Deuteronomium 4,13 und der Horebbund
Der Bundesschluss am Horeb im Deuteronomium
27 Im synchron gelesenen Deuteronomium erzählt Mose dreimal vom Bundesschluss am Horeb, in Dtn 4, 5 und 9–10.1 Dabei führt er den Geschehensverlauf jeweils ein Stück weiter, verdeutlicht bisher nur kurz Erwähntes und gestaltet es szenisch aus. Die literarische Technik dieses auf Buchebene gestaffelten Erzählens zeigt sich vor allem an der systematischen Benutzung gleich lautender bzw. bewusst variierter und schrittweise ergänzter Formulierungen.2 Weil die Vorgänge den Zuhörern Moses aus eigenem Erleben bereits bekannt sind, es also nicht um Information über noch Unbekanntes geht, kann Mose jeweils nur jene narrativen Elemente auswählen, die für den Erzählzusammenhang relevant sind.
Zum ersten Mal blickt Mose auf die Horeboffenbarung zurück, sobald er in 4,5 die Situation einer Kundgabe und Übernahme der Gesetze konstituiert hat.3 In den V.10–14 resümiert er die Ereignisse am Horeb, die diesen vorbereitenden Rechtsakt des Deuteronomiumgeschehens begründen. Damals hatte ihn Gott aufgefordert, Israel zu versammeln. Das Volk war an den Berg herangetreten, der bis in den Himmel loderte. Mitten aus dem Feuer hatte Gott gesprochen und „seinen Bund verkündigt“. Er hatte Israel auf die „Zehn Worte“ verpflichtet und ihren Text niedergeschrieben. Außerdem hatte er Mose beauftragt, das Volk „Gesetze und Rechtsentscheide“ zu lehren. Der Dekalog selbst wird noch nicht gebracht, auch keine Gesetze, die Übergabe der Steintafeln wird noch nicht erwähnt. 28
Den Dekalog teilt Mose erst in Kapitel 5 mit.4 Ehe er aber seinen Wortlaut wiedergibt, spricht er vom Bundesschluss, dem der Dekalog als Urkunde dient, und beschreibt seine eigene Rolle innerhalb der theophanen Szenerie (V.2–5). Dann erst lässt er Gott den Dekalog sprechen (V.6–21) und informiert über die Ausfertigung sowie – damit Kapitel 9 antizipierend – über die Aushändigung der Tafeln (V.22). Mit der unmittelbar anschließenden Szene ruft Mose in Erinnerung, wie es dazu kam, dass ihm Gott „das Gebot, die Gesetze und Rechtsentscheide“ mitteilte und ihm auftrug, sie Israel zu lehren. Das ganze juristische „Protokoll“ der Horebereignisse5 mündet am Ende in die direkte Ermahnung Israels, den Dekalog zu befolgen – nämlich nur auf dem Weg zu gehen, den JHWH Israel vorgeschrieben hat (V.32f)6.
Die dritte Erzählung vom Bundesschluss findet sich in den Kapiteln 9–10.7 Sie setzt sofort mit der Entgegennahme der Dekalogtafeln durch Mose ein und stellt dann – anknüpfend an das Bild des „Abweichens vom Weg“, das die zweite Horeberzählung abschloss – von 9,12 an breit dar, was Kapitel 4 und 5 noch unerwähnt gelassen hatten: dass Israel sich ein Kalb gegossen, Mose deshalb die Tafeln zerschmettert und dadurch den Abschluss des Bundes verzögert hatte, dass aber Gott auf die Versöhnungsaktionen Moses hin eingelenkt und neue Tafeln mit dem bereits zitierten Dekalog beschrieben hatte, die in der Lade deponiert wurden.
Diese drei Fassungen machen deutlich, dass Mose über die Horeboffenbarung bewusst in Etappen erzählt. Die Texte sind – trotz literarhistorischer Mehrschichtigkeit – im Endeffekt Teile eines intratextuellen 29 Beziehungssystems. Sie interpretieren und ergänzen sich gegenseitig.8 Im Lesegefälle des Buches bildet der erste historische Rückblick in 4,10–14 einen „Vorentwurf der kommenden Vollerzählung“9. Kapitel 5 entfaltet und verdeutlicht dann die in 4,10–14 noch sehr komprimierten, aber für eine präzisierende Darlegung offenen Aussagen. Im Folgenden untersuche ich auf der Endtextebene, wie die Verse 4,12f innerhalb des Textzusammenhangs der Horeberzählungen den Bundesschluss interpretieren. Die Theophaniephänomene (V.11) und den Auftrag, den Mose für den Vortrag der Gesetze erhält (V.14), klammere ich aus. Von hoher Bedeutung ist zunächst die Frage, wie 4,13 eigentlich zu übersetzen sei.
Zur Übersetzung von Dtn 4,12–13
Der JHWHs, den Israel am Horeb hörte, tritt 4,12 zufolge deutlich zu den Begleitumständen der Theophanie, die V.11 anführt, hinzu und unterscheidet sich von ihnen. Die Übersetzungen geben durch „Schall von Worten“ bzw. Äquivalente wieder, die Einheitsübersetzung durch „Donner der Worte“10. Sie werden damit der V.12 eigenen Bezeichnung nicht gerecht. Es handelt sich um artikulierte Worte Gottes, deren Lautstärke betont wird. Der Gegensatz wäre Flüstern von Worten, wären unhörbare Worte.11 Die gleiche Formulierung findet sich auch in 5,28, wo Gott „die Stimme, die Worte“ hörte, die das Volk zu Mose sprach – bzw. .12 Analoges gilt für 4,12. Die Verse 10 und 13, ferner V.15, 33 und 36 setzen voraus, dass die Israeliten den Wortlaut der Rede JHWHs hörten 30 und verstanden. Nur unter dieser Voraussetzung können sie ja die , die „Zehn Worte“, verwirklichen, wie Gott nach V.13 befiehlt. Die Horeboffenbarung erging also nach 4,1–40 in verständlichen Worten. V.12 ist dann wie folgt wiederzugeben:
JHWH sprach zu euch mitten aus dem Feuer:
Lautstark geäußerte Worte habt ihr gehört,
doch eine Gestalt habt ihr nicht gesehen,
nur Donnerstimme war da.
Keine der übrigen Theophanieschilderungen unterstreicht so explizit die „Transzendenz“ der Gestalt JHWHs, die, verhüllt von Finsternis und Wolkendunkel (V.11), nur akustisch aus dem Feuer manifest ist. Mose wird daraus im Folgenden das Kultbilderverbot ableiten (V.15–18).13 V.13 sagt am Anfang, dass JHWH seinen „Bund“ verkündigte, und am Ende, dass er den Dekalog auf zwei Steintafeln niederschrieb. Das Problem dieses Verses bildet das Mittelstück (V.13aβ):
Von der Septuaginta angefangen verstehen die Übersetzungen und in ihrem Gefolge die Kommentare bis heute unter dem „Bund“, den JHWH am Horeb verkündigte, den Dekalog. „Bund“ sei gewissermaßen der Name des Dekalogs. Das ergibt sich aus einer Satzgliederung, wie sie die masoretischen Akzentzeichen nahe legen können. Sie trennen nämlich , die „Zehn Worte“, durch ein Zaqef parvum vom Infinitiv , „zu halten“, und damit von dem mit an angeschlossenen Satz. So erscheinen die „Zehn Worte“ als eine Apposition in Fernstellung zu , „seinen Bund“. Die Einheitsübersetzung zum Beispiel sagt:
Der Herr offenbarte euch seinen Bund,
er verpflichtete euch, ihn zu halten:
die Zehn Worte.
Er schrieb sie auf zwei Steintafeln. 31
Norbert Lohfink, von dem diese Übersetzung stammt, hat jetzt allerdings selbst gegen sie zu bedenken gegeben:
„Wie man auch konstruiert, es scheint eine Breviloquenz vorzuliegen. Hifil fordert als Objekt einen Redeinhalt oder einen Text. als Objekt von ist sonst nicht belegt. Das zu erwartende Objekt wäre . Das spricht für seine Erklärung als Apposition. Der Relativsatz ist dann nicht notwendig und beschreibend. Das Objekt von ist zu ergänzen. Nimmt man dagegen den Relativsatz als notwendig und unterscheidend, dann hat Gott nicht einfach den Dekalog ausgesprochen, sondern hat kundgetan, worauf der von ihm auferlegte Schwur verpflichten solle: auf die Beobachtung des Dekalogs. In diesem Zusammenhang wird mir auch die von mir und anderen bisher vertretene Auffassung fraglich, sei im Deuteronomium eine technische Bezeichnung für den Dekalog als Text. Denn Dtn 4,13 wäre der einzige Beleg dafür. Die Tafeln und die Lade müssen nicht notwendig nach dem auf den Tafeln geschriebenen Text genannt sein. Sie können ihren Namen auch von dem Geschehen her haben ( ), dem sie als Konstitutiva zugehören.“14
ist keineswegs nur „nota relationis“. Die Partikel kann auch einen explizierenden Satz einleiten, der zum vorausgehenden Wort oder Satz eine Apposition im weiteren Sinn bildet. Man gibt dann am besten durch „nämlich“, „das heißt“ oder einfach durch einen Doppelpunkt wieder.15 Eine solch appositionell-explikative Funktion erfüllt auch in V.13. Der von der Partikel eingeleitete Text entfaltet und erläutert, worin der von Gott verkündete „Bund“ besteht: zunächst einmal darin, dass Gott Israel gebietet, die Zehn Worte zu halten. Der mit wayyiqtol angeschlossene weitere Satz setzt die mit eingeleitete Explikation damit fort, dass...