseleu ist Preußens berühmtester Soldat: Ferdinand Baptista von Schill, zweiunddreißig Jahre alt, mehr Haudegen denn Stratege, «ein kleiner, untersetzter Kerl mit prächtigem Schnurrbart».[1]

Im Salon des kleinen Herrenhauses sagen die Verlobten einander Lebewohl. Die Hochzeit muss warten. Schill plant Unerhörtes: Er will einen Aufstand gegen Napoleon entfesseln; ein letzter Blick, dann fährt er ab, die Verlobte am offenen Fenster winkt mit dem Taschentuch. Da betritt ihre Mutter den Raum. Wind greift ins Zimmer, schlägt das Fenster zu, ein Säbel fällt von der Wand und stürzt klirrend zu Boden. «‹Oh, Mutter, sieh›, Schills Säbel, den er mit dem Vater tauschte, er fiel von der Wand, im Augenblick, als ich ihn unter den Bäumen verschwinden sah. Ach, er wird fallen in diesem Kampf, den er so glühend heraufbeschwört, ich werde ihn nimmer wieder sehen.›»[2]

So jedenfalls berichtet es ein Zeitgenosse achtundsechzig Jahre nach dem Abschied der Verlobten. 1876, fünf Jahre nach der Gründung des Kaiserreiches, steht der Schill-Kult immer noch in voller Blüte. Mit dem Schicksal der Moltkes ist der lange Ritt des Ferdinand von Schill über das Grab hinaus verwoben: Ein Moltke kämpft für Schill, ein anderer steht auf Seiten von Schills Feinden. Und ähnlich wie bei der Ikone des Kaiserreiches, Feldmarschall Moltke, oder einer Hauptfigur bundesdeutscher Tradition, Helmuth James Graf Moltke, hat die Verklärung Schills vor allem mit Überpersönlichem zu tun: mit Preußen, mit Frankreich – und mit der Idee einer deutschen Nation.

Nationen sind nichts Selbstverständliches. Sie beruhen weder auf Rasse, Sprache und Religion noch auf Interessen oder angeblich «natürlichen» Grenzen. Jede Nation ist Idee. Wird diese Idee nicht mehr gedacht oder gewollt, erlischt die Nation.[3] Auf Ideen muss man kommen. Vorbedingung für die Erfindung der Nationen in Europa waren handfeste Umwälzungen: die Bevölkerungsexplosion seit Mitte des 18. Jahrhunderts, die Anfänge der Industriellen Revolution, der Sieg über Zeit und Raum – etwa die Verdichtung des Straßennetzes oder der Durchbruch neuer Medien wie Zeitungen und Zeitschriften. Im Gefolge dieser Veränderungen entwickelten sich als Grundursache für die Erfindung der Nation drei Wertekrisen. Eine Krise des politischen Systems: Die Umwälzungen zwangen zur Straffung und Erweiterung von Durchgriffsmöglichkeiten staatlicher Gefüge. Eine Krise der Machtteilhabe: Der Aufstieg des Bürgertums bedrohte alte Führungsschichten. Eine Krise der Machtbegründung: Entchristianisierung und Aufklärung schwächten die Bindekraft von Gottesgnadentum und Traditionen. Anfangs bestimmte lediglich eine Handvoll Gelehrter den Ideenhaushalt der Nationen – Professoren, Theologen, Schriftsteller, Offiziere –, einflussreiche Männer der Feder wie Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller, Johann Gottlieb Fichte und Ernst Moritz Arndt, Gerhard Scharnhorst und August Neidhardt von Gneisenau. Ihr Schreibtisch-Nationalismus antwortete vor allem auf die Krise der Machtbegründung, denn er bot ersatzweise eine Art Säkularreligion. Deren Vaterunser umfasste Denkfiguren wie die «historische Mission», das «auserwählte Volk», die «Todfeinde», das «heilige Vaterland».[4] Den Weg der Nationsidee aus den Studierstuben in die Herzen der Massen bahnte in Deutschland Napoleon – ungewollt freilich; denn Krieg, Invasion und Ausplünderung weckten vielerorts den Willen zur Selbstbehauptung. Das entschärfte vorläufig die Krise der Machtteilhabe. Unter französischer Besatzung verlegte das bürgerliche Denken den Schwerpunkt von der inneren auf die äußere Freiheit.[5] Zugleich suchten reformfreudige Beamte in Preußen und in den Staaten des «Rheinbundes», einer Schöpfung Napoleons, die Krise des politischen Systems zu überwinden. Sie setzten auf Vereinheitlichung, Straffung und Verrechtlichung von Regierungen und Behörden. Ihre Reformen beschleunigten den Weg vom monarchischen zum bürokratischen Absolutismus, die Entwicklung von der Selbstherrschaft des Monarchen zur Herrschaft der Beamten im Namen des Königs.

Vor dieser Kulisse begann die Suche nach jenem wabernd Wechselhaften, das unsere Gegenwart «deutsche Identität» zu nennen pflegt. Man sammelte – oder erdichtete – Märchen, Mythen und Volkslieder, entdeckte das Mittelalter, beschwor Volksgeister und Walhall, Minne und Walküren. Des Knaben Wunderhorn erschien. Fouqué, nicht Goethe war der meistgelesene Autor in Deutschland. Kurzum: Die politische Romantik dämmerte herauf. Sie besang das große Miteinander von Oben und Unten, den Heiligen Krieg des Völkerhasses, liebte das Gefühl, misstraute dem bloßen Verstand. Was Preußen betraf, kamen Bürgertum und Monarchie sich sozusagen romantisch näher. Im Zeitalter der Aufklärung hatte preußischer Absolutismus noch bedeutet: Offiziersadel und Königsheer. Die Kluft zwischen Zivil und Militär entsprach dem geistigen Abstand zwischen Bürger und Krone. Im Zeitalter der Romantik, so hofften manche, würde preußisches Königtum bedeuten: Leistungsadel und Volksheer. Fortan würde jeder Soldat ein Bürger und jeder Bürger auch Soldat sein. Nicht die Nation findet ihre Nationalisten; Nationalisten erschaffen sich ihre Nation.

Einer wie Schill passte bestens in die sich wandelnde Epoche, in die Zeit der Frühromantik und der Wertekrisen. Er war adeliger Offizier des Königs, galt aber als volksnah ohne eine Spur von Standesstolz. Und nur Schill konnte offenbar dem «Todfeind» wenigstens ein Schnippchen schlagen. Unzählige Flugschriften überhöhten seine Taten: Er allein hatte 1807 während des Kleinkriegs um die Festungsstadt Kolberg sechs Franzosen getötet, war über einen unfassbar breiten Graben geritten, hatte dutzende Verwundungen erlitten. Schill entschwebte schon zu Lebzeiten in mythische Gefilde. Von Ferne erinnert sein Ruf an den Mythos des Retters, der in Frankreich den Aufstieg Bonapartes beflügelt hatte. Nicht zufällig galt er als Gegenbild des hochmütigen, bürgerfeindlichen Junkers. Schill «verschwendete kein Geld, machte keine Schulden, spielte nicht und sah nicht Alles, was keinen Federbusch trug, über die Achsel an».[6] Außerdem soll er in Kolberg, während ringsherum alle Festungen die Waffen streckten, gemeinsam mit Nettelbeck und Gneisenau das erste Bündnis zwischen Bürger und Soldat geschmiedet haben, ein Stern in Wetterwolken, der den Weg in eine bessere, sprich: nationale Zukunft wies – eine Legende, von Gneisenau gezielt verbreitet, der im preußischen Offizierskorps vielleicht am glühendsten die Nationalidee vertrat.[7] Mit seinem Gespür für Menschenführung und Massenpropaganda befeuerte Gneisenau den Kult um Schill. Dadurch könne man die Bevölkerung leichter für eine Erhebung gegen Napoleon gewinnen.

Und tatsächlich: 1809 wagt Schill ohne Befehl des Königs, lediglich im Namen der «Nation», den Versuch zum Aufstand – ein bis dahin unerhörter Vorfall! Schill aber ist kein Einzelgänger. Er handelt als Teil einer Verschwörung, in die hohe Offiziere ebenso verwickelt sind wie leitende Beamte. Sie wollen den Monarchen in einen Krieg gegen Napoleon drängen.[8] Am 28. April 1809 verlässt Major Ferdinand Baptista von Schill an der Spitze seines Husarenregiments die Garnison Berlin, angeblich für ein Manöver. Seine Vorhut befehligt Leutnant Friedrich Franz Graf von Moltke. Die Familie des Leutnants leistet dem preußischen Königspaar Hofdienste. Der Hofdienst, in Europa schon seit Jahrhunderten dem Adel vorbehalten, umfasst zeremonielle, wirtschaftliche oder gesellige Aufgaben, ist an Ehrenämter und Tätigkeiten in der Hofverwaltung geknüpft. So...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Inhalt5
Wahlspruch der Moltkes9
Einleitung11
Erstes Kapitel: Am Anfang war Napoleon – Die Erfindung der Nation15
Idee der Nation16
Schill und die Moltkes18
Merkmale der Adeligkeit23
Strietfeld und Toitenwinkel25
Die dänischen Moltkes26
Die Moltkes in Mecklenburg28
Friedrich Philipp von Moltke31
Armee und Aufklärung34
Henriette Paschen37
Güterspekulation40
Wechsel in dänische Dienste42
Zweites Kapitel: Bildungshunger – Jenseits der Nationen45
Krater «Moltke»45
Moltke und Preußen46
Kopenhagen49
Im Dienst der Hohenzollern53
«Demokratische» Wehrpflicht?57
Ursprünge des Generalstabs59
Jurist wider Willen61
Geschwisterliebe62
John Burt: «landed gentleman»64
Hofdame in der Provinz68
Drittes Kapitel: Unter dem Halbmond – Nation im Spiegel73
Sekb?n-ï-?ed?d75
In den Gassen von Stambul77
«Volkskrieg» in Kurdistan81
Schlacht bei Nizib84
«Briefe aus der Türkei»87
Viertes Kapitel: Familienkongress – Zwischen den Nationen89
Vormärz89
Romantisches92
Schleswig und Kiel95
«Hotel Burt»99
Mary Burt104
Louis und Mie von Moltke111
Heirat in Itzehoe112
Fünftes Kapitel: Revolution – Aufbruch der Nationen115
«Offener Brief»116
Deutsche Kanzlei118
Aufruhr und Erhebung121
Familie zwischen den Fronten126
Landesversammlung129
Gemeinsame Regierung131
Berliner Mission132
Sechstes Kapitel: Reaktion – Scheitern der Nation135
Administrator in Rantzau137
Fritz von Moltke140
Nachkriegszeit142
Helmuth und die Revolution145
Siebentes Kapitel: Alsen – Verunsicherung der Nation151
Helmuth und Marie von Moltke153
Adjutant des Prinzen von Preußen157
Tod des Squires159
Chef des Generalstabs161
Wandel des Kriegsbilds162
Verfassungskonflikt164
Krieg von 1864166
Waffenstillstand170
Eroberung von Alsen174
Frieden von Wien177
Achtes Kapitel: Zwei Kriege – Gründung des Nationalstaats181
Schlacht bei Königgrätz181
Landrat von Pinneberg189
Tod Marie von Moltkes191
«Kriegsrat» 1870195
Industrialisierter Volkskrieg199
Neuntes Kapitel: Moltke-Kult – Selbstbild der Nation205
Olympische Höhen205
Via triumphalis208
Moltke als Erinnerungsort210
Anton von Werner213
«Generalstabs-Familie»218
Nichten und Neffen221
Tod des Feldmarschalls229
Zehntes Kapitel: Wilhelminisches – Licht und Schatten der Nation235
Wandel des Nationalismus237
Kreisau: ein Wallfahrtsort241
Kampf um das Erbe245
Der nervöse Neffe247
Im Umkreis Rudolf Steiners250
«paying guests»253
Ernennung zum Chef des Generalstabs254
Die Wende: Dorothy von Moltke258
Elftes Kapitel: In den Abgrund – Katastrophe der Nation263
Moltke-Harden-Prozess263
Fin-de-siècle-Stimmung269
«Germanentumund Slawentum»273
Innenminister von Moltke275
Expedition in die Antarktis278
Scheitern der Wahlrechtsreform281
Zwölftes Kapitel: Marne – Niederlage der Nation283
«Kriegsrat» 1912285
Moltke in der Julikrise287
Oberpräsident von Schleswig-Holstein292
Entlassung Helmuth von Moltkes295
Kreisau im Krieg298
Deutsche Gesellschaft 1914301
Revolution in Kiel302
Dreizehntes Kapitel: Kreisau und Wernersdorf – Krise der Nation307
Familienärger307
Moltke-Marne-Debatte313
Gemischte Kommission317
Davida von Moltke318
Helmuth James von Moltke319
Krise in Kreisau323
Freya von Moltke326
«In einem Irrenhaus»329
Vierzehntes Kapitel: Widerstand – Verbrechen im Zeichen der Nation331
Nichtangriffspakt333
Tod Dorothy von Moltkes335
Auf demObersalzberg336
Polens «Schuld» am Krieg339
Am Quai d’Orsay340
Helmuth James versus Hans-Adolf von Moltke343
Botschafter in Madrid347
Volksgerichtshof351
Fünfzehntes Kapitel: Weltfamilie – Wandlung der Nation355
Stunde der Frauen355
«Entnazifizierung»363
Wahrnehmung des Widerstands366
«Moltke macht Schule»369
Das neue Kreisau370
«Auferstehung»373
Schluss375
Anhang383
Stammtafel384
Anmerkungen386
Quellen und Literatur440
Bildnachweis464
Personenregister466

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