Einleitung
Bei einer kleinen Premierenfeier nach dem Ballett Skizzen zur Matthäuspassion fragte eine junge Sängerin aus meinem Chor den Choreographen John Neumeier, warum er dem Tänzer des Judas im Lauf des Stückes auch die Rolle des später auftretenden Pilatus übertragen habe. Er soll – wohl ein wenig unwillig – geantwortet haben: »Der stand gerade so herum.«
Mag sein, daß Bach auf die Frage, warum er seine Matthäuspassion mit dem völlig ungewöhnlichen Apparat von zwei Orchestern, zwei Chören und jeweils vier Solisten aus diesen beiden Ensembles ausgestattet hat, auch geantwortet hätte: »Die standen gerade so herum.« Immerhin hatte Bach nur am Karfreitagnachmittag, an dem die Matthäuspassion aufgeführt wurde, alle seine Musiker an einem Ort zur Verfügung, die er sonst zur Gottesdienstzeit auf vier verschiedene Leipziger Kirchen aufteilen mußte.
Ich weiß nicht, ob unsere junge Sängerin später über die Antwort Neumeiers stutzig geworden ist, als sie im vollständigen Matthäuspassions-Ballett erleben mußte, daß Jesus selbst, nachdem er mit einer Auferstehungsgebärde vom Kreuz herabgestiegen ist, sich in die Schar der anderen Tänzer einreiht.
Nun, Bach hat’s nicht anders gehalten. Denn der autographe Stimmenbefund belegt völlig eindeutig, daß der Sänger des Jesus bei ihm auch andere Stücke gesungen hat, darunter zwei Arien, eine gleichsam nach seinem eigenen Tod, und beide mit Texten, die man Jesus kaum in den Mund legen kann.
Diese Tatsache gehört zu den Dingen, die ich längst wußte, aber lange Jahre nicht beachtete. Plötzlich brachte ich sie mit einem anderen Umstand in Verbindung (ich spreche in der vierten Szene des ersten Teils darüber), und nun ergab sich für mich eine völlig neue und aufregende Erfahrung.
Solche immer wieder neuen, oft überraschenden Erfahrungen haben sich im Lauf der Jahre, in denen ich die Matthäuspassion dirigiere, viele angesammelt. Dennoch scheue ich mich, sie zu formulieren, weil sie offenkundig noch nicht zu einem Ende gelangt sind. Jede neue Aufführung, jedes neue Studium läßt mich bisher Unbekanntes entdecken, alte Auffassungen korrigieren. Er»fahren« meint ja wohl, daß man etwas durch forschendes Reisen kennenlernt. Doch wann kann eine solche Fahrt, einer Pilgerschaft gleich, ans Ziel gelangen, da doch offenbar das Land der Erforschung unendlich weit ist? Jede neue Erfahrung, jede neue Erkenntnis, jede Antwort gebieren neue Fragen, neue Rätsel. Schließlich wird man bescheiden und beginnt, scheu vor zu schnellen, erklärenden Antworten, die Fragen zu lieben.
So fasse ich Mut zum Vorläufigen und danke allen, die mir bisher geholfen haben, Erfahrungen mit dem Werk zu sammeln. Sicher zuerst meinem Lehrer Karl Richter, dem Bach-Dirigenten voller Intuition und Spannung. Sein Ernst hat meine ersten, meine Kindheitseindrücke in der Leipziger Thomaskirche verstärkt, hier vor etwas ganz Besonderem zu stehen. Als er mir nach einem Vorspiel – ich war wohl nicht besonders gut an diesem Tag – einmal nur sagte: »Und so spielen Sie, obwohl Sie wissen, daß ich in dieser Woche die Matthäuspassion dirigiere!«, war dies für mich der schwerste Tadel während meines ganzen Studiums.
Dank vor allen anderen meinen Chorsängerinnen und Chorsängern, voran denen des Hamburger St.-Michaelis-Chors. Sie waren am unmittelbarsten und intensivsten an dieser Er»fahrung « beteiligt und haben geduldig manches Experimentieren ertragen. Dank allen Instrumentalisten meiner Aufführungen, voran dem einfühlsamen Konzertmeister und großartigen Geiger Thomas Brandis. Er beweist immer erneut, daß Musizieren nur gelingen kann im Hören auf andere; nie begleitet das Orchester etwa die Christus-Worte so sensibel, wie wenn er am ersten Pult sitzt. Dank allen Gesangssolisten, mit deren verschiedenen Stimmen und Auffassungen ich große Vielfalt der Interpretation kennenlernte; hier besonders Peter Schreier, dem prägenden Evangelisten unserer Aufführungen. Er ist gewiß derjenige, der die schwierige und schmale Gratwanderung zwischen Erzählung und Anteilnahme, zwischen Parlando und Espressivo am souveränsten beherrscht. In ganz besonderer Verbundenheit schließlich danke ich dem besessenen, nachdenklich-ernsten und tiefdeutenden Choreographen John Neumeier, mit dem ich das Werk ganz anders als je vorher neu studierte und erlebte: Oft kann ich heute (auch in diesem Buch) nicht anders, als Dinge, die mich in der Passion bewegen, mit seinen Bildern beschreiben.
Von ganzem Herzen Dank auch an diejenigen, die beim Entstehen dieses Buches geholfen haben. Voran dem Verleger Klaus Piper – ohne seine Ermunterung hätte ich mich nie ans Werk gemacht – und seinen Lektoren Klaus Stadler und Uwe Steffen – sie haben mit großem Sachverstand und Engagement das Entstehen des Buches begleitet. Schließlich Dank an Hans Joachim Marx, Hans Christoph Worbs, Bernhard Stockmann, Gerhard Schuler, Eva-Maria Spiller und Hannelore Krömer (allesamt Hamburg) für Auskünfte und das Beschaffen beziehungsweise Verifizieren von Zitaten; meinem Sohn Stefan Jena für die gleichen Hilfen und für das Lesen von Korrekturen.
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Häufig sagen mir Hörer nach einem Konzert: »Ich verstehe nichts von Musik, aber ich liebe sie.« Ich antworte dann gern: »Was ist Ihnen in Ihrem Leben wichtiger, daß Sie jemanden lieben oder daß Sie ihn verstehen?« Ich denke, das erste, aber auch das Wichtigste einem Kunstwerk wie einem Menschen gegenüber ist, daß man berührt, daß man fasziniert ist, daß ein Funke überspringt – wie beim Verlieben: unerklärlich zuerst, ja fremd oft und erschreckend. Vor allem Begreifen steht das Ergriffensein.
»Mit nichts kann man ein Kunst-Werk so wenig berühren als mit kritischen Worten: es kommt dabei immer auf mehr oder minder glückliche Mißverständnisse heraus. Die Dinge sind alle nicht so faßbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat, und unsagbarer als alles sind die Kunst-Werke, geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht, dauert«, ... und »Kunst- Werke sind von einer unendlichen Einsamkeit und mit nichts so wenig erreichbar als mit Kritik. Nur Liebe kann sie erfassen und halten und kann gerecht sein gegen sie«, schreibt Rainer Maria Rilke in seinen wunderbaren Briefen an den jungen Herrn Kappus1.
Aber jedem Liebenden wohnt der Wunsch inne, den Geliebten, Gegenstand oder Mensch, kennenzulernen, jede Faser von ihm zu erforschen und – »wes das Herz voll ist, des geht der Mund über« – über ihn zu sprechen, auch wenn es nicht mehr als ein Stammeln sein kann. Der Verliebte brennt in dem Wunsch, andere an seinem Glück teilnehmen zu lassen, anderer Begeisterung an den Wundern zu erwecken oder zu bestätigen, die er selbst erfahren hat. Von »Sezieren« und »Geheimnisse entreißen « sprachen Autoren noch zu Anfang des Jahrhunderts, im Taumel wohl der ersten Ahnungen von Bachs tiefgründiger Größe. Von solchem Mut, solchem Hochmut sind wir weit entfernt. Liebende wissen, daß man Leben nicht sezieren kann, ohne es zu töten. So reizt gerade das Unerforschte, Unerwartete, immer wieder Neue und Lebendige des Kunstwerks, seine »geheimnisvolle Existenz«, die man nicht »greifen«, nicht »begreifen«, letztlich nicht analysieren kann, in die man aber gern eindringen möchte. Solcher Umgang führt nicht zu arroganter, falscher Selbstsicherheit, sondern dazu, daß man sich immer noch mehr wundert.
In Proben versuche ich, meinem Chor Musik so nahezubringen, wie ich sie erlebt und erfahren habe. Dabei müssen, weil doch die meisten Dinge eigentlich »unsagbar« sind, bisweilen Fabeln oder persönliche Erlebnisse zur Verdeutlichung helfen. Man kann Musik beschreiben, oder man kann Musik in fremde Bilder, andere Chiffren übertragen. Beides geschieht in diesem Buch. Die Beschreibung birgt die Gefahr jeder Abstrahierung: Sie entläßt uns schnell aus unseren eigenen verwirrten Gefühlen und unserer Anteilnahme. Außermusikalische Bilder beschwören das Mißverständnis herauf, Bach habe dies oder jenes so »gemeint«. Wenn ich Bilder – etwa die Farben zur Charakterisierung der Tonarten oder Gebärden zur Beschreibung von Motiven – in meinem Buch zu Hilfe nehme, so sollen sie natürlich gleichnishaft verstanden werden. Den Sinn der Musik selbst nennen, ihre Bedeutung begreifen – als könne man herausgehen aus der Welt der Bilder und Bedeutungen und das Endgültige sagen –, das können wir wohl nicht. Das Geheimnis bleibt geheimnisvoll, das Rätsel bleibt rätselhaft. Aber wenn man sich zwingt, bisweilen genau hinzusehen, nur um zu erzählen, was geschieht, so ist man dem Wunder schon nähergekommen. Und wenn man Bilder wie in einer Art Transsubstantiation in andere Bilder verwandelt, in Gleichnisse anderer Sinnessphären versetzt, so kann es geschehen, daß sich Türen öffnen und immer neue Wunder offenbar werden.
Es ist nicht mein wichtigstes Anliegen, den Hörer zu belehren – unser...