VI.Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Klagelieder
Kein anderes Ereignis in der Geschichte Judas ist so einschneidend wie der Verlust der Eigenstaatlichkeit, der mit dem Datum 587/86 v. Chr. verbunden wird und der in der Tempelzerstörung gipfelt und im Babylonischen Exil mündet. Nebukadnezzar (Nabû-kudurriuṣur „Nabu schütze meinen Erbsohn“), der in der biblischen und nachbiblischen Rezeption zur wahnsinnigen wie grausamen Figur geronnene babylonische Herrscher von 605–562 v. Chr., belagert die Stadt Jerusalem und erobert sie in seinem 19. Regierungsjahr durch den ranghöchsten Militär Nebusaradan am 7. oder 10. im Monat Av. Er lässt die Stadt plündern und nach einem Monat Schwebezustand den Tempel zerstören.
1.Juda im Kräftespiel der Mächte
Doch hängt dieses Ereignis nicht so sehr an dem einen Datum 587/86 v. Chr., sondern hat einen längeren Vorlauf und eine noch längere Nachgeschichte. Die Vorgeschichte reicht weiter zurück und zeigt ein mehrfaches komplexes außenpolitisches Versagen der politischen Führung Jerusalems. Die Bibel stellt die Geschichte überwiegend aus judäischer Perspektive dar. Demzufolge war Juda ein Staat, in dem die glorreiche Dynastie von David und Salomo fortgeführt wurde. Die dynastischen Herrscher waren dabei eigenständig und souverän in ihren Entscheidungen. Die tatsächliche Lage war wahrscheinlich eine ganz andere. Politisch eigenständig war der Staat Juda in der Königszeit überhaupt nur sehr bedingt. Seine Entstehung als funktionierender Staat verdankt Juda den Omriden (882–845 v. Chr.) und den Nimschiden (845–747 v. Chr.), die in Samaria herrschten und Jerusalem als Filialkönigtum unter ihre Herrschaft brachten. Erstmals politisch abhängig von einer überregionalen Hegemonialmacht wurde Juda im ausgehenden 9. Jh. im Kontext der Bestrebungen des Aramäers Hasaël, die südliche Levante unter seine politische Kontrolle zu bringen. Bis zum Untergang des Staates war Juda erst von Israel, dann von Aram-Damaskus und schließlich ab der Mitte des 8. Jhs. v. Chr. von Neuassyrern und zwischendrin immer wieder auch von den Ägyptern abhängig. Dabei gab es Phasen größerer und geringerer politischer Autonomie, aber ganz hat sich Juda eigentlich nie aus den Vasallitäts- und Abhängigkeitsverhältnissen befreien können. Juda war eine Mittelmacht zwischen den Großmächten, die immer wieder zum Spielball der machtpolitischen Großinteressen wurde. Nicht Bodenschätze oder ökonomische Ressourcen machten Juda dabei in erster Linie interessant, sondern die strategische Bedeutung, einer der Pufferstaaten auf der syro-palästinischen Landbrücke zwischen den Mächten am Nil und am Eufrat bzw. Tigris zu sein. Doch diese zwischen die Großmächte eingeklemmte Existenz hatte nicht nur Nachteile, die das Land unter dem jeweils eingeforderten Tribut ökonomisch völlig ausgetrocknet hätte. Es gab immer wieder Phasen der Prosperität, in der es unter der jeweiligen Schutzmacht gelang, die zentrale Stadt Jerusalem zusammen mit ihrem Hinterland zu entwickeln. Besonders bemerkenswert war der Ausbau des judäischen Staates im 8. Jh. v. Chr. als der Druck auf den Nordstaat eine Loslösung ermöglichte. Juda konnte nach Westen und Süden expandieren und erstmalig zu einem Flächenstaat heranwachsen. Meist waren solche Phasen der Prosperität mit Verschiebungen in der Machtbalance im Großraum verbunden. Sie führten häufiger zur Selbstüberschätzung, wobei das Streben nach politischer Autonomie in der Regel von den Großmächten schnell wieder eingegrenzt wurde. In Jerusalem im 8./7. Jh. v. Chr. wurde politisch heftig und mit sehr gegensätzlichen Positionen diskutiert, wie viel Eigenständigkeit man sich politisch erlauben konnte bzw. sollte, wovon etwa Jesaja, Jeremia oder Micha eindrücklich Zeugnis geben. Soll man Bündnisse eingehen, bevor man dazu gezwungen wird? So fordert etwa Jeremia, um nur ein Beispiel zu nennen, in Absetzung von anderen Propheten in dem ersten Jahrzehnt des 6. Jhs. v. Chr., sich Babel zu unterwerfen, was in späterer Überformung so klingt:
So sprach der HERR zu mir: … Ihr aber, hört nicht auf eure Propheten, Wahrsager, Träumer, Zeichendeuter und Zauberer, wenn sie zu euch sagen: Ihr werdet dem König von Babel nicht untertan sein! Denn Lüge prophezeien sie euch, damit sie euch vertreiben von eurem Ackerboden und ich euch verstoße und ihr zugrunde geht. Das Volk aber, das seinen Nacken unter das Joch des Königs von Babel beugt und ihm dient, lasse ich auf seinem Ackerboden – Spruch des HERRN –; es kann ihn bebauen und auf ihm wohnen. Auch zu Zidkija, dem König von Juda, redete ich allen diesen Worten gemäß: Beugt euren Nacken unter das Joch des Königs von Babel und dient ihm und seinem Volk; dann werdet ihr leben! Warum sollt ihr, du und dein Volk, durch Schwert, Hunger und Pest umkommen, wie der HERR dem Volk, das dem König von Babel nicht dienen will, angedroht hat? Hört nicht auf die Reden der Propheten, die zu euch sagen: Ihr sollt dem König von Babel nicht dienen! Denn sie prophezeien euch Lüge. (Jer 27,9–14)
Insbesondere in Phasen, wo die Hegemonialmacht aufgrund von Thronwechseln, Katastrophen oder eigenen wirtschaftlichen Problemen ein wenig schwächelte, brach die Diskussion im Kreis der politischen Berater und Entscheidungsträger auf: Soll man die Loyalität zu Assur, Babylon oder Ägypten aufgeben und zu dem gerade erstarkenden Gegner wechseln? Das ist die Melodie, die im letzten Jahrhundert vor dem Fall immer wieder erklingt. Große Veränderungen hatte der Untergang des Reiches Israel im Zuge der Westexpansion der Assyrer 722 v. Chr. gebracht. Samaria war erobert, die politische Eigenständigkeit des Staates Israel beendet und der unmittelbare Nachbar zur assyrischen Provinz Samerina umgewandelt. Von Jerusalem war politisches Geschick gefordert, wenn es dem Druck der Neuassyrer weiter standhalten sollte. Zunächst profitiert das Land wirtschaftlich wie politisch vom Untergang Samarias und erlebt eine Blütezeit des staatlichen Ausbaus. Jerusalem wird nach Westen erweitert und sukzessive stark befestigt. Es ist die größte und bevölkerungsreichste Stadt des Staates, doch auch andere Orte werden ausgebaut: Ramat Raḥel, Bet-Schemesch, Geser, Timna, Tell Bet Mirsim, Hebron, Aseka, Lachisch, Tell es-Seba‛, Arad.
2.Lokal – National – International – Zur Rolle YHWHs als Stadtgott in der Gottesstadt
Die Zentralstellung Jerusalems beginnt auch religionspolitische Spuren zu ziehen. Der Gott YHWH, vielleicht ursprünglich nicht einmal im Süden beheimatet, sondern von den Omriden mit nach Jerusalem gebracht, nimmt an Bedeutung enorm zu und wächst vom Dynastie- und Stadtgott zum Nationalgott des jungen Staates heran. Eine Inschrift aus Khirbet Bet Lay aus dem 8./7. Jh. v. Chr. lautet „YHWH ist der Gott des ganzen Landes, die Berge Judas gehören dem Gott Jerusalems.“ In einer ganz bemerkenswerten Entwicklung geht der Einfluss von Lokalheiligtümern zurück. Die lokalen Heiligtümer in Arad, Beerscheba, Lachisch oder Tel Moza werden stillgelegt und nicht weiter betrieben – warum ist immer noch nicht ganz klar. In der biblischen Sicht handelt es sich um Kultreformen der Könige Hiskija (2 Kön 18,4) und Joschija (2 Kön 23,8–15). Gleichzeitig nimmt die Bedeutung des Jerusalemer Tempels zu. Die Palastkapelle, die das Heiligtum als Stadttempel seit seiner Errichtung gewesen ist, beginnt sich aus dem Kontext von Palast- und Königskult zu lösen. Der Stadtgott wird zum Nationalgott und die Stadt zur Gottesstadt. Die Tendenz der Universalisierung wird durch die Verbindung des Stadtgottes mit solaren Motiven verstärkt. Die kleine Welt in Juda hat sich entscheidend gewandelt und Jerusalem steht in ihrem Zentrum.
Die religiösen Entwicklungen sind nicht von den politischen und ökonomischen zu trennen. Erstmalig in der Geschichte zeigt Juda erkennbar das Gesicht eines verwalteten Staates, der auch ökonomisch auf stabilen Füßen steht. Juda profitiert von dem unter den Assyrern stark ausgebauten Fernhandel mit Nordarabien, der nicht nur den Negeb zu einer prosperierenden Wirtschafts- und Handelszone macht. Als Ägypten in eine Stärkephase und Assur in eine Schwächephase eintritt, die durch den Thronwechsel von Sargon II. (722–705 v. Chr.) zu Sanherib (705–681 v. Chr.) noch verstärkt wird, verschieben sich die Gewichte. Hiskija von Juda (725–697 v. Chr.), zunächst treuer Vasall der assyrischen Großkönige, sieht darin seine Chance. Er sucht regionale Verbündete und kündigt die unter seinem Vater Ahas errichtete Vasallität auf und fällt von Assur ab (2 Kön 18,7). Die vermeintliche Stärke erweist sich zunächst als Fehleinschätzung. Zwar lässt sich Sanherib zunächst Zeit, greift dann aber Juda auf seinem dritten Feldzug 701 v. Chr. in einer Strafexpedition an. Von der...