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Der letzte Zar

Der Untergang des Hauses Romanow

AutorGyörgy Dalos
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl232 Seiten
ISBN9783406713682
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
In der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 1918 wurde Zar Nikolaus II. mit seiner Frau und der gesamten Familie von einem Kommando der Tscheka in Jekaterinenburg ermordet. Der Alptraum aller Monarchien, der sich in Aufständen, Verschwörungen und Attentaten schon angedeutet hatte, war Wirklichkeit geworden. In dieser historisch fundierten, lebendigen Darstellung wird deutlich, wie das beständige politische Versagen der Romanow-Dynastie den revolutionären Prozess befeuert hat, den der letzte Zar nicht mehr aufhalten konnte. György Dalos – einer der international profiliertesten Publizisten auf dem Feld osteuropäischer Geschichte – entwirft ein scharf konturiertes Bild der Zaren im 19. Jahrhundert, ohne die Ursachen für die Nöte der Arbeiter und Bauern zu vernachlässigen. Als Nikolaus II. 1894 den Thron besteigt, erweist er sich als unfähig, der vielfältigen Probleme in seinem riesigen Reich Herr zu werden. Katastrophen, Krieg und persönliches Leid, die der Autor eindrücklich schildert, verunsichern den schwachen Herrscher zutiefst, an dessen Hof schließlich der Wanderprediger Rasputin immer größeren Einfluss gewinnt. Als Nikolaus zu Reformen ansetzt, ist es zu spät. Der erfolglos geführte Erste Weltkrieg drängt den Zaren immer weiter in die Defensive, bis er und das Haus Romanow im reißenden Strom der bolschewistischen Revolution untergehen.

György Dalos ist freier Autor und Historiker. 1995 wurde er mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet. 2010 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

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Leseprobe

KAPITEL 1

Einleitung


Die Dynastie Romanow, wichtige Protagonisten ihrer mehr als dreihundert Jahre währenden Herrschaft, einzelne Zarinnen und Zaren sowie schließlich das Ende ihrer Ära sind in schier endlos vielen Büchern beschrieben worden – von klassischen historischen Arbeiten bis hin zu primitiven Kolportagen. Seit der Erfindung der Filmkunst kamen zahlreiche Stumm- und Tonfilme hinzu, deren Spektrum ebenfalls von höchstem Niveau bis hin zu kitschigen Schinken reichte. Insbesondere das Schicksal der letzten Vertreter des Hauses, vor allem von Zar Nikolaj II. und seiner Frau, der hessisch-darmstädtischen Großherzogin Alexandra, beschäftigt bis heute die literarische, künstlerische und handwerkliche Phantasie von Autorinnen und Autoren. Dabei ging es nicht allein um die bestialische Ermordung der engeren Familie mitsamt den Teilen der Dienerschaft, die ihnen die Treue gehalten hatten. Letztendlich wurden von den 65 Mitgliedern des Herrscherhauses 18 von den bolschewistischen Machthabern umgebracht und 46 ins Exil gezwungen. Wir kennen nur einen Großfürsten, dem es möglich war, dem Gefängnis zu entkommen und das Land zu verlassen: Dank eines lebensrettenden Briefs von Maxim Gorkij an Lenin kam Gavriil Konstantinowitsch frei, wobei er bis zu seiner Ausreise nach Finnland sogar die Gastfreundschaft des weltberühmten Schriftstellers genießen durfte.

Das, was mit dem Zarenpaar und seinen Kindern in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 in Jekaterinburg geschah, lässt bis heute dem russischen historischen Gedächtnis keine Ruhe. Auf der einen Seite suchte die sowjetische Publizistik, um die Untat zu rechtfertigen, ein diabolisches Bild von «Nikolaj dem Blutigen», der Quelle allen Übels, zu zeichnen und dabei wichtige Nebenumstände des Massakers zu verschweigen bzw. zu tabuisieren.[1] Auf der anderen Seite dominierte in der Exilliteratur die Tendenz, das tragische Ende der Familie Romanow rückwirkend als Nachweis ihrer beinahe heiligen Tugenden herauszustellen. Eher westlich orientierte Autoren waren bemüht, eine ausgewogene Analyse der Laufbahn von Russlands letztem Herrscher «aus Gottes Gnaden» zu leisten. Was ihre Arbeit erschwerte, war die mangelhafte Quellenlage. Obwohl die dicken Bände des von dem weißen Admiral Koltschak nach Jekaterinburgs Eroberung ernannten Untersuchungsrichter Sokolow sowie die Erinnerungen von Zeitzeugen manche Lücke füllten, konnten aufgrund der Einseitigkeit etlicher Aussagen viele kardinale Fragen nicht beantwortet werden, darunter etwa solche nach den Entscheidungsmechanismen der bolschewistischen Zentrale. Diese wurden auch nach 1991, dem Jahr der Öffnung sowjetischer Archive, nicht hinreichend aufgeklärt.

Die in Putins Russland mit starker kirchlicher Deckung betriebene Kanonisierung des ermordeten Zaren als «Märtyrer» stößt nicht nur auf meine Skepsis als Agnostiker, sondern lässt in mir auch andere dunkle Zweifel aufkommen. Zunächst einmal ist es aus meiner Sicht nicht zulässig, das Ehepaar Romanow, praktizierende Antisemiten, die ihre geistige Nahrung sogar noch in Jekaterinburg in den «Protokollen der Weisen von Zion» suchten und fanden, in einer Reihe mit dem Juden Jesus Christus zu nennen. Zweitens: Was heißt in diesem Falle «Märtyrer»? Märtyrer zu sein bedeutet für mich etwas Überzeugenderes, als die eigene Herrschaft «aus Gottes Gnaden» zu vertreten, eine Herrschaft, an deren Untergang das Zarenpaar zudem nicht ganz unschuldig war. Wenn schon unbedingt Märtyrer genannt werden sollen, dann müssen die politisch Unschuldigen wie Hofdamen, Köche, Leibärzte und andere aufgezählt werden, die freiwillig das Los ihrer Herrschaften geteilt haben. Auch die Hauslehrer Gilliard oder Gibbs, der Küchenjunge Ljonja Lednew oder die Hofdame Wyrubowa wären Märtyrer ihrer eigenen Treue geworden, wenn die Täter sie aus verschiedenen Gründen nicht daran gehindert hätten. Unschuldige Opfer waren die fünf Kinder der Zarenfamilie. Opfer waren alle Toten von Jekaterinburg, und was den Zaren und die Zarin betraf, seit ihrer Verhaftung sogar in doppeltem Sinne: als Personen der Öffentlichkeit, die keine Rolle mehr spielten und die zu keiner Zeit von irgendeiner Instanz einer juristischen Schuld bezichtigt wurden.

Wird eine Epoche beerdigt,
Tönt kein Psalm übers Grab,
Brennnesseln, Disteln
Werden den Hügel verziern.
Den Totengräbern im Zwielicht
Geht’s von der Hand. Und es eilt.
Mein Gott, wie die Stille wächst –
Man hört die Zeit vergehn.

ANNA ACHMATOWA

Seinen Zenit als Großmacht hatte das Zarenreich mit dem Sieg über Napoleon und der Schaffung der Heiligen Allianz während des Wiener Kongresses erreicht. Im Jahre 1815 galt Zar Alexander I. als Retter Europas vor der «französischen Gefahr», die alle Monarchen «aus Gottes Gnaden» seit 1789 in Panik hielt. Unter anderem war jede Rückkehr eines Herrschers aus dem Haus des Parvenüs Bonaparte nun streng untersagt. Obwohl Fürst Metternich, Österreichs Außenminister, der Spiritus Rector der als «ewiger Frieden» konzipierten feudalen Restauration war, war es die militärische Stärke Russlands, welche dieser Rückwärtsbewegung die erforderliche physische Energie verlieh. Allerdings erwies sich die Struktur der Allianz als unvollkommen. Einerseits blieb das nichtchristliche Osmanische Reich ausgegrenzt, andererseits sah Großbritannien keinen Grund, sich an eine kontinentale Koalition zu binden.

Außerdem konnte das Bündnis der Ewiggestrigen weder die bürgerliche Entwicklung noch die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen wirksam aufhalten. 1830 fegte eine Revolution in dem inzwischen der Heiligen Allianz beigetretenen Frankreich die Bourbonen hinweg und setzte auf Ludwigs Thron den «Bürgerkönig» Louis Philippe, der ausgerechnet auf die französische Verfassung seinen Eid ablegte. In den 1830er Jahren erlangte Belgien die nationale Unabhängigkeit, und Griechenland kämpfte, gestützt von der ungeteilten Solidarität Europas, gegen die Osmanenherrschaft. Russisch-Polen startete einen Aufstand gegen St. Petersburg, der nur mit Mühe niedergeworfen werden konnte. In Preußen herrschten Ideen des Vormärz, gefordert wurden ein bürgerliches Parlament und die nationale Einheit, und in Ungarn, wo der Landtag ursprünglich loyal gewesen war, ging er zu offenem Widerstand gegen die Habsburger über. Die aufgeklärte Elite forderte «französische» Reformen wie die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Abschaffung der Zensur. Radikale Strömungen deutscher Exilarbeiter in Frankreich baten die schreibkundigen Bürgersöhne Karl Marx und Friedrich Engels, für sie ein leicht lesbares Programm der «sozialen Revolution» zu erarbeiten. Die schmale Broschüre mit dem legendären Titel «Manifest der kommunistischen Partei» erschien im Februar 1848 bei einem namenlosen Londoner Verlag.

Durch seine diplomatischen und geheimdienstlichen Quellen war Zar Nikolaj I. natürlich bestens aufgeklärt über die aus dem Westen drohenden Gefahren. Er wusste, dass viele seiner Offiziere, die sich im Krieg gegen Napoleon heldenhaft ausgezeichnet hatten, vom Virus einer freieren und zivilisierteren Ordnung infiziert waren. Um eine liberale Monarchie in Russland einzurichten, versuchte ihre kleine, nach dem Vorbild der Freimaurer strukturierte Organisation sogar, mit einem Aufstand seine Inthronisierung im Dezember 1825 zu verhindern. Dieser Vorstoß der Adeligen, die nach dem Zeitpunkt des Aufruhrs «Dekabristen» (Dezemberleute) genannt wurden, scheiterte jedoch und zog mehrere Hinrichtungen und Hunderte von Verbannungen nach sich – die Verhöre führte der Zar höchstpersönlich. Wichtiger als sein Rachegefühl war die Angst vor Nachahmern dieser ersten Wagemutigen.[2] Deshalb stoppte er sogar Reformen, die sein Vater Alexander I. noch hatte einführen wollen, darunter einige Erleichterungen für die Leibeigenen, die immerhin 80 Prozent der bäuerlichen Bevölkerung ausmachten. Er verstärkte landesweit die Bespitzelung durch die Geheimpolizei und verhärtete die Zensur. In Ausnahmefällen wie dem von Alexander Puschkin, dessen Genialität ihn beeindruckte, übte er nach dessen zeitweiliger Verbannung in den Kaukasus persönlich die Rolle des ersten Zensors aus.[3]

Im Unterschied zu anderen europäischen Staaten, in denen die nachhaltige Wirkung der Französischen Revolution nie mehr ganz rückgängig gemacht werden konnte, gab es im Russischen Reich mit seinen staatlich-militärisch-kirchlichen Strukturen nicht viel zu restaurieren. Die intellektuelle Schicht konnte nur ein zahlenmäßig ganz geringes Publikum erreichen in einem Imperium, das zu mehr als 99 Prozent aus Analphabeten bestand – ein Phänomen, das die privilegierten Schichten...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Zum Buch232
Über den Autor232
Impressum4
Widmung5
Inhalt7
Kapitel 1: Einleitung9
Kapitel 2: Chodynka – eine gescheiterte Reifeprüfung19
Kapitel 3: Krieg mit Japan39
Kapitel 4: Allein mit der Revolution61
Kapitel 5: Dynastie oder Familie – eine griechische Tragödie81
Kapitel 6: Eine gefährliche Freundschaft im Vorfeld des Krieges97
Kapitel 7: Zarenalltag mit Schlüsselfigur111
Kapitel 8: Der Zar in der Julikrise135
Kapitel 9: Der ratlose Kriegsherr149
Kapitel 10: Der Sturz169
Kapitel 11: Die Tragödie des Bürgers Romanow185
Anhang209
Anmerkungen211
Literatur223
Bildnachweis224
Personenregister225

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